MESOP HUSCHYAR AL KAIDY : „Kein Yeziden Zoo in Iraq“ – Lieber ein Yeziden Zoo in Europa
Warum ein Autonomiegebiet für die Yeziden in Kurdistan keine Lösung ist
Huschyar Al-Kaidy ist hauptberuflich Doktorand der Bioverfahrenstechnik und Erfinder mit mehreren eingereichten Patenten. Nebenbei beschäftigt er sich intensiv mit der Geschichte und der Zukunft des Yezidentums.- | 08.11.14, – Die Gesellschaft Ezidischer Akademiker (GEA) hat beschlossen, sich für die Autonomie für die Yeziden und andere Minderheiten und insbesondere für die „Autonomie für Schingal“ einzusetzen (1). Diese Forderung scheint wenig durchdacht und zukunftsweisend zu sein.Die Yeziden sollten bei ihren Auswanderungsbemühungen unterstützt werden.
Im Folgenden sollen zunächst die Gründe, die gegen eine Autonomie für die Yeziden und insbesondere Schingal alleine sprechen, erörtert werden. Anschließend wird ein alternativer Weg aufgezeigt, die Zukunft des Yezidentums zu sichern.
Wie stellt sich die GEA ein autonomes Yezidengebiet vor?
Eine Erklärung, was Autonomie für Schingal oder auch die Yeziden im Ganzen eigentlich konkret bedeuten soll, bleibt die GEA schuldig. Soll ein eigenständiges Land gegründet werden? Das würde bedeuten, dass ein relativ kleines Volk eine eigene Volkswirtschaft tragen muss. Wie sollen die Menschen dort, die vor allem Viehzüchter und Bauern sind, denn eine Volkswirtschaft aufbauen, die z. B. den Bau von Straßen, den Aufbau eines Sicherheitsapparates oder die Errichtung von Schulen finanziert? Wie soll so ein Zwergenstaat eine eigene stabile Währung etablieren? Hinzu kommt, dass man beispielsweise an der EU den ganz klaren Trend zum größeren Zusammenschluss mehrerer Länder beobachten kann, da selbst ein Land wie Deutschland seine Nachbarländer braucht, um sich in der Welt zu behaupten. Doch selbst wenn man mal annimmt, dass die Yeziden es entgegen aller Wahrscheinlichkeit schaffen, diese Herausforderungen zu lösen, bleiben genug andere Probleme.
Die Yeziden werden im Irak stets in ständiger Gefahr leben
In einem von Islamisten dominierten Umfeld bedarf es eines äußerst starken Militärapparats und Geheimdienstes. Man denke an Israel. Im Moment schaffen es die Peschmerga, die PKK und die YPG kaum zusammen, sich gegen den IS zu behaupten. Die Konsequenz daraus wäre, dass die Bevölkerung in diesem Autonomiegebiet einem Leben in ständiger Lebensgefahr vor den Bedrohungen der IS-Terroristen ins Auge blicken würde. Selbst wenn der IS besiegt werden würde, was kurz- und auch mittelfristig eher unwahrscheinlich ist, würde dies noch lange kein ruhiges, sicheres Leben bedeuten. Die von den Yeziden gezählten 74 Genozide belegen diesen Punkt ausreichend.
Ein yezidisches Autonomiegebiet würde zu einer Spaltung der Kurden führen.
Einer möglichen Einigung der Kurden würde mit der Autonomie direkt entgegengewirkt. Dies hätte eine Schwächung der Kurden zur Folge und würde Kurden, die zu ihren kulturellen Ursprüngen zurückkehren wollen, den Weg erschweren, wenn nicht versperren.
Wer steht eigentlich hinter dieser Forderung?
Die GEA besteht überwiegend aus Yeziden, die aus der Türkei stammen. Die große Mehrheit dieser Gruppe hat ihre Heimat im letzten Jahrhundert in einem Massenexodus verlassen und wanderte nach Europa und vor allem nach Deutschland aus. Damit haben sich diese Yeziden – zu Recht – für ein Leben in Sicherheit und gegen die ständige Bedrohung durch die Mehrheitsgesellschaft entschieden. Nun kann man davon ausgehen, dass die Yeziden aus Schingal sehr viel eher daran interessiert sind, für sich den gleichen Weg zu wählen, nämlich nach Europa oder Amerika auszuwandern. Dass dies eine gewünschte Zukunftsoption ist, gibt die GEA auch zu. Doch trotzdem plädieren sie für ein Autonomiegebiet, in dem sich ihre Glaubensbrüder täglich gegen den IS-Terror behaupten müssten. Stattdessen sollten die Yeziden eher bei ihren Auswanderungsbemühungen unterstützt werden.
Der Irak als Zoo für die europäischen Yeziden?
Die GEA beklagt weiter, dass das kulturell-religiöse Erbe mit der Abwanderung der Yeziden aus dem Schingalgebiet verloren geht (2). Also sollen „andere“ dieses Gebiet erhalten, damit europäische Yeziden dort ggf. einmal im Jahr ihren Urlaub verbringen und in das Leben ihrer Vorfahren abtauchen können, wenn es die Sicherheitslage gerade zulässt? Es mag zwar romantisch sein, im angenehmen Frühlingsklima am Feuer frisch gebackenes Brot zu essen und mal in einer Lehmhütte zu schlafen. Die Einfachheit und Naturergebenheit des Lebens will man aber für sich kaum noch. Nach ein paar Tagen reicht es dann und man fährt zurück nach Europa mit allem westlichen Komfort und in Sicherheit. Wer dies fordert, dem muss man wirklich unterstellen, dass er sich einen Zoo erhalten will, in den er bei Bedarf eintauchen kann, den er aber auch ebenso schnell wieder verlassen kann. Wer den Erhalt des kulturell-religiösen Erbes mit dem Erhalt von Schingal verknüpft, der sollte vielleicht selbst schnellstmöglich dorthin ziehen und die Menschen beim Verteidigen dieses Ortes unterstützen.
Wenn man etwas für Schingal fordert, dann dass es zu einer Provinz des kurdischen Autonomiegebietes wird. Dadurch, dass die Yeziden in dieser Region die Mehrheitsgesellschaft darstellen, könnten sie eine tragende Rolle in einer demokratisch gewählten Verwaltung einnehmen und so ihre Interessen deutlich besser vertreten als bisher.
Alternative Zukunft für die Yeziden
Zunächst ist sicher anzuerkennen, dass das kulturell-religiöse Erbe der Yeziden nicht nur in der Heimat durch die Islamisten, sondern auch in der Diaspora in Europa massiv bedroht ist. Ursachen hierfür sind die in einem säkularen Land mit rationalistisch ausgelegten Schulen zwangsläufig eintretende Säkularisierung. Weiter leben die Yeziden nicht mehr in räumlich eng zusammenliegenden Gemeinden. Dies macht das von Orthopraxie geprägte yezidische Leben zu weiten Teilen unmöglich (die üblichen Besuche bei den Nachbarn im Dorf zu den Feiertagen, der regelmäßige Kontakt mit Sheikh und Pir, Besuch der religiösen Stätten, das gemeinsames Tiwaf, das Taufen (mor kirin) in Lalisch, Hören der Qewls etc.). Auch der Wissensverlust der oftmals jetzt schon wenig gebildeten religiösen Führer bis hin zu ihrer Nichtanerkennung lässt ein wichtiges Fundament der Religion verschwinden. Schließlich sind auch bei den Yeziden sinkende Geburtenraten zu beobachten, die mit den strengen Heiratsregeln ihr übriges zum Verschwinden der Yeziden beitragen.
Um das Überleben des Yezidentums sicher zu stellen, sollten die Yeziden, nicht nur in der Diaspora, einen anderen Weg beschreiten – den Weg der Xwe dai, den Weg der Gottesanhänger, die sich selbst erschaffen. Dies würde eine Reformation umfassen, bei der bestimmte Teile der yezidischen Religion weitergeführt werden, aber nicht an Überholtem festgehalten wird. Dies bedeutet eine konsequente Modernisierung, damit das Yezidentum in der Moderne, in jeglicher Hinsicht weit weg von den Dörfern der Vorfahren, überleben kann. Dabei ist es wichtig, dass das Neue auf einer Basis geschaffen wird, die in die heutige Zeit passt und nachvollziehbar ist. Es kann und muss nicht mehr an allem festgehalten werden, was sich jemand vor Jahrhunderten ausgedacht hat und das dann ggf. auch noch falsch überliefert worden ist. Gleichzeitig wird durch das Konzept Xwe dai die Eigenverantwortung eines jeden einzelnen betont.
Einheit aller Kurden durch Xwe dai
Mit dem Konzept der Xwe dai geht eine klare Öffnung des Yezidentums für nicht als Yeziden geborene Menschen einher. Schließlich besinnen sich immer mehr Kurden auf ihre vorislamischen Wurzeln und wenden sich vom Islam ab, in dessen Namen sie aktuell in Kobane getötet werden. Letztlich ist der Islamische Staat, der im Irak und in Syrien Terror und Tod verbreitet, für viele der „wahrste“ Islam, da er sich streng an den Koran und damit „Gottes Wort“ sowie die Scharia hält. Öffnet man mit dem Konzept Xwe dai einen neuen Weg für diese Kurden, kann schließlich auch eine Einigung aller Kurden angestrebt werden.
(1) Vgl. Reisebericht der Delegation Ezidischer Akademiker (GEA) vom 27. August bis 6. September 2014, abgerufen über http://www.gea-ev.net/ 12.10.2014.
(2) Vgl. 2. GEA Konferenz Grußwort_11.09.14, abgerufen über http://www.gea-ev.net/ 12.10.2014
Zum Autor:
Huschyar Al-Kaidy ist hauptberuflich Doktorand der Bioverfahrenstechnik und Erfinder mit mehreren eingereichten Patenten. Nebenbei beschäftigt er sich intensiv mit der Geschichte und der Zukunft des Yezidentums. Deutsch Türkische Nachrichten,