MESOP MIDEAST WATCH – WELTWEIT ERSTES URTEIL: Lebenslange Haft in Koblenzer Prozess um Staatsfolter in Syrien

FAZ 13.01.2022

Verbrechen gegen die Menschlichkeit und 27-facher Mord: Im weltweit ersten Prozess um Staatsfolter in Syrien hat das Koblenzer Oberlandesgericht den Angeklagten verurteilt. Menschenrechtler würdigen das Urteil als bahnbrechend.

Im weltweit ersten Prozess um Staatsfolter in Syrien hat das Koblenzer Oberlandesgericht (OLG) den Angeklagten am Donnerstag zu lebenslanger Haft verurteilt (AZ 1 StE 9/19). Die Richter sprachen den 58 Jahren Anwar Raslan wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit, 27-fachen Mordes, Folter und weiterer Delikte schuldig. Der Beschuldigte war laut Anklage Mitarbeiter des Geheimdiensts des syrischen Machthabers Baschar al-Assad und soll ein Gefängnis geleitet haben.

In der Al-Khatib-Haftanstalt in der syrischen Hauptstadt Damaskus sollen unter der Befehlsgewalt des Angeklagten zwischen April 2011 und September 2012 mindestens 4000 Häftlinge mit Schlägen, Tritten und Elektroschocks gefoltert worden sein. Viele starben dabei. Das Urteil entsprach weitgehend der Forderung der Bundesanwaltschaft, die in dem weltweit mit Aufmerksamkeit verfolgten Prozess die Anklage vertreten hatte. Die Verteidigung hatte Freispruch gefordert.

Nach Überzeugung der Bundesanwaltschaft hat Raslan als militärischer Befehlshaber die Vernehmungsbeamten und Gefängniswärter zum Dienst in dem berüchtigten Gefängnis eingeteilt und ihre Arbeitsabläufe bestimmt. Er habe auch über das Ausmaß der Folterungen Bescheid gewusst. Die Misshandlungen hätten dazu gedient, Geständnisse zu erzwingen und Informationen zu erlangen.

Verfahren nach dem Weltrechtsprinzip

Der Prozess fußte auf dem Weltrechtsprinzip, das es ermöglicht, schwere Menschenrechtsverbrechen unabhängig davon zu ahnden, wer sie begangen hat, wo sie begangen wurden und gegen wen sie gerichtet sind. Das Urteil würdigten Menschenrechtler als bahnbrechend. „Das ist wirklich historisch”, sagte der Geschäftsführer der Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch am Donnerstag in Genf. Der Generalsekretär von Amnesty International in Deutschland, Markus N. Beeko, erklärte in Berlin, das Urteil sei ein „historisches Signal im weltweiten Kampf gegen die Straflosigkeit“. Weitere Prozesse in Deutschland und anderen Staaten müssten nun folgen.

In der syrischen Exil-Community, die in Deutschland seit 2015 enorm gewachsen ist, wurde der Prozess mit großer Aufmerksamkeit verfolgt. Auch hier war immer wieder von einem „Signal“ an die Verantwortlichen in Syrien die Rede. Viele Nebenkläger in dem Prozess sehen das ebenso. Der Prozess sei ein Schritt auf dem Weg zum Frieden, sagt eine Nebenklägerin Ende vergangenen Jahres. „Mein Glaube an Gerechtigkeit wird wiederhergestellt“, eine andere. Entscheidend sei die Botschaft, dass die Verbrecher früher oder später zur Rechenschaft gezogen würden, sagte ein weiterer Nebenkläger.

Rund zwei Dutzend Nebenkläger sowie viele Zeugen traten in Koblenz auf. Viele von ihnen waren im Al-Khatib-Gefängnis inhaftiert, manche mehrmals. Darunter Frauen, von denen viele Opfer sexueller Gewalt wurden. Manche verbrachten nur wenige Tage in der Haftanstalt und sind doch schwer gezeichnet, leiden heute noch unter Schmerzen und Angststörungen, können nicht ohne Medikamente schlafen, sind nicht arbeitsfähig. Vielen fällt es erkennbar schwer, über die Zeit zu sprechen.

Aussagen trotz Furcht vor Regime

In der Urteilsbegründung am Donnerstag zollte der Vorsitzende Richter den überlebenden Opfern, von denen knapp 80 in dem Verfahren als Zeugen ausgesagt hatten, Anerkennung. Sie hätten teilweise trotz großer Furcht vor dem syrischen Regime ausgesagt. Sie hätten dies getan, obwohl sie um sich selbst oder ihre Familien gesorgt hätten. „Dafür gilt ihnen mein ganzer Respekt.“

„Wer die Folter erträgt, kann nicht mehr heimisch werden in der Welt“, zitierte der Generalbundesanwalt in seinem Plädoyer Jean Améry, den österreichischen Widerstandskämpfer und Schriftsteller, der von den Nazis gefoltert worden war. Es sei zu hoffen, dass durch den Prozess wenigstens einige der Opfer wieder heimischer geworden seien, sagte der Staatsanwalt. Die zivilisierte Weltgemeinschaft müsse unter Beweis stellen, dass sie nicht bereit sei, derlei Taten ungeahndet hinzunehmen. Gerade in Deutschland sei man schuldig, Opfern von Völkerrechtsverbrechen zu helfen.

In dem seit April 2020 laufenden Prozess war auch ein zweiter Mann angeklagt, der als Untergebener an den Folterungen beteiligt war. Ihn hatte das Gericht bereits vor fast einem Jahr im Februar 2021 in einem abgetrennten Verfahren wegen Beihilfe zu Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu viereinhalb Jahren Haft verurteilt. Das Urteil ist noch nicht rechtskräftig.