MESOP DEBATTE : Politische Positionen Pascal Bruckner in der NZZ /

Rechts ist so gut wie links / Von Pascal Bruckner,

Jahrgang 1948, lebt in Paris. In seinen Schriften, die die Hegemonie der Linksintellektuellen infrage stellen, hat der Romancier und Essayist u. a. einen westlichen «Schuldkomplex» und «Masochismus» sowie fatale Tendenzen des Multikulturalismus angeprangert.

Die Grenzen zwischen den Positionen werden bis zu ihrer Unkenntlichkeit verwischt. Mit welcher Folge? – Wo geht’s denn hier nach links, beziehungsweise rechts? Die eindeutigen politischen Zuordnungen sind zunehmend erodiert.

Um den Gegensatz zwischen rechts und links zu verstehen, muss man sehr weit zurückgehen: mindestens bis zur Konfrontation zwischen zwei eminenten Vertretern des Christentums, Augustinus von Hippo und Pelagius. Ersterer, einer der vier lateinischen Kirchenlehrer der Spätantike, war der Philosoph des gefallenen Menschen. In seinen Augen verdammt die Ursünde die menschliche Kreatur dazu, ihr Heil im Glauben zu suchen.

Pelagius, ein bretonischer Mönch, der im 4. Jahrhundert in Rom predigte, vertrat dagegen die Auffassung, der Mensch verfüge über die Mittel, sich selbst zu retten. Er könne sich ohne Gottes Gnade bessern – es sei mithin absurd, Adams Sündenfall dem gesamten Menschengeschlecht anzulasten.

Der Mensch, das sündige Geschöpf

Pelagius begründete ein optimistisches Menschenbild, das die Fähigkeit des Individuums behauptet, sein Los aus eigener Entscheidung zu verbessern. Wohingegen für Augustinus der Mensch, wie später für Blaise Pascal, ein ohnmächtiges, sündiges Geschöpf ist, das der Erlösung bedarf.

Als ferner Schüler von Pelagius sah Francis Bacon wiederum in der Wissenschaft ein Mittel für den Menschen, sich eigenhändig von der Materie loszulösen und die unseligen Folgen des Sündenfalls zu bereinigen. Die technischen Fortschritte in Medizin, Landwirtschaft und anderen Gebieten kündigen laut Bacon eine Zeit an, die von der Mehrzahl der Plagen befreit wäre, welche seine eigene Epoche überschatten. Der Mathematiker und Philosoph sah das Menschengeschlecht unaufhaltsam einem neuen Atlantis entgegensegeln.

Vorsichtiger Progressismus

Erst die Französische Revolution stellt der Teilung in rechts und links die moderne Geburtsurkunde aus. Im August 1789 verteidigt ein Teil der Nationalversammlung im Namen der Monarchie und der Tradition die Privilegien des Ancien Régime, derweil ein anderer deren Abschaffung proklamiert, unter Berufung auf die Universalität der Menschenrechte. Diese Teilung überschneidet sich mit einer anderen, die sich am Ende des 18. Jahrhunderts herausbildet: jener zwischen Aufklärung und Romantik.

Die Aufklärung trägt eine Hoffnung auf Emanzipation mit universellem Anspruch. Der menschliche Fortschritt soll der glücklichen Verbindung von Verstand, Erziehung, Wissenschaft und Handel entspringen, die allen Missständen des Ancien Régime ein Ende setzt: Aberglaube, Elend und Fanatismus, den Ursachen der Religionskriege. Die Romantik hingegen gebärdet sich hoffnungsskeptisch – will der Mensch zu hoch hinaus, kann das nur in einer Katastrophe enden.

Der grossartige Elan der Aufklärungsphilosophen wird tatsächlich auf der Terreur auflaufen – wovon das traurige Los von Marquis de Condorcet zeugt, dem Autor eines «Entwurfs einer historischen Darstellung der Fortschritte des menschlichen Geistes». Als Mitglied der Girondisten-Fraktion der Nationalversammlung wird er bald von den Jakobinern verfolgt und schreibt seinen Abriss in einem Versteck zu Ende, bevor er auf der Flucht gefasst wird und zwei Tage drauf aus ungeklärten Gründen im Gefängnis stirbt. Die Revolution hat begonnen, ihre eigenen Kinder zu fressen.

Berühmte Kontroverse

Diesen Widerspruch illustriert auf der politischen Ebene die berühmte Kontroverse zwischen dem liberal-konservativen Whig Edmund Burke und dem einfachen Zollbeamten, Autodidakten und späteren Gründungsvater der USA Thomas Paine. Wo Letzterer das Naturrecht und den Menschen im Allgemeinen verherrlicht, beschuldigt Ersterer die Französische Revolution, eine Politik der Tabula rasa betrieben und so alle Fundamente der Gesellschaft zerstört zu haben.

Die romantische Reaktion wird in der Folge zwei Stossrichtungen aufweisen: Sie entwickelt einerseits ein Sensorium für die Schönheiten der Natur, in der die entstehende Industrie bereits erste Spuren hinterlässt; und sie wird sich anderseits auf die Lobpreisung der kulturellen und nationalen Traditionen kaprizieren, die unter den abstrakten Idealen der Französischen Revolution zu ersticken drohen.

Wir sind heute die Erben dieser beiden Strömungen: Wir bleiben in der Mehrheit Zeitgenossen, die sich als progressiv verstehen, allerdings sind wir zurückhaltende Fortschrittsgläubige. Das grauenvolle 20. Jahrhundert, in dessen Verlauf die Technik in den Dienst von Vernichtungsplänen eingespannt wurde, Atombomben zwei ganze Städte ausradierten und mehrere Umweltkatastrophen stattfanden, hat uns misstrauisch gestimmt gegenüber dem Unbedingtheitsanspruch von Ideologien. Wir hoffen und sind dennoch skeptisch. Wir bleiben unserem Heimatland verbunden, sind aber zugleich zu weltoffenen Patrioten geworden, denen es davor graut, in die finsteren Mythologien von Blut und Boden zurückzufallen, die den Nationalismus auf immer verdächtig gemacht haben.

Die Geschichte der Linken buchstabiert eine Liste sukzessiver Ernüchterungen durch die Diskrepanz zwischen Realität und revolutionärem Ideal. Jene der Rechten besteht vor allem aus einer Folge von Erneuerungen durch Anleihen beim angestammten Feind – zum Beispiel in der Frage der sozialen Gerechtigkeit, die sich längst auch die Rechten auf die Fahne geschrieben haben. Die grossen Utopien, die die Revolutionen verhiessen, sind heute vollends diskreditiert: Die hehre sozialistische Idee starb im Gulag, in Stalins Säuberungen und in der Implosion der UdSSR.

Der blockfreie Geist von Bandung – das selbstgesetzte Ziel der sogenannten Dritten Welt, es besser zu machen als der Westen und der damalige Ostblock – ist nach der Niederlage der US-Truppen in Vietnam mit den Boat-People im Südchinesischen Meer untergegangen – mehr noch indes mit den kambodschanischen Todeslagern, den Greueln der chinesischen Kulturrevolution, dem Bankrott des Castrismus, der Kuba zum Bordell der Welt hat werden lassen.

Wildern im Garten des andern

Kommt hinzu, dass ein Teil der radikalen Ökologen entgegen dem grundsätzlichen Optimismus ihres eigenen Lagers heute das geisselt, was den Kern des linken Weltbilds ausmachte: den Kult des menschengemachten Fortschritts. Es ist in dieser Optik gerade die menschliche Hybris, die die Bewohner des Planeten Erde zu einer Missachtung ihrer natürlichen Grundlagen verleitet hat. Um das Überleben der Menschheit zu sichern, bedarf es dann eines radikalen Umdenkens. Der allgemeine Fortschrittsglaube, bis vor kurzem ein Mantra der Linken, verwandelt sich so in einen neuen linken Katastrophismus.

Dies ist das Dilemma des linken Denkens heute: Um zu überleben, ist es gezwungen, den eigenen Kern zu verraten und die eigenen universalistischen Werte zu leugnen. In einem ganz anderen Bereich veranschaulichen das jene engagierten Intellektuellen, die den Hijab, die Burka, die Minderwertigkeit der Frau im fundamentalistischen Islam gerade unter Berufung auf die Menschenrechte verteidigen und alle möglichen Ausreden finden für die Greuel der Jihadisten. Nie sind diese verantwortlich, immer ist es der Fehler des kolonialistischen, rassistischen, von Arbeitslosigkeit gebeutelten Westens.

Kurz, dieselben, die sich vehement für die Frauenemanzipation einsetzen und nicht genug harte Worte finden für die alten jüdisch-christlichen Religionen, verneigen sich vor den aufklärungsfeindlichen Sitten eines bestimmten Orients und ereifern sich über angebliche Blasphemie, wenn Karikaturen des Propheten gezeichnet werden. Die Rechte leidet da weniger unter der Diskrepanz zwischen dem Bestehenden und dem Idealen, gehört es doch zu ihrem Selbstverständnis, die Welt so zu nehmen, wie sie nun einmal ist. Dies wiederum trägt ihr den Vorwurf der radikalen Linken ein, insgeheim einer ständegesellschaftlichen Ordnung zuzuneigen.

Der alte Graben zwischen rechts und links hilft uns wohl, im Labyrinth der Geschichte die Orientierung zu bewahren. Doch in den letzten Jahrzehnten haben die Rechte und die Linke derart oft im Gedankengarten des jeweils andern gewildert, dass man sie kaum mehr zu unterscheiden vermag. Ein Konservativer kann sich heute revolutionär geben, ein Progressiver reaktionär auftreten. Der Kreuzungen sind so viele, dass die Trennung obsolet erscheint.

Wir sind die Erben dieser Traditionen, die sich in unserem Busen bekämpfen. Jeder ist in variablem Masse liberal, konservativ, progressiv – ein Adept der Unternehmensfreiheit, ein Anwalt der Welt, die er geerbt hat und die er für die nächste Generation bewahren will, ein Kämpfer für soziale Gerechtigkeit. Der alte Gegensatz besteht fort, stellt jedoch nicht länger zwei unvereinbare Weltbilder einander gegenüber.

Die bis zur Unkenntlichkeit verwischten einstigen Positionen haben es paradoxerweise geradezu begünstigt, dass durch die Hintertüre eine ideologiefreie Ideologie zurückkehren konnte. Als Zauberlehrling dieses Vakuums erscheint heute der Populist, der die Blässe des Gedankens mit Lautstärke wettmacht. Die grosse Stunde unserer Zeit schlägt darum da, wo ein Einzelner die Parteien überspringt, um direkt einen als monolithisch phantasierten Block namens «das Volk» anzusprechen.

Pascal Bruckner, Jahrgang 1948, lebt in Paris. In seinen Schriften, die die Hegemonie der Linksintellektuellen infrage stellen, hat der Romancier und Essayist u. a. einen westlichen «Schuldkomplex» und «Masochismus» sowie fatale Tendenzen des Multikulturalismus angeprangert. – Aus dem Französischen von zit.