MESOP : LAGE & TENDENZ DER TÜRKISCHEN ÖKONOMIE / KURDISCHE GEFAHR – IRANISCHE HOFFNUNG –

Von Michael Martens (FAZ) – 12 Aug 2015 – Wirtschaftsteil – Die meisten Fachleute gehen ohnehin nicht mehr davon aus, dass 2015 ein Wachstum in alter Größenordnung noch erreichbar ist, zumal die türkische Exportleistung in den ersten sechs Monaten des Jahres im Vergleich zum Vorjahreszeitraum gesunken ist, trotz der Schwäche der Lira. Die Weltbank rechnet mit höchstens 3 Prozent. Der bekannte türkische Ökonom Seyfettin Gürsel erklärte vergangene Woche gar ein Wachstum von weniger als 2 Prozent für möglich. Das wäre für die Türkei mit ihrer wachsenden Bevölkerung zu wenig, um einen Anstieg der Arbeitslosigkeit zu verhindern. Gürsel befürchtet unter anderem einen Rückgang der Einnahmen aus dem Tourismus, nachdem mehrere für die Branche wichtige Staaten, auch Deutschland, Reisewarnungen ausgesprochen haben. „Die Nachrichten über bewaffnete Zusammenstöße und Bomben mehren sich täglich und erhöhen die Zahl der Särge, die in eine türkische Flagge gewickelt sind”, so Gürsel in Anspielung auf die staatlichen Begräbniszeremonien für „Märtyrer”, wie von PKK-Terroristen getötete türkische Soldaten in der Türkei genannt werden.

Dass der neuentflammte Krieg zwischen dem türkischen Staat und der PKK auch einen wirtschaftlichen Preis hat, musste die türkische Regierung unfreiwillig sogar selbst zugeben. Als der Staat noch mit der PKK verhandelte, versuchte Ankara in der Bevölkerung für die heiklen Gespräche mit der Begründung zu werben, eine Fortsetzung des Konflikts käme alle Türken teuer zu stehen. Eine vom Wirtschaftsministerium veröffentlichte Studie zählte die Kosten des Konflikts auf, der seit den achtziger Jahren etwa 35 000 Todesopfer auf kurdischer und türkischer Seite forderte. So habe der Konflikt die Türkei über Jahrzehnte hinweg Jahr für Jahr einen halben Prozentpunkt Wirtschaftswachstum gekostet. Allein das türkische Militär habe mehr als 160 Milliarden Euro zusätzlich ausgeben müssen, heißt es in der Studie. Den Türken wurde gesagt, dass die Verluste durch den Konflikt das Äquivalent zum Bau von 150 Schnellzugstrecken zwischen Ankara und Istanbul, einem Haus und einem Auto für jede türkische Familie und zusätzlichem jährlichem Einkommen von mehr als 2000 Euro im Jahr seien, zitiert der Wirtschaftspublizist Zülfikar Dogan aus den Berechnungen des Ministeriums. Angesichts der Remilitarisierung des Konflikts fallen solche Kosten nun wieder an, während Investitionen in den unruhigen Südosten der Türkei zurückgestellt werden.

Auch die von Ankara angestrebte Zukunft als „Energiedrehscheibe” zwischen Europa, Iran, dem Nahen Osten, dem Kaukasus und Zentralasien scheint fraglich, nachdem die PKK mehrere Anschläge auf Öl und Gasleitungen in Südostanatolien verübt hat. Eine Leitung, durch die Öl aus den irakischen Kurdengebieten in den türkischen Hafen Ceyhan gepumpt wird, fiel nach einem Anschlag Ende Juli eine Woche lang aus. Die Türkei will die Röhren nun durch Überwachungskameras und Patrouillen besser schützen. Doch dass sich ein Leitungsnetz von mehreren hundert Kilometern nicht lückenlos schützen lässt, ist unumstritten.

Immerhin gibt es nicht nur schlechte Nachrichten, denn den kurdischen Sorgen der Türkei stehen iranische Hoffnungen gegenüber. Das Ende der gegen Iran verhängten Sanktionen beflügelt die Hoffnungen vieler Branchen, im Nachbarland ungeachtet der politischen Differenzen zwischen Teheran und Ankara Geschäfte machen zu können. Ein türkischiranisches Handelsabkommen sieht beiderseitige Zollsenkungen und die Ausweitung von Exportquoten vor. Die türkische Chemieindustrie, der Maschinenbau, die Stahlbranche sowie Textilexporteure und Spediteure sind besonders an Investitionen und Geschäften im einzigen direkten Nachbarstaat der Türkei interessiert, dessen Bevölkerung noch größer ist als die eigene. Türkische Haushaltswarenhersteller und mehrere Handelsketten hegen Pläne zur Eröffnung von 500 Filialen im Iran. Laut Angaben des türkischen Wirtschaftsministeriums soll sich das Handelsvolumen zwischen beiden Staaten von derzeit 14 Milliarden Euro in den kommenden zwei Jahren auf 35 Milliarden Dollar mehr als verdoppeln. MICHAEL MARTENS www.mesop.de