MESOP MIDEAST WATCH: Kriegsgefahr im Norden Syriens: Kurden sind der Stachel in Erdogans Fleisch

Hassakeh  – 13.6.2022- FAZ – In Nordsyrien droht ein neuer Krieg. Die Türkei treibt eine Invasion gegen kurdische Kräfte voran. Deren militärischer Führer hofft auf diplomatische Gegenwehr im Ausland. Eine Begegnung

General Mazloum Abdi hat kaum Platz genommen, da wird er schon wieder aus dem Raum gerufen. Er entschuldigt sich. „Es sind herausfordernde Zeiten. Ich bin in zehn Minuten zurück“, sagt er. Die „Syrian Democratic Forces“ (SDF), die Mazloum kommandiert und die weite Teile Nordostsyriens kontrollieren, bereiten sich auf einen neuen Krieg vor. Bis in die Nacht hat der General mit der SDF-Führung über die Lage beraten. Denn der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan hatte eine neue Offensive angekündigt, um, wie er sagte, eine „Sicherheitszone“ entlang der türkisch-syrischen Grenze einzurichten. Sie soll dreißig Kilometer in syrisches Territorium reichen – Erdogan will dort syrische Flüchtlinge aus seinem Land ansiedeln.

Die Präsenz der SDF ist seit Jahren ein Stachel im Fleisch des türkischen Staatschefs. Die Truppe wird von kurdischen „Volksverteidigungskräften“ (YPG) dominiert, die Abdullah Öcalan treu ergeben sind, dem Anführer der PKK, die seit Jahrzehnten einen Guerillakrieg gegen Ankara führt. Die kurdischen Freischärler waren von den Vereinigten Staaten mit Geld und Waffen versorgt worden, um den „Islamischen Staat“ (IS) am Boden zu bekämpfen. Sie haben sich im Krieg gegen die Dschihadisten unter großen Opfern bewiesen. Die SDF hatten einen maßgeblichen Anteil daran, dass das terroristische Pseudokalifat von der syrischen Landkarte getilgt wurde. Zugleich sicherten sich die syrischen Öcalan-Getreuen ihr eigenes Reich entlang der Grenze.

Mazloum wird hier in „Rojava“ als Held und Heilsbringer verehrt. Er ist „einer aus den Bergen“, wie die Leute aus der Region überzeugte PKK-Anhänger und Kader bezeichnen. Der SDF-Kommandeur selbst bestreitet die engen Verbindungen der YPG zur PKK. Aber da widerspricht ihm schon das Straßenbild. Öcalans Porträts sind allgegenwärtig. Sie gehören zur Standardausstattung der Amtsstuben, prangen riesengroß auf Getreidesilos oder auf Verkehrsinseln. PKK-Kader haben ein Schattenreich in der Autonomieverwaltung errichtet, deren überbordende Bürokratie auch deren Geist atmet. Mazloums Vater war ein enger Vertrauter Öcalans, der SDF-Kommandeur wird als „spiritueller Ziehsohn“ des PKK-Anführers beschrieben.

Mehr Ferienresort als Militärstützpunkt

Zu den SDF zählen auch Zehntausende nichtkurdische Kämpfer. Für Erdogan sind sie allesamt „Terroristen“. Regelmäßig schlagen türkische Artilleriegranaten im nordostsyrischen Grenzgebiet ein. Auch türkische Drohungen wie die jetzigen sind nichts Neues. Im vergangenen Herbst wurde schon über eine türkische Militäroperation spekuliert. Aber die Spannungen haben zugenommen. Zuletzt ist kein Tag ohne Meldungen über türkischen Beschuss vergangen. „Wir sehen eine klare Eskalation“, sagt Mazloum Abdi. „Auch was die Aktivitäten türkischer Drohnen betrifft.“ Der Geheimdienst, fügt er hinzu, habe Erkenntnisse über logistische Vorbereitungen.

Der SDF-Kommandeur muss jederzeit fürchten, selbst Ziel eines Angriffs zu werden. Erdogan hat einen Preis auf seinen Kopf ausgesetzt. Mazloums Leute geben daher den Ort des Treffens erst kurz zuvor preis. Es ist ein entlegenes Anwesen mit Swimmingpool, dessen Erscheinung eher an ein Ferienresort erinnert als an einen Militärstützpunkt – wären da nicht die vermummten Wachen und die Salven der Schießübungen, die die Stille durchbrechen.

„Die Türkei will immer angreifen“, sagt General Mazloum. Nur sei die internationale Lage „kompliziert“ für Ankara. Er empfängt regelmäßig amerikanische Diplomaten und Militärs. Washington hat sich klar gegen die Invasion ausgesprochen. Der amerikanische Außenminister Anthony Blinken sagte Anfang des Monats an die Adresse seines NATO-Verbündeten: „Die Sorge, die wir haben, ist, dass jede neue Offensive die regionale Stabilität untergraben und bösartigen Akteuren die Möglichkeit geben würde, die Instabilität auszunutzen.“

Es wäre nicht die erste destabilisierende Militäroperation, die das türkische Militär zusammen mit arabischen Milizen führt, um die kurdischen Kräfte im Nordosten Syriens zurückzudrängen. Zuletzt war das im Oktober 2019 der Fall, als Artillerie und Luftangriffe die „Operation Friedensquelle“ eröffneten. Heerscharen von Zivilisten wurden vertrieben, arabische Milizen verbreiteten Angst und Schrecken, mordeten und plünderten. Seinerzeit hatte Präsident Donald Trump der Invasion Tür und Tor geöffnet. Er fiel den kurdischen Verbündeten im Antiterrorkampf in den Rücken, indem er nach einem Telefonat mit Erdogan den Abzug des amerikanischen Militärs aus der Region anordnete, das dort im Kampf gegen den „Islamischen Staat“ stationiert worden war. Die Folgen des Waffengangs von 2019 sind noch heute zu sehen: die vielen Zeltlager der Binnenvertriebenen; die Fahrzeuge des russischen Militärs, das damals in das Vakuum stieß, das die Amerikaner hinterließen.

Russland spielt eine Schlüsselrolle

Es herrscht Sorge vor einem neuen türkischen Angriff, neuer Vertreibung, neuem Chaos. SDF-Kommandeur Mazloum Abdi glaubt, dass der türkische Präsident es dieses Mal sehr viel schwerer haben wird, seine militärischen Angriffspläne diplomatisch abzusichern. „Die jetzige Situation ist völlig anders. Fast die gesamte internationale Gemeinschaft hat sich klar gegen die Invasion ausgesprochen“, sagt er. Aber der General verlangt, dass der Westen mehr unternimmt, um einen neuen Waffengang abzuwenden. „Niemand hat der Türkei klargemacht, was die Konsequenzen eines neuen Angriffs wären, oder mit Sanktionen gedroht.“

Er sieht auch das Risiko, wieder Spielball der Geopolitik zu werden – gerade in Zeiten, in denen der Krieg in der Ukraine alle anderen Konflikte überlagert – und es an Erdogan hängt, ob Finnland und Schweden in die NATO aufgenommen werden können. „Natürlich versucht Erdogan hier sein Erpressungspotential auszuspielen“, sagt Mazloum Abdi. Er sieht auch Russland in einer Schlüsselrolle, hofft, dass Wladimir Putin auf Erdogan einwirkt.

Die SDF-Führung gibt sich dabei keinen Illusionen hin. „Russland verfolgt allein seine eigenen Interessen“, sagt ein ranghoher Offizier. Und diese Interessen bestehen im Nordosten Syriens vor allem darin, die Autonomieregierung in die Arme von Präsident Baschar al-Assad zu treiben und einen Deal zwischen beiden zu vermitteln. Zumindest militärisch führen die türkischen Drohungen beide Seiten wieder näher zusammen. Am Mittwoch teilten die SDF mit, sie würden sich mit den Streitkräften des Regimes koordinieren. Es ist eine Gratwanderung. Assad will sich ganz Syrien wieder einverleiben, auch die autonome Region im Nordosten.

Mazloum Abdi ist sich dessen bewusst. „Die Bevölkerung würde das nicht zulassen“, sagt er. Und er gibt, wie andere SDF-Offiziere, zu erkennen, dass er von der Schlagkraft Assads ausgezehrter Armee, die schon jetzt mehrere Stützpunkte in Grenzregionen unterhält, nicht sonderlich beeindruckt ist. Zumindest am Boden. „Die syrische Luftabwehr kann uns gegen die türkischen Drohnen helfen“, sagt der SDF-Kommandeur. Viel mehr als sich vor ihnen zu verbergen und sich im Geheimen zu bewegen, kann seine Truppe gerade nicht gegen die Bedrohung aus der Luft ausrichten.

Nicht nur Befreier, auch Besatzer?

Für Mazloum, wie für alle kurdischen SDF-Kader, ist die Türkei die Wurzel allen Übels. Sie bezeichnen die arabischen Milizionäre als „Söldner“, werfen bewaffneten Gruppen aus den türkischen Protektoraten Kollaboration mit dem IS vor. Aber gerade in den Orten, die Erdogan jetzt ins Visier genommen hat, den Städten Manbidsch und Tell Rifaat, ist die Lage nicht so eindeutig. Dort hatten nicht mehrheitlich Kurden gelebt, wie im jetzt von arabischen Islamistenmilizen besetzten Kanton Afrin. In Manbidsch hatten in den Anfangsjahren des Aufstands gegen Baschar al-Assad nichtdschihadistische Rebellen die Kon­trolle übernommen. Dort scheiterte ein chaotisches, aber demokratisches Experiment an den Eroberungszügen des IS. Heute wagen sich Mitglieder des damaligen Zivilrates nicht zurück, sehen die SDF, die 2016 den IS von dort vertrieben hat, nicht nur als Befreier, sondern auch als Besatzer.

Auch aus Tell Rifaat stammen Vertriebene, die lieber heute als morgen sähen, dass die kurdisch dominierte Führung von dort verschwindet. Sie füllen ebenso Zeltstädte. Sie erzählen ähnliche Geschichten wie jene, die ihre Häuser aus Angst vor Erdogans arabischen Hilfstruppen verlassen haben. Dass jetzt andere darin wohnten, zum Beispiel.

Und nicht alle arabischen Milizionäre kämpfen bloß für Geld unter türkischer Flagge. Manche von ihnen stammen aus Tell Rifaat, leben in Lagern, sehen Erdogans Feldzug als Kampf um ihre alte Heimat. Laut übereinstimmenden Berichten unabhängiger syrischer und westlicher Beobachter sowie damals mit Syrien befasster Diplomaten hatte der IS sich längst aus Tell Rifaat zurückgezogen, als dort 2016 kurdische Milizionäre einrückten – gegen den Widerstand der bewaffneten Gruppen und im Windschatten russischer Luftangriffe.

„Wir brauchen Hilfe“, appelliert er an den Westen

Dass die türkischen Aggressionen gegen die SDF dem IS in die Hände spielen, ist allerdings unbestritten. Außenminister Blinken hat explizit hervorgehoben, die gemeinsam mit den SDF erzielten Erfolge im Kampf gegen den IS dürften nicht gefährdet werden. Die Terrororganisation wurde in entlegene Gegenden zurückgedrängt. Kämpfer verstecken sich in der Wüste, Schläferzellen verbergen sich in Dörfern und Städten. Gerade in der östlichen Provinz Deir ez-Zor ist es der Terrororganisation gelungen, ihre Präsenz zu stabilisieren.

Im Januar setzte der IS in Hassakeh ein Zeichen, griff ein Gefängnis an, in dem Hunderte Dschihadisten auf engem Raum einsaßen, stürzte die Stadt ins Chaos. Die Kämpfe zogen sich über Tage hin. Von ranghohen SDF-Offizieren ist zu erfahren, der IS habe die Aktion über einen langen Zeitraum vorbereitet. Anders als bei vielen Anschlägen oder Hinterhalten habe die IS-Führung die Fäden in der Hand gehalten. „Wir wussten, dass es einen Angriff geben wird, haben versucht, die Planungen zu vereiteln“, berichtet ein SDF-Offizier. „Wir wussten nur nicht genau, wann.“ Davor, dass das Gefängnis eine Zeitbombe ist, hatten die Sicherheitsbehörden der Autonomieregierung wieder und wieder gewarnt.

Jetzt richten sich die Blicke auf das Lager „Al Hol“, in dem etwa 56.000 Menschen unter erbärmlichen Bedingungen ausharren, die meisten von ihnen Frauen und Kinder. „Der IS ist dort präsent, es gibt täglich Enthauptungen“, sagt SDF-Kommandeur Mazloum Abdi. Seine Leute haben Schreckensbilder auf ihren Mobiltelefonen, die davon zeugen. „Wir brauchen Hilfe“, sagt General Mazloum. Bei der Rückführung von Kämpfern und Familien in ihre Heimatländer, dabei, die Zustände in den Lagern und Gefängnissen zu verbessern. Damit nicht auch die nächste Zeitbombe explodiert.