MESOP CULTUR : FRANKFURT – NORDEND / EINE SOZIOGEOGRAPHISCH VOLLENDETE LBGTQ- ENTITÄT DER POLITISCH KORREKTEN & ANTIRASSISTEN

  • Eine Innenansicht aus der Kultur eines Neo-Biedermeier von Günter Franzen (FAZ)

Viele böse Worte, weil das Frühstücksei zu hart oder die Bettwäsche zu rauh ist.” In ihrem Standardwerk “De arte bene senescendi” zitiert die Wiener Gerontologin Verena Rothbauer-Feuchtenschlager verzweifelte Angehörige alter Dauergrantler, denen es, vulgärsprachlich ausgedrückt, ums Verrecken niemand recht machen kann, und äußert die Vermutung, dass es sich bei diesen ungezügelten Unmutsäußerungen liebevoll betreuter Senioren um Vorboten eines im weiteren Krankheitsverlauf rapide um sich greifenden neuronalen Abbauprozesses handeln könnte.

Da ich weiß Gott kein Österreicher bin und als ordnungsliebender, auf Autarkie bedachter deutscher Eigenbrötler über einen Eierkocher verfüge und grundsätzlich alle körpernahen Textilien mit einem zugegebenermaßen umweltbelastenden Weichspüler behandle, könnte ich darauf verweisen, dass ich dafür gesorgt habe, dass mir auf dem Feld der Haushaltsführung niemand in die Quere kommt und ich demnach mögliche, durch alltägliche Misshelligkeiten und Ungeschicklichkeiten ausgelöste Gefühlsausbrüche im Selbstgespräch nur gegen die eigene Person richten kann.

Natürlich ist das ein läppisches, auf ein Seitengleis führendes Ausweichmanöver, mit dem ich mich vor der bangen Frage drücke, ob und in welchem Umfang mein ganzes Denken und Handeln zunehmend in den Sog einer allgemeinen Charakterverschärfung zu geraten droht oder bereits geraten ist. Dass diese Frage bei mir und vielen meiner Altersgenossen ein großes Unbehagen auslöst, ist darauf zurückzuführen, dass sie auch unter Zurschaustellung größtmöglicher Aufrichtigkeit nicht zu beantworten ist. Ob sich mein Charakter, sagen wir mal zwischen 1077 und 2017, also in den 40 Jahren zwischen Anbruch des Deutschen Herbstes und der Mitteilung meiner bescheidenen Ruhestandsbezüge durch die Deutsche Rentenversicherung, eher veredelt oder verhärtet hat, kann ich nicht sagen, ohne mir in die Tasche zu lügen. In seiner 2014 erschienenen Studie „Bullshit” vertritt der auf dem Gebiet der angewandten Dummheitsforschung tätige Princeton Professor Harry G. Frankfurt die Meinung, dass die Vorstellung, wir seien festumrissene und klar bestimmte Wesen, die jederzeit sagen könnten, wer sie einstmals waren und wer sie heute sind, grotesk sei. Schon der leichteste Anflug des skeptischen Denkens würde scheinbar solide und resistente Tatsachen und Aussagen über uns selbst vom Sockel fegen: Was und wer wir sind, erfahren wir nur durch den anderen.

Da mein Wochenende neuerdings geschlagene sieben Tage dauert, bleibt mir viel Zeit zur Pflege und Vertiefung zwischenmenschlicher Beziehungen. Mein Freundeskreis setzt sich vorwiegend aus stillgelegten Studienräten und Lehrstuhlinhabern zusammen, durch die Bank ehemalige Linksradikale, die Pensionen beziehen, von denen ich nur träumen kann. Ich, sage das ganz ohne Groll und Missgunst und unter Anerkennung der schlichten Tatsache, dass sie seinerzeit einfach cleverer waren. Während viele von ihnen spätestens nach der Erstürmung der Landshut ihren Treueschwur auf die freiheitlich-demokratische Grundordnung leisteten und sich unter die Fittiche des Staates begaben, von dem sie hinter vorgehaltener Hand bis heute betonen, ihn stets bis aufs Messer bekämpft zu haben, gefiel ich mir bis Anfang der Achtziger in der Rolle des spätadoleszenten Verschwörungstheoretikers und entblödete mich nicht, öffentlich die These vom Sand an Baaders Schuhen zu vertreten: Andreas, der Kampf geht weiter!

Daß dieser nostalgisch gefärbte, vom warmen Licht revolutionärer Erinnerungen durchdrungene Freundesbund auf mich nicht mehr zählen kann, hat mit einer Unsitte zu tun, die nicht nur unter meinen wohlhabenden, im Frankfurter-Nordend residierenden Weggefährten grassiert, sondern im gesamten Milieu der alternativen Haus und Grundbesitzer  weit verbreitet ist und mich zur Weißglut treibt.

Zur Erläuterung für des szenefremden Leser darf man sich das Nordend vorstellen wie den Prenzlauer Berg : Fahrradhelmzwang, außer und innerhäusiges  Rauchverbot, allgemeine FIeisch-  und Dieselächtung, handverlesene Parkplätze nur für spätgebärende Frauen, Autodiät an ungeraden Wochentagen,  hohe Bio-Discounter-Dichte, obligate Schulspeisung mit Dinkelmilch, sanfte Altbausanierung auf ökologischer Grundlage, an jeder Ecke Transgender-Toiletten  und wöchentliche Refugees-Strictly- Welcome-Messen in der evangelischen Jugendkirche Peter und Paul. Kurzum das ganze sattsam bekannte Neo-BiedermeierProgramm, nur eben kleiner und  die Aktivisten im Schnitt 3o Jahre älter als in der Hauptstadt der Bewegung.

Trotz dieses meschugge anmutenden  Versuchs, im dritten Anlauf auf Wege der totalen Lebensreform noch irgendwie den Neuen Menschen zusammenzubasteln, habe ich mich als armer Verwandter am Tisch der gutbetuchten alten Kämpfer stets wohl gefühlt.  Wir bejammerten reihum unsere ärztlich attestierten Zipperlein, versicherten uns  der Aktualität der Werke Karl Marxens,  zitierten im Schein der LED-Kandelaber die schönsten Passagen aus den achtzehnten Brumaire des Louis Bonaparte: schmausten und tranken nach Herzenslust, und nach dem letzten Joint sprang ich verhältnismäßig leichtfüssig zur UBahn, um in die Bronx heimzukehren, die in Frankfurt Preungesheim heißt und durch ihre JVA einen überregionalen Bekanntheitsgrad genießt.

Die Zeit der rotgrünen Eintracht endete 2015, genauer gesagt am Abend des dritten Advents am Eingang zur weitläufigen Eigentumswohnung meines ehemaligen Kommilitonen Hagen v. Z., ein emeritierter Medizinsoziologe, der als Anhänger der seriellen Monogamie in dritter Ehe bei einer bildschönen Krankenschwester hängen geblieben war, die er im grenzwertigen Scherz als seine sexuelle Altersabsicherung zu bezeichnen pflegte.

Als ich mich nach dem Austausch gehauchter Wangenküsse aus der angedeuteten Umarmung der Dame des Hauses zu lösen suchte, hielt sie mich am Revers fest und sagte im neckisch-gereizten Tonfall einer Kitaerzieherin: „Wir wollen aber doch nicht vergessen, die Schuhe auszuziehen, nicht wahr?”

Ich ließ die Stimme des unbedarften jungen Dings lange in mir nachklingen, mein Blick streifte über die Garderobe, unter der all die braven Ökowichtel ihre Stiefelchen aufgereiht hatten, er wanderte weiter in den Salon, wo an den Füßen vorwiegend geschmackvoll gekleideter Menschen unförmige, mit braunen Karomustern versehene Bodenschoner der Marke Birkenstock hingen, und in die Stille hinein passierte ein unbedachter Satz das stark gelichtete Gehege meiner Zähne; ein Satz, der meinen Freundeskreis mit einem Schlag um zwei Drittel dezimieren sollte: „Hör zu, du Herzchen, die Frau, die mir Pantoffeln anzieht, muss noch geboren werden.”

Selbstverständlich schäme ich mich dieser Äußerung im Nachhinein zutiefst. Sie strotzt vor frauenverachtendem Machismo oder machohafter Frauenverachtung, da beißt die Maus keinen Faden ab. Und dennoch: Wann immer die Aufforderung aus dem Munde besorgter Edelparkettbesitzerinnen an mich ergeht, in diese stillosen Filzlappen zu schlüpfen, sehe ich rot, erwacht in mir ein archaisches, kaum zu bändigendes Misstrauen, sträubt sich in mir alles gegen den Versuch, mich auf meine alten Tage zu domestizieren und meiner in festem Schuhwerk vergegenständlichten Würde als Mann zu berauben: nur über meine Leiche. Von Peter Sloterdijk heißt es, dass es ihn mit Stolz erfülle, 1968 zum letzten Mal beim Friseur gewesen zu sein, und ich trage seit 1968 keine Pantoffeln mehr. Basta.

In einer Kolumne der „Zeit” aus dem Jahr 2014 steht geschrieben, dass sich der Sinn des Kinderkriegens häufig erst im Alter erschließe. Er bestehe darin, dass es immer jemanden gäbe, der verpflichtet sei, einen an Weihnachten anzurufen. Ich möchte mich diesem pädogynen und griesgrämigen Befund nicht anschließen und kann sagen, dass ich, seit sie aus dem Gröbsten heraus sind, sehr froh bin, Kinder zu haben.

Dafür, dass dieses ambivalenzfreie Gefühl auf Gegenseitigkeit beruht, möchte ich allerdings nach dem letzten Wochenendbesuch meiner älteren Tochter nicht mehr die Hand ins Feuer legen. Alles fing damit an, dass ich an zwei aufeinander folgenden Tagen neben der obligatorischen Pettersson-und-Findus-Torte für meine Enkelin ein und dasselbe Hauptgericht auf den Tisch brachte: niedersächsische Rinderrouladen mit den landesüblichen Beilagen.

Nachdem meine Erstgeborene glaubte, sich über die Eintönigkeit und Provinzialität der Speisenauswahl lustig machen zu müssen, ließ ich mich zu dem Bekenntnis hinreißen, dass es mir seit meiner Berentung zur lieben Gewohnheit geworden sei, der Einfachheit halber immer eine Woche im Voraus zu kochen: sieben Tage Hausmannskost, sieben Tage Couscoussalat, sieben Tage Chicken-Curry, sieben Tage Eintopf und so weiter. Im Übrigen sei ihr meines Wissens der damalige, aus dem 19. Jahrhundert herübergerettete Epochenunterricht an der Freien Waldorfschule nach anfänglichen Schwierigkeiten doch auch ganz gut bekommen.

Sie aber mochte sich der Wendung ins Humorvolle nicht anschließen und zeigte sich entsetzt über meine ritualisierte Form der Nahrungsaufnahme: „So kenne ich dich nicht, so will ich dich nicht, und wenn du so weitermachst, landest du in der Riege der ödipal gestörten, klapprig gewordenen Politveteranen, die den Rest ihres Lebens damit verbringen, den Untergang des Sozialismus zu bejammern und in tiefster Einsamkeit Mamas Leibgerichten nachzuschmecken.”

Ich ersuchte mein Kind in scharfem Ton, mich mit den Versatzstücken aus ihrer psychoanalytischen Weiterbildung zu verschonen und empfahl ihr, zur Abwechslung endlich mal Ordnung in ihr eigenes verworrenes Familien und Liebesleben zu bringen. Tränen, Türenschlagen, unerquicklicher Whataboutism bis zur völligen Erschöpfung der Kontrahenten. Das waren zweifellos keine Sternstunden unserer Beziehung, und ob sie es nach diesem verlorenen Wochenende als ein Glück betrachtet, mich zum Vater zu haben, steht dahin.

Im „Winterjournal”, der Autobiographie Paul Austers, findet sich ein Aphorismus, den Joseph Joubert, ein gottgläubiger französischer Moralist 1815, wenige Jahre vor seinem Tod zu Papier brachte: „Man muss liebenswert sterben (wenn man kann).” Die Worte in Klammern, die Worte, die von einem stillen, feinsinnigen Mann stammen, der zeit seines Lebens keine einzige Zeile veröffentlichte, werfen die Frage auf, ob es vermeidbar ist, im Prozess des unaufhaltsamen Verfalls den letzten Kredit zu verspielen und den Überlebenden als altes Ekel in Erinnerung zu bleiben. Man kann es, hoffe ich.

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