MESOP MIDEAST WATCH :  KEIN NAHÖSTLICHER FRÜHLING IN SICHT !

Der Nahe Osten steuert auf eine Stunde null zu

Stand: 12.01.2020 | Lesedauer: 7 Minuten – DIE WELT – Von Zafer Senocak

Fast alle bedeutenden Staaten der Welt sind in der Region engagiert, aber die Jahrzehnte alten Konflikte gehen unverändert weiter. Es könnte sich rächen, dass wir in Europa nach wie vor denken, der Zustand in den Ländern des Nahen Ostens ginge uns nichts an.

Es ist schon grotesk: Die Tötung eines iranischen Milizgenerals hat fast die ganze Welt aufhorchen lassen, als stünde eine Zeitenwende bevor. Dabei sind im Nahen Osten zumindest in den letzten zwei Jahrzehnten Mord und Totschlag an der Tagesordnung, in Syrien herrscht ein blutiger Bürgerkrieg, der Irak ist kein funktionierender Staat mehr, in Ägypten ist ein Putschgeneral an der Macht, und die türkische Demokratie ist inzwischen schwer beschädigt.

Was ist los in dieser Weltgegend?

Auf diese Frage geben alle möglichen Zwischenrufer eine Antwort. Nur von den Betroffenen hört man fast nichts mehr. Ist das ein Schweigen der Opfer oder ein Schweigen der Täter? Womöglich beides. Wer in wessen Schuld steht, wird durch weitere Kriege nicht zu klären sein. Der Blutzoll steigt, letzte Fäden der Vernunft werden abgeschnitten und entschwinden hinter dem Horizont.

Es gibt eine einfache kulturpessimistische Deutung dieser unhaltbaren Zustände. In dieser Weltgegend, so heißt es, sei es schon immer so gewesen. Keine Aufklärung, schlechte Bildung, Armut und Unterdrückung, begleitet von einer repressiven, rückständigen Religion. Was kann man da schon anderes erwarten als Verhältnisse wie zu Zeiten des Dreißigjährigen Krieges in Europa? Solche grundlegenden Abrechnungen haben immer eine Sogwirkung in die Tiefe. Doch sie sorgen nicht gerade für Weitblick und lenken von eigenen Verstrickungen ab.

Im Nahen Osten herrschen Kriege inzwischen wie Naturkatastrophen. Fast alle bedeutenden Staaten der Welt sind auf die eine oder andere Weise an ihnen beteiligt. Beinahe alle diese Konflikte finden entlang konfessioneller Trennlinien statt. Menschen verlieren Hab, Gut und Leben und schlimmer noch, sie scheinen längst auch den Verstand verloren zu haben, den gesunden Menschenverstand.

Länder wie die Türkei, die ein einigermaßen funktionierendes System hatten, haben es ausgetauscht gegen eine Autokratie altertümlicher Färbung, um groteske Eroberungszüge zu veranstalten, die mangels Macht fünf Kilometer hinter der eigenen Staatsgrenze enden, aber Menschenleben und dringend anderswo gebrauchte Ressourcen kosten.

Überall Kleinkriege von selbst ernannten Fürsten, ohne Rücksicht auf Verluste. Verloren scheint jedes Interesse an den Gedanken des Anderen, man spricht zu sich selbst und sperrt sich selbst ein. Es gibt niemanden mehr, mit dem man sich darauf einigen kann, dass man anderer Meinung ist, sich wahrscheinlich auch nicht einig werden wird.

Die progressiven Stimmen sind fast verstummt

Nicht lange ist es her: Es war in den 80er-Jahren des vergangenen Jahrhunderts. Die Türkei versuchte sich gerade von einem Militärputsch zu erholen. Da erschienen plötzlich Zeitschriften, in denen zum ersten Mal Publizisten unterschiedlicher Gedankenwelten, Sozialisten und Muslime, Rationalisten und Mystiker, Liberale und Modernisten zusammen veröffentlichten.

Das war neu für die Türkei. In einem Land, in dem es tiefe ideologische Gräben gibt, waren diese Publikationen Plattformen der Hoffnung. Der unorthodoxe linke Intellektuelle Murat Belge, eine wichtige freigeistige Stimme, war einer der Initiatoren, seine Zeitschrift hieß: „Yeni Gündem“ – „Die neue Tagesordnung“. Solche Publikationen öffneten neue Kanäle in die Gesellschaft hinein, überbrückten die Kluft zwischen Linken und Rechten, Traditionalisten und Modernisten.

Wenn die Türkei heute nicht schon längst in einen blutigen Bürgerkrieg gestürzt ist wie der Nachbarstaat Syrien, dann weil das Land immer noch von dieser Phase der Hoffnung zehrt, allerdings mit immer kleiner werdenden Portionen. Was aber passiert, wenn nichts mehr übrig bleibt, jeder für sich selbst spricht, ohne ein Gegenüber?

In weiten Teilen des Nahen Ostens scheitert das Gespräch mit einem Gegenüber jenseits der Teezeremonie. Seine Gedanken einem anderen zu eröffnen, sich mit einem Andersdenkenden auszutauschen, den Disput zu pflegen, und dabei nicht nur Erkenntnis, sondern auch Lust und Weitsicht zu gewinnen, das ist das Fundament jeder aufklärerischen, bildungsfreundlichen Zivilisation. Das Gegenteil davon herrscht seit Jahrzehnten in den Ländern des Nahen Ostens, ganz gleich, ob diese Länder zu Verbündeten des Westens zählen oder zu seinen Gegnern.

Wenn nicht Menschen aus diesen Regionen aufbrechen würden, um zu uns zu kommen, als Flüchtlinge, Schutzlose, Habenichtse, so wäre der Schaden für uns im Westen wahrscheinlich minimal zu nennen. Böse Zungen könnten gar behaupten, dass diese Lage nicht gerade ungünstig sei für die Interessen bestimmter Mächte in der Region. All diese zynischen Spekulationen sind inzwischen ohne Bedeutung.

Die angeschlagene Selbstachtung unterscheidet Menschen aus dieser Gegend von anderen in weiten Teilen der freien Welt. Wenn ein Menschenleben nichts mehr wert ist, höchstens als Füllmaterial für korrupte Ideologien dient, gibt es auch keine Selbstachtung mehr, keine Persönlichkeit, kein Anrecht auf ein menschenwürdiges Leben. Es nützt nichts mehr, das alles zu beklagen. Für Selbstmitleid gibt es weder Raum noch Zeit. Es ist längst ein Ausdruck für Entmündigung und Entwertung von menschlichen Individuen geworden.

Perpetuum mobile der Unterdrückung

Der Nahe Osten, so scheint es, steuert inzwischen auf eine Stunde null zu. Tabula Rasa, um alles zu beenden, was die Menschen seit Generationen von einem Unglück ins andere stürzt, ein System als Perpetuum mobile der Unterdrückung und der Gewaltherrschaft. Gibt es da wirklich noch eine Alternative in eine andere Richtung?

Wenn es darum geht, in dieser Region aktiv zu werden, müsste diese Frage erst einmal glaubwürdig, das heißt ansatzweise mit etwas Hoffnung und praktischen Lösungsvorschlägen versehen, beantwortet werden. Stattdessen gibt es scheinbar nur militärische Fragen zu lösen, die zu weiterer Gewalt und oft zur Stabilisierung von Korruption und Unrecht führen. Da ist die Frage, wie viele Soldaten welchen Landes sich wo aufhalten, fast schon marginal.

 

Auch in Libyen herrscht Krieg: Ein bewaffneter Kämpfer der Regierung nimmt während der Zusammenstöße mit den Truppen der Libysch-Nationalen Armee (LNA) an der Frontlinie Stellung

Solange die Menschen, die aus dieser Region stammen, sich nicht wirklich zusammentun, um die Ursachen ihres Elends mit kühlem Kopf zu analysieren, werden sie es nicht schaffen, noch zu Lebzeiten in einem zivilisierten menschenwürdigen Umfeld zu leben. Aber was heißt zusammentun? Wo sind Ansätze zu einer neuen Tagesordnung? Ein Austausch der konfliktträchtigen Gedanken, ein Denken abseits der Schablonen?

In fast allen Ländern sind die zarten Pflänzchen der Zivilgesellschaft zertreten worden. Von Autokraten, religiösen Sektierern oder korrupten Machtbaronen. Diese Situation hat in erster Linie mit den Denkweisen in diesen Gesellschaften und ihren historischen Prägungen zu tun. Diese Prägungen finden ihre Wurzeln in der islamischen Geschichte und in einem Religionsverständnis, das aus dem Glauben kein Friedenspotenzial schöpft, sondern Inspiration für Krieg und Zerstörung.

Natürlich zeigt die Geschichte der Aufklärung, dass es Mittel und Wege gibt, diesen Zustand zu überwinden. Aber die Bedingungen für eine Verbesserung der Lebensumstände des Menschen auf der Grundlage freiheitlicher, aufklärerischer Ideen sind anfällig. Sie müssen den finsteren Gedanken abgerungen werden und behütet sein. Die Geschichte des Abendlandes mit ihren Irrwegen, Sackgassen und Abgründen ist ein Beleg dafür.

Weder die Vereinigten Staaten noch Europa sind heute in der Lage oder willens, für den Nahen Osten eine ähnliche konstruktive Rolle zu spielen wie die Amerikaner im Mitteleuropa des Jahres 1945. Diese Rolle war zivilisatorisch bedeutend, weil die westlichen Siegermächte nicht zu einer weiteren Schwächung oder gar Vernichtung des unterlegenen Gegners beigetragen haben, sondern zum Aufbau einer besseren Gesellschaft. Und das alles vor dem Hintergrund monströser Kriegsverbrechen, die von den Deutschen begangen wurden.

Teufelskreis von glauben, unterdrücken, herrschen

Die Eingriffe im Nahen Osten haben bisher nur Gegenteiliges bewirkt, im Bürgerkriegsland Syrien war es Passivität, im Falle des US-Einsatzes im Irak wurden lange schwelende Konflikte in eine dauernde Instabilität verwandelt. Solche Aktionen können einfach nicht mehr als stabilisierende Maßnahmen verklärt werden.

Für den Nahen Osten wird es keine Zauberhand geben, die über Nacht für lebenswerte Verhältnisse sorgen kann. Wie kann dieser Teufelskreis von glauben, unterdrücken, herrschen und bekriegen unterbrochen werden? Wie kann vor Ort die zynische Lebensfeindlichkeit des eigenen Wertekanons erkannt werden, der zu Mördern und Henkern erzieht?

Das geht kaum ohne Denkanstrengung, ohne Philosophie, ohne das kritische, selbstkritische Licht des Geistes. Anders werden Unterschiede keinen Zusammenhalt mehr ergeben, sondern Zersplitterung, Zerfall und Krieg.

Es könnte sich rächen, dass wir in Europa nach wie vor denken, der Zustand in diesen Ländern ginge uns nichts an, sei eher ein peripheres Problem. Der Unfriede in dieser Region verändert auch andere Teile der Welt. Er verschiebt Maßstäbe und macht aus Politik eine Quelle des Leidens und der Unvernunft.