MESOP MIDEAST WATCH: Zwangsräumung in Jerusalemer Viertel Sheikh Jarrah eskaliert

In dem Stadtteil im besetzten Ostjerusalem hat die Stadtverwaltung das Anwesen einer palästinensischen Familie konfisziert. Diese wehrt sich mit dramatischen Mitteln. Der Konflikt um das Haus geht weit über das Viertel hinaus.

Inga Rogg, Jerusalem18.01.2022 NZZ Der Familienvater droht, sich und das Haus anzuzünden, sollten die Sicherheitskräfte die Zwangsräumung durchsetzen.

Oberflächlich betrachtet scheint der israelisch-palästinensische Konflikt eingedämmt. Kriegerische Zusammenstösse wie während des letzten Gaza-Konflikts im vergangenen Mai sind selten. Doch die Ruhe trügt. Das zeigte sich einmal mehr am Montag. Mit einem Grossaufgebot rückten israelische Polizisten und schwer bewaffnete Mitglieder einer Anti-Terror-Einheit im Ostjerusalemer Stadtteil Sheikh Jarrah an, um die Zwangsräumung bei einer palästinensischen Familie durchzusetzen.Als die Polizisten damit begannen, Blumentöpfe aus der Gärtnerei der Familie Salahiya in einen Lastwagen zu laden, drohte die Situation zu eskalieren. Die Grossmutter und die Mutter der zwölfköpfigen Familie verschanzten sich im Haus. Derweil kletterte der Vater zusammen mit mehreren Jugendlichen mit einem Benzinkanister und einer Gasflasche auf das Dach und drohte, sich und das Haus anzuzünden.

Der lange Schatten der Geschichte

Diplomaten der Europäischen Union und weiterer Länder eilten an den Ort, um Schlimmeres zu verhindern. Es müsse unbedingt eine friedliche Lösung gefunden werden, erklärten die Diplomaten. Zwangsräumungen und Hauszerstörungen in besetzten Gebieten seien nach internationalem Recht illegal und würden sowohl die Aussichten auf einen Frieden unterminieren als auch die Spannungen verschärfen.

Die betroffene Familie Salahiya hatte nach eigenen Angaben während des israelischen Unabhängigkeitskriegs 1948 ihren Besitz in Ein Kerem, einem Stadtteil in Westjerusalem, verloren. In den fünfziger Jahren, als Ostjerusalem von Jordanien besetzt war, erwarb sie demnach den Grund, auf dem sich heute ihr Anwesen befindet. Nach dem Sechstagekrieg 1967 besetzte Israel dann auch den Ostteil der Stadt und erklärte später ganz Jerusalem zur ungeteilten Hauptstadt des Landes.

Seitdem haben die Regierungen mit zahlreichen Baumassnahmen dafür gesorgt, dass dieser Anspruch zementiert wird. Im besetzten Ostteil der Stadt leben heute mehr als 200 000 Israeli, die nach internationalem Recht als Siedler gelten. Derweil kämpfen Palästinenser, die keine israelischen Staatsbürger sind, sondern in Ostjerusalem nur ein Bleiberecht besitzen, in juristischen Kleinkriegen dagegen, ihre Häuser oder Wohnungen zu verlieren. Die Prozesse ziehen sich oft über Jahre hin.

Konfliktpotenzial mit Sprengkraft

Im vergangenen Jahr trug die drohende Zwangsräumung bei mehreren Familien in Sheikh Jarrah zum Ausbruch des elftägigen Kriegs zwischen der islamistischen Hamas-Bewegung im Gazastreifen und Israel bei. Sie heizte zugleich den innerisraelischen Konflikt zwischen palästinensischen und jüdischen Israeli an, der wie ein Lauffeuer zahlreiche gemischte Städte in Zentral- und Nordisrael erfasste.

In Sheikh Jarrah sind es mal radikale Siedler, die den Grund der Palästinenser beanspruchen, ein andermal die Regierung. Derzeit droht Dutzenden von Familien wie den Salahiyas in verschiedenen Ostjerusalemer Stadtteilen die Räumung. Im Fall der Familie Salahiya hatte die Jerusalemer Stadtverwaltung vor mehr als zehn Jahren den Grund konfisziert, um darauf eine Schule zu bauen.

Die Stadtregierung habe ihnen finanzielle Entschädigung angeboten, sagte ein Verwandter. Doch lasse sie sich ihr Recht nicht abkaufen. «Wir haben schon einmal alles verloren», sagte der Familienvater Mahmud Salahiya mit Blick auf ihre Vertreibung 1948 aus Westjerusalem. «Noch einmal lassen wir uns nicht vertreiben.» Im vergangenen Jahr verlor die Familie den Rechtsstreit. Vor fünf Tagen legte ihr Anwalt eine dringliche Beschwerde ein, die Entscheidung soll in einer Woche fallen.

Die Familie habe «zahllose Gelegenheiten» verstreichen lassen, das Anwesen zu räumen, sich jedoch trotz wiederholter Terminverlängerung geweigert, erklärten die Stadtverwaltung und die Polizei. Während am Montagnachmittag Polizisten noch mit der Familie verhandelten, rückten Bulldozer und Bagger an und begannen damit, die Gärtnerei samt den hohen Bäumen einzuebnen. Hinter dem Haus steckten Jugendliche derweil ausrangierte Möbel in Brand.

Bruch des humanitären Völkerrechts

Israelische Menschenrechtsorganisationen kritisieren, dass es für den geplanten Schulbau in dem Viertel genügend freie Flächen gäbe. Der Stadtverwaltung scheine es weniger um den Schulbau als um die Enteignung einer palästinensischen Familie zu gehen. Kritik kam auch von der Uno. Israel müsse die Zwangsräumung in Übereinstimmung mit seinen Verpflichtungen gemäss dem humanitären Völkerrecht einstellen, twitterte Lynn Hastings, die Leiterin des Uno-Hilfsprogramms in den palästinensischen Gebieten.

Nach Uno-Angaben sind in den letzten zwei Jahren in Ostjerusalem mehr als 700 Palästinenser infolge von Hauszerstörungen vertrieben worden. Die israelische Regierung weist die Vorwürfe zurück und macht geltend, sie setze lediglich das Recht durch.