MESOP : DIE WARNWESTE ALS EUROPA PFLICHT

IM ZUSTAND DER KOLLEKTIVEN AMNESIE SIND ALLE GESELLSCHAFTLICHEN MITGLIEDER SCHON AUF ALLES VORBEREITET

Mein allabendlicher Gang mit dem Hund: ringsum Felder + Kleingärten, vollendet rundum abgesteckt mit petiten Solarlampen wie Rollfelder für erwartete Mars-Invasionen. Nachts umrundet von einem Fitness-Personal, das in Warnwesten läuft und sowohl auf den behelmten Köpfen wie an den Fußfersen ebenfalls fluoresziert. Die von anderen Menschen begleiteten Hunde beleuchtet wie Christbäume. Radfahrer mit Intensiv-Lampen, die blenden, nicht nur am Rad, auch auf den Helmen, die wiederum Weitwinkel-Kameras zwecks Aufzeichnung montiert haben. Die Qualität der Nacht ist nicht länger mehr das Dunkel.

Zu Zeiten vor dem Poststrukturalismus, als es noch intelligentere Kulturkritiker gab, hätte man unschwer geschlossen: diese da sind im permanenten state of alert. Sie rechnen stündlich mit allem Schlimmsten. Sie haben sich daher vorausschauend mit grellen Westen uniformiert – denn die Einschläge rücken näher. Der Staat wird sie nicht mehr schützen können: jeder kämpft ums eigene Überleben. Jeglicher Spaziergang, jeder Hundeauslauf samt allen diesen wespenhaft gekleideten Radfahr-Drohnen ist deshalb jetzt schon eine halbmilitärische Übung. Demnächst ist jeder nur noch für sich selbst verantwortlich – dies im Reich der Guten & Menschenrechtler.

Christian Geyer hat noch mehr dazu herausgefunden:

Neue Gesellschaftsmode Die Warnweste macht sichtbar – und wichtig:

Die immer zahlreicher werdenden Träger von Warnwesten signalisieren, dass sie auf alles gefasst sind. Das ist ja gut so. Gesamtgesellschaftlich aber entsteht so eine neue Konformität: Niemand weiß mehr, wen er vor sich hat.

Zur geistigen Situation der Zeit gehört die wachsende Bereitschaft, Warnwesten zu tragen. In fluoreszierendem Hellgelb sieht man auf der Straße tagtäglich mehr davon. Es ist, als machte bald jede graue Maus in Gelb. Die Warnwestenmode drückt einen gelassenen Daueralarm aus, sie signalisiert Einsicht in die Notwendigkeit.

Man ist, so zeigen ihre Träger, in jedem Augenblick auf alles gefasst. Seit Juli müssen Warnwesten im Auto liegen, damit Aussteigende bei Pannen, Unfällen und schlechten Sichtverhältnissen besser sichtbar sind. Das ist erkennbar eine gute, dem Überfahrenwerden vorbeugende Maßnahme. Aber immer mehr Menschen, so sieht es aus, tragen ihre Warnweste jetzt eben auch außerhalb des Einsatzortes – was sie dürfen, weil der Gesetzgeber die Handhabung der Signalwäsche grundsätzlich in die Eigenverantwortung des Bürgers gestellt hat, wohl nicht ahnend, dass der Warnbürger zur Übererfüllung neigt.

Man zehrt vom Rang einer Autoritätsperson

Tatsächlich wirft er sich inzwischen die gelbe Weste über, wann immer er es für richtig hält: beim Radfahren sowieso, aber auch beim abendlichen Bierholen und allgemein beim Gang durch die neblig-trübe Stadt, wenn wegen des höheren Kurzwellenanteils im Licht die Fluoreszenz der Textilie recht eigentlich erst zur Wirkung kommt. Sicher ist sicher, so die präventive Logik, und besser einmal zu viel als einmal zu wenig gewarnt.

Eine Rolle mag, psychologisch gesehen, auch die Stabilisierung des Selbstverhältnisses spielen, die mit dem Tragen dieser paraoffiziellen Uniform erwartbar verbunden ist. Denn mit gelber Weste zehrt man vom Rang jener Autoritätspersonen, denen solche Bekleidung bislang vorbehalten war (Sicherheitskräfte im Einsatz, Fachberater in Bereitschaft, Sanitäter beim Wachdienst).

Die Warnweste macht also nicht nur sichtbar, sondern auch wichtig. Das ist für die Ich-Stärke ihrer Träger im Zweifel ein Vorteil. Doch für die Autorität der von Amts wegen Befugten ist es ein Nachteil, wenn nun jeder Warnbürger mit professionellem Krisenpersonal verwechselt werden kann. Was in den Augen der Autofahrer der besseren Unterscheidbarkeit dient, führt gesamtgesellschaftlich zu mehr Ununterscheidbarkeit. Niemand weiß mehr, wen er vor sich hat.

Die immer zahlreicher werdenden Träger von Warnwesten signalisieren, dass sie auf alles gefasst sind. Das ist ja gut so. Gesamtgesellschaftlich aber entsteht so eine neue Konformität: Niemand weiß mehr, wen er vor sich hat. http://www.faz.net/aktuell/feuilleton/neue-gesellschaftsmode-die-warnweste-macht-sichtbar-und-wichtig-13318210.html