MESOP MIDEAST WATCH : VOM ENDE DER PKK/PYD-GEBIETE IN SYRIEN

Syriens Autonomiegebiet  – Kurden fühlen sich im Stich gelassen – Von Kristin Helberg · 30.11.2021 DEUTSCHLANDFUNK KULTUR

Als es darum ging, den IS zu bekämpfen, wurden die Kurden im Nordosten Syriens von der EU und den USA auf Händen getragen. Für den Aufbau einer autonomen Verwaltung hingegen gibt es kaum internationale Unterstützung. Und das hat schlimme Konsequenzen.

Das Problem liegt in der Luft: Wer nach Nordostsyrien reist, bekommt Atembeschwerden. Die massive Luftverschmutzung ist untrennbar verbunden mit dem Reichtum der Region: Im Nordosten liegt der größte Teil des syrischen Erdöls, und das ist gleichzeitig die einzige Einnahmequelle der Autonomen Verwaltung Nordostsyrien.

Schwarze Rauchwolken ziehen über das Dorf

„Das Rohöl wird auf primitive Weise weiterverarbeitet, denn vor Ort gibt es keine modernen Raffinerien“, berichtet die Autorin und Politikwissenschaftlerin Kristin Helberg, die die Region gerade bereist hat. „Dicke schwarze Rauchwolken ziehen über das Land, es entstehen Giftstoffe, die Luft und Boden verseuchen.“ Vor dem Krieg, als Präsident Bashar al-Assad über das ganze Land herrschte, war die Erdölförderung in staatlicher Hand. Das Rohöl wurde in zwei großen Raffinerien im Westen des Landes weiterverarbeitet.

Im Nordosten liegt der größte Teil des syrischen Erdöls.

Ab 2011 brach dieses Erdöl-System schrittweise zusammen. Das Regime zog sich aus dem kurdisch geprägten Nordosten zurück, um den Aufstand im Rest des Landes zu bekämpfen.

Unter gesundheitlichen Aspekten eine No-go-Area

Und ohne Raffinerien vor Ort begannen die Bewohner der Erdölgebiete, den Rohstoff selbst zu verarbeiten, erzählt Rechtsanwältin Roni Khalaf.

„Damals hat es an allem gefehlt. Es gab kaum Gas, wir mussten mit Flüssiggas kochen wie meine Großmutter. Wir hatten kein Diesel für die Öfen, so dass die Leute Bäume gefällt haben, um mit Holz zu heizen. Die Menschen waren gezwungen, selbst nach Lösungen zu suchen. Wer Geld hatte, baute eine Raffinerie und verkaufte Benzin und Diesel direkt an die Leute. Aber der Gestank und die Schäden für die Bevölkerung haben niemanden interessiert.“

Heute ist das Dorf Grebre, in dem Roni Khalaf mit ihrer Familie lebt, unter gesundheitlichen Aspekten eine No-go-Area. Ältere Dorfbewohner litten unter Sauerstoffmangel und erkrankten zunehmend an Krebs, sagt die Anwältin.

„Als ich heiratete und hierherkam, habe ich sofort Allergien bekommen von dem Gestank und Rauch. Heute habe ich Schmerzen in meiner Brust, denn gestern hat der Gestank nicht einen Moment aufgehört, nicht eine Sekunde. Mein Sohn hat seit seiner Geburt so ein Rasselgeräusch beim Atmen. Jedes Mal, wenn wir zum Arzt gingen, sagte der: „Lasst niemanden in seiner Nähe rauchen.“ Irgendwann erzählte ich ihm, dass wir in Grebre wohnen. Da sagte der Arzt: „Nein! Dein Sohn darf auf keinen Fall diese Abgase der Öfen einatmen. Ihr könnt dort nicht bleiben, ihr müsst sofort umziehen.“

Einzige Einnahmequelle ist das Erdöl

Das Erdöl ist die einzige Einnahmequelle der Autonomen Verwaltung Nordostsyrien. Sie kontrolliert ein Drittel des syrischen Staatsgebietes, wird aber international nicht anerkannt, geschweige denn bei der Modernisierung der Erdölförderung unterstützt.

Der Nachbar Türkei wirft ihr Nähe zur PKK vor, die als Terrororganisation gelistet ist – auch in Europa und den USA. Gleichzeitig sind ihre militärischen Einheiten, die Syrischen Demokratischen Kräfte, enge Verbündete im Kampf gegen den IS, den sogenannten Islamischen Staat.

 

Raffinerie im Nordosten: Die Europäer zögern, bei der Modernisierung der Erdölförderung zu helfen, aus Rücksicht auf die Türkei.© Deutschlandradio / Kristin Helberg

Eine Gratwanderung – besonders für die Europäer. Sie möchten den Nordosten gerne stabilisieren, zögern aber aus Rücksicht auf die Türkei, die Autonome Verwaltung direkt zu unterstützen. Auch nicht bei der Modernisierung der Raffinerien.

Als Kämpfer gegen den IS waren die Kurden willkommen

Abdelkarim Omar ist zuständig für äußere Angelegenheiten – eine Art Außenminister der Verwaltung. Fast jede Woche empfängt er Delegationen aus dem Ausland. Dabei gehe es immer um den IS und viel zu selten um Investitionen in die Infrastruktur und Erdölverarbeitung, sagt Omar.

„Von ungefähr 1300 Quellen sind nur etwa 250 in Betrieb. Und wir haben hier keine Raffinerien, sondern nur primitive Öfen. Mit denen gewinnen wir Diesel und Benzin, deren Qualität ehrlich gesagt sehr schlecht ist. Das schadet den Autos und der Umwelt. Aber wir haben keine Wahl, denn das Erdöl ist das einzige Einkommen der Verwaltung“, sagt er.

„Davon leben etwa fünf Millionen Einwohner zusätzlich zu einer Million Vertriebenen aus anderen Regionen, die in 17 Camps untergebracht sind. Eigentlich hatte die Internationale Anti-IS-Koalition versprochen, uns gute Raffinerien zu besorgen. Wenn die kommen, hört die Verschmutzung auf. Aber bis dahin haben wir keine Wahl, was sollen wir machen?“

Immer noch Zehntausende IS-Kämpfer vor Ort

Solange die Kurden für die Bekämpfung des IS gebraucht wurden, hofierte man sie. Jetzt haben sie offenbar ihre Schuldigkeit getan. „Sie fühlen sich im Stich gelassen“, sagt Kristin Helberg und verweist auf die Camps, in denen immer noch Zehntausende IS-Kämpfer bzw. deren Familien festsitzen und von der Autonomiebehörde bewacht und versorgt werden müssen.

„Die ist damit völlig überfordert. Sie bittet darum, dass die Herkunftsstaaten der IS-Familien, darunter auch Deutschland, ihre Staatsbürger zurücknehmen. Aber das geschieht nur zögerlich.“

Wer seine Landsleute nicht zurückholen will, sollte zumindest Geld für ihre Versorgung und Unterbringung zahlen, fordert die Autonome Verwaltung. „Zu Recht“, meint Helberg. Schließlich sei der IS als Terrororganisation kein lokales, sondern ein globales Problem.

Internationale Anerkennung ist überlebenswichtig

Die teilweise positiven Ansätze der Autonomieverwaltung würden international kaum wahrgenommen, geschweige denn honoriert, glaubt Helberg. So zum Beispiel die Investition in Bildung. Es gibt Schulen, die Unterricht auf Kurdisch anbieten und Arabisch als erste Fremdsprache vermitteln.

Die Unterrichtsbedingungen sind vergleichsweise gut, aber dennoch schicken viele Familien ihre Kinder lieber in die Schulen des Assad-Regimes, die parallel existieren und völlig überfüllt sind. Der Grund ist die fehlende Anerkennung der Autonomieverwaltung und somit auch die fehlende Anerkennung der Schulabschlüsse dort.

 

Die Schulen des Assad-Regimes sind überfüllt, weil nur hier die Abschlüsse anerkannt sind.© Deutschlandradio / Kristin Helberg

Wer im Nordosten zur Schule geht, kann nur dort studieren und eine Anstellung finden. Der Weg zu den Universitäten in den Regime-Gebieten – Damaskus, Homs, Aleppo – oder nach Europa ist den Absolventinnen und Absolventen der kurdischen Schulen verwehrt.

Das vorherrschende Gefühl in Nordostsyrien sei Ungewissheit, berichtet Kristin Helberg. Nicht zu wissen, wie es weitergeht, halte die Leute davon ab, sich hier eine Zukunft aufzubauen, sagt Rechtsanwältin Rhoni Khalaf:

„Die Lage überfordert die Menschen. Viele, die etwas Geld gespart haben und damit ihr Leben verbessern könnten, investieren nicht aus Angst, alles zu verlieren. Sie behalten ihr Geld lieber anstatt damit etwas aufzubauen, das beim nächsten Angriff zerstört wird. Deshalb horten sie ihre Ersparnisse unter der Matratze. Dann können sie bei Gefahr ihr Geld nehmen und flüchten. Das ist für die Leute die Hauptsache – sie sparen Geld, um damit im Notfall wegzukommen.“

Föderale Perspektive in ganz Syrien

Syrienexpertin Kristin Helberg betont, wie unsicher die Lage in Syrien insgesamt und besonders im Nordosten ist. „Die Türkei als Nachbar ist eine ständige Bedrohung, denn Präsident Erdogan würde das Gebiet am liebsten unter türkischer Kontrolle sehen“, sagt sie.

„Das Assad-Regime möchte den Nordosten so schnell wie möglich wieder in seinen Einflussbereich bringen, und die kurdische Autonomieregierung im Norden des Irak ist leider auch kein Verbündeter, sondern ein Rivale. Sie gehört einer anderen politischen Strömung an und ist von der Türkei abhängig.“ Die Autonome Verwaltung Nordostsyrien sei folglich umgeben von Akteuren, die sie zum Scheitern bringen wollten, so Helberg.

Eine Chance für die Region sieht Kristin Helberg dann, wenn sich die internationale Gemeinschaft zur wenigstens partiellen Unterstützung der Autonomieverwaltung durchringen sollte und wenn sich perspektivisch eine Form von Föderalismus in Syrien durchsetzt.