MENSCHENRECHTSREPORT TÜRKEI/KURDISTAN JUNI – JULI 2014 (DTF)

Demokratisches Türkeiforum (DTF) – Meldungen im Juni 2014 – Die folgenden Nachrichten wurden im Juni 2014 vom DTF in der türkischen Presse erfasst  und meist zusammenfassend übersetzt.

Zwei Tote bei Protesten in Lice

Am 7. Juni 2014 wurde eine Gruppe von Protestierenden, die im im Kreis Lice auf der Strecke von Diyarbakır nach Bingöl eine Straßensperre errichtet hatte, von Angehörigen der Sicherheitskräften beschossen. Dabei wurden Ramazan Baran (24) und Abdulbaki Akdemir (50) getötet und zwei Personen, darunter ein Soldat verletzt.[1] Dies waren die ersten Todesopfer in einer Reihe von Protestaktionen gegen den Bau neuer Gendarmeriestationen (auch Festungen = kalekol genannt), die vielfach als Straßensperren mit dem Ausheben von Gräben verbunden waren. Nach einer Nachricht in Zaman vom 3. Juni 2014 mit dem Titel PKK köy yollarını da kesti bestand die Straßensperre auf der Strecke von Diyarbakır nach Bingöl seit dem 24. Mai 2014. Nun habe die Jugendorganisation der PKK, die YDG-H (Bewegung-der revolutionären-patriotischen Jugend) auch alternative Strecken von Diyarbakır nach Lice, zwischen Kocaköy und Lice, Lice und Bingöl, und auch eine Strecke zwischen Kulp und Muş abgesperrt. Dabei seien schweres Arbeitsgerät und auch Felsbrocken auf die Straßen gebracht worden.

Nach den Vorfällen im Kreis Lice kam es zu landesweiten Protesten.[2] In Cizre wurde dabei Furkan Afşar (6) durch eine Gaspatrone verletzt. In Siirt verstarb Ramazan Ertaş (80) an Herzversagen. Der Gouverneur widersprach der Behauptung, dass sein Tod im Zusammenhang mit dem von den Sicherheitskräften verwendeten Tränengas stehe und sprach von einem natürlichen Tod in seiner Wohnung.[3] Bei der Beerdigung von Ramazan Baran kam es in Diyarbakır zu einem weiteren Vorfall, bei dem ein maskierter Demonstrant die türkische Flagge vor einem Militärposten von der Fahnenstange entfernte. Dies führte zu einer hitzigen Debatte auch um die Fortführung des Friedensprozesses.[4]

Statistiken zu Untersuchungs- und Strafgefangenen

Die Tageszeitung Evrensel meldete am 14. Juni 2014 unter der Überschrift Cezaevleri dolup taşıyor (Gefängnisse platzen aus den Nähten), dass der Justizminister Bekir Bozdağ in einer Antwort an den CHP Abgeordneten Sezgin Tanrıkulu angegeben hat, dass sich mit dem Stichtag vom 3. Januar 2014 insgesamt 145.614 Häftlingen in den 362 Strafanstalten der Türkei befunden haben (27.563 davon in Straf- und 118.051 davon in Untersuchungshaft). Die Kapazität aller Haftanstalten wurde mit 154.240 angegeben.

Auf den Seiten der Generaldirektion für Straf- und Haftanstalten (tr: Ceza ve Tevkifevleri Genel Müdürlüğü) gab es am 16. Juni 2014 schon Zahlen, die bis Mai 2014 reichten.[5] Daraus ergibt sich folgendes Bild.

Jahr Strafhaft       U-Haft       Gesamtsumme
  Männer Frauen Kinder Summe Männer Frauen Kinder Summe  
2014/05 126031 4584 509 131124 18814 764 1156 20734 151858
2014/04 124921 4528 488 129937 19468 810 1134 21412 151349
2014/03 124351 4553 500 129404 20738 894 1186 22818 152222
2014/02 121167 4314 502 125983 22965 1011 1353 25329 151312
2014/01 113643 3978 431 118052 24895 1196 1472 27563 145615
2013 110960 3891 429 115280 26067 1273 1558 28898 144178
2012 100617 3278 418 104313 28564 1.56 1583 31707 136002
2011 89252 2955 410 92617 32479 1584 1924 35987 128604
2010 83289 2748 529 86566 31262 1402 1584 34248 120814

Mit Stand vom 16. Juni 2014 spricht die Generaldirektion für Straf- und Haftanstalten von einer Kapazität von 157.063 Gefangenen in 366 Haftanstalten, Zwischen 2006 und 2014 seien auf Kreisebene 147 Haftanstalten geschlossen worden. Demgegenüber seien moderne Haftanstalten entstanden. Seit 2006 seien dies 73 neue Anstalten mit einer Kapazität von 68.037 Gefangenen und 30 neue Zusatzbauten (auch offene Anstalten) mit einer Kapazität von 7.416 Gefangenen. Bisher hatte die Kapazität von knapp 400 Haftanstalten in der Türkei unter 100.000 gelegen.[6]

Verfahren zu Vorfällen in Lice im Jahr 1993 eingestellt

Nach einer Meldung in Bianet vom 13. Juni 2014 mit dem Titel Lice Davası Durduruldu (Das Verfahren von Lice eingestellt) hat die 1. Kammer für schwere Straftaten in Izmir das Verfahren wegen der Vorfälle in Lice im Oktober 1993 in der zweiten Verhandlung eingestellt. Dem Vorsitzenden der Anwaltskammer Diyarbakır, Tahir Elçi zufolge geht dieser Beschluss auf ein Dekret des Hohen Rates der Richter und Staatsanwälte zurück, mit dem Verfahren vor Gerichten mit Sonderbefugnissen eingestellt wurden.[7] Tahir Elçi beklagte ferner, dass es in 20 Jahren keine ordentlichen Ermittlungen gegeben habe und ein Verfahren nur auf Bemühen der Geschädigten und ihrer Anwälte eröffnet wurde. Ohne eine triftigen Grund sei das Verfahren erst nach Eskişehir und dann nach İzmir verlegt worden.

Im Kreis Lice, Provinz Diyarbakır waren am 22. Oktober 1993 16 Menschen darunter der General Bahtiyar Aydın getötet worden. Viele Häuser und Geschäfte wurden in Brand gesetzt und die Bevölkerung wurde vertrieben.[8] Der Jahresbericht der TIHV für das Jahr 1993 ( download in English) spricht von 30 Toten bei den Vorfällen in Lice, die am 14. Oktober 1993 begannen. Nach der Beschießung eines Militärfahrzeugs am 21. Oktober uferten die Ereignisse aus. An diesem Tag wurde der Kommandant der lokalen Streitkräfte Bahtiyar Aydın erschossen, wobei nicht klar war, wer dafür verantwortlich war. Der damalige Kommandant der PKK Militanten in der Region, Şemdin Sakık gab an, dass seine Gruppen nur staatliche Gebäude beschädigt hätten und später ganz auf Angriffe in Lice verzichteten, um die Zivilbevölkerung nicht zu gefährden.

 

Putschisten verurteilt

Die 10. Kammer für schwere Straftaten in Ankara hat die von der 5-köpfigen Militärjunta, die am 12. September 1980 einen Putsch in der Türkei durchführten, übrig gebliebenen Tahsin Şahinkaya (87, damals Kommandant der Luftwaffe) und Kenan Evren (97, damals Generalstabschef) wegen des gewaltsamen Versuchs, die Verfassung und das Parlament zu beseitigen, nach Artikel 146 des alten Strafgesetzes zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe verurteilt.[9] Beide Angeklagte befinden sich im Militärkrankenhaus GATA, konnten aber per Videokonferenz an der Verhandlung teilnehmen.

Nach der Abschaffung der Gerichte mit Sonderbefugnissen war das Verfahren von der 12. Kammer für schwere Straftaten in Ankara an die 10. Kammer für schwere Straftaten in Ankara verwiesen worden. Das Urteil erging in der 19. Sitzung des Verfahrens. Die zunächst verhängte Strafe von erschwerter lebenslanger Haft wurde wegen guter Führung in eine lebenslange Haftstrafe verwandelt, obwohl die Angeklagten nie vor Gericht erschienen. Dem Urteil zufolge werden die Ex-Generäle degradiert und in den Status eines Soldaten versetzt. Damit verlieren sie Ansprüche, die mit ihren militärischen Ämtern verbunden sind.

Verfassungsgericht erkennt auf Rechtsverletzung in Prozessen

Aufgrund des seit September 2012 gültigen Rechts auf Individualbeschwerde an das Verfassungsgericht (vor einer Beschwerde an den Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte Bedingung zur Ausschöpfung der nationalen Rechtsmittel, DTF) sind dort auch Beschwerden über eine Verletzung des Artikels 6 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) zu fairen Gerichtsverfahren eingegangen. In zwei Fällen hat nun das Verfassungsgericht auf Verletzung dieses Rechts entschieden.

Das ist zum Einen, das unter der Bezeichnung Balyoz (Vorschlaghammer) bekannt gewordene Verfahren. Das Verfassungsgericht bemängelte den Umgang mit digitalen Beweisen und dem Abhören von Angeklagten. Am Folgetage entschied die 4. Kammer für schwere Straftaten in Anadolu, dass das Verfahren nun erneut aufgerollt werden müsse und ordnete die Freilassung der 230 Angeklagten an.[10] Das Urteil des Verfassungsgerichts steht im Widerspruch zu Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) vom März 2013. Die pensionierten Offiziere Cem Aziz Çakmak und Ali Rıza Sözen hatten eine Beschwerde beim EGMR wegen überlanger Verfahrensdauer und Untersuchungshaft eingelegt, doch dieser fand die zur Verhängung der Untersuchungshaft herangezogenen Beweise und deren Würdigung rechtlich unbedenklich und lehnte die Eingabe ab.[11]

Im Falle des ehemaligen Polizeichefs Hanefi Avcı hat das Verfassungsgericht entschieden, dass seine Rechte als Angeklagter im Verfahren gegen die illegale Organisation “Devrimci Karargah” (Revolutionäres Hauptquartier) verletzt wurden.[12] Hanefi Avcı war in dem Verfahren zu 15 Jahren Haft verurteilt worden und befand sich seit dem 28. September 2010 in Haft. Nachdem die Entscheidung des Verfassungsgerichts bei der 9. Strafkammer des Kassationshofs angelangt war, wurde Hanefi Avcı aus dem Gefängnis in Silivri entlassen.[13] Das Revision seiner Verurteilung zu 15 Jahren, 4 Monaten und 5 Tagen Haft im Verfahren wegen Zugehörigkeit zu “Devrimci Karargah” geht weiter. Im Verfahren unter dem Begriff OdaTV gehört Hanefi Avcı ebenfalls zu den Angeklagten, allerdings wurde der Haftbefehl gegen ihn im Dezember 2013 aufgehoben.

 

25 Freisprüche im Balyoz Verfahren

Am 24. Juni 2014 befasste sich die 4. Kammer für schwere Straftaten Anadolu (Istanbul) mit dem Verfahren von 88 Angeklagten aus einem der als Balyoz (Vorschlaghammer) bekannt gewordenen Prozesse.[14] Die 9. Kammer des Kassationshofs hatte das ursprüngliche Urteil aufgehoben. In der ersten Sitzung nach der Neuaufnahme des Verfahrens schloss sich das Gericht dem Kassationshof in Bezug auf den Freispruch von 25 Angeklagten an. In Bezug auf den mittlerweile verstorbenen Angeklagten Halil Yıldız wurde das Verfahren eingestellt. Das Verfahren gegen 62 Angeklagte wurde abgetrennt, wobei das Gericht sich nicht der Meinung des Kassationshofs anschloss, dass beim Rücktritt von einer Straftat keine Strafe zu verhängen sei (Artikel 316/2 TSG und Artikel 223/4-a StPO). Das Urteil des Verfassungsgerichts soll zu einem späteren Zeitpunkt bewertet werden. Auch eine Entscheidung über Zusammenlegung dieses Verfahrens mit dem Hauptverfahren steht noch aus.

Bilanz des IHD und der TIHV zum Anti-Foltertag

Nachdem die UN-Antifolterkonvention am 26. Juni 1987 nach der Ratifizierung durch 21 Mitgliedsstaaten in Kraft getreten ist, wird dieser Tag als Aktionstag gegen Folter begangen. Der Menschenrechtsverein IHD und die Stiftung für Menschenrechte in der Türkei TIHV hielten dieses Jahr Pressekonferenzen in der Zentrale des IHD in Ankara und in der Zweigstelle Istanbul der TIHV ab.[15] Sie legten dabei Zahlen sowohl für das Jahr 2013 als auch für die ersten fünf Monate des Jahres 2014 vor. Aus den Statistiken geht hervor:

  • 2013 beantragten 869 Personen bei der TİHV Behandlung wegen Folter. 537 von ihnen sagten, dass sie im gleichen Jahr gefoltert wurden.
  • In den ersten fünf Monaten von 2014 verzeichnete die TIHV 384 Anträge, von denen 143 angaben, im gleichen Jahr gefoltert worden zu sein.
  • Die TİHV zählte 2013 insgesamt 5.848 Fälle von Gewaltanwendung der Sicherheitskräfte in Polizeihaft, den Gefängnissen und bei Demonstrationen.
  • In den ersten fünf Monaten von 2014 lag die Zahl bei 1.120.
  • Der IHD zählte sogar 11.997 Fälle von Misshandlungen im Jahr 2013.[16]

 

 

 

Demokratisches Türkeiforum e. V.
Langenhagen 49, 33671 Bielefeld
E-Mail: info=at=tuerkeiforum.net, Homepage: www.tuerkeiforum.net

Das Demokratische Türkeiforum e.V. (DTF) setzt sich seit der Gründung 1990 für die Einhaltung der Menschenrechte und für Demokratie in der Türkei ein. Das DTF ist die deutsche Unterstützergruppe der Menschenrechtsstiftung der Türkei (TIHV). Spenden an das DTF werden praktisch zu 100% an die TIHV weitergeleitet.

Seit ihrer Gründung hat die TIHV mehr als 12.000 Folteropfer kostenlos behandelt. Behandlungszentren existieren in Ankara, Istanbul, Izmir, Adana und Diyarbakir. Das Dokumentationszentrum in Ankara gibt tägliche Berichte über Verletzungen der Menschenrechte in Türkisch und Englisch heraus und erstellt daraus Jahresberichte. Die Homepage des DTF wird als Sicherungskopie vieler dieser Dokumente genutzt.

Wie Unterstützergruppen in einigen anderen europäischen Ländern möchte das Demokratische Türkeiforum (DTF) in Deutschland zu der Finanzierung der TIHV beitragen. Spenden an das DTF e.V. werden in vollem Umfang an die TIHV weitergeleitet; sie sind steuerlich absetzbar.

Bitte spenden Sie an das

Demokratisches Türkeiforum

Postbank Hamburg

BLZ 200 100 20

Konto-Nr. 0741 864 205

 

Anmerkung: Um eine Spendenbescheinigung am Jahresende zu erhalten, muss die volle Anschrift bekannt sein.

 



[1]Siehe hierzu die Tagesberichte der TIHV in Englisch: 07-09 June 2014 Daily Human Rights Report und eine Nachricht in Türkisch von der offiziellen Nachrichtenagentur Anadolu vom 7. Juni 2014 Lice’deki izinsiz gösterilerde iki kişi öldü

[2]Vergleiche eine Meldung bei Bianet vom 10. Juni 2014 Lice’de İki Kişinin Ölümüne Tepkiler

[3]Siehe eine Meldung bei Sabah vom 11. Juni 2014 Gerginlik sürüyor

[4]Vergleiche hierzu einen Kommentar von Orhan Kemal Cengiz in Today’s Zaman vom 10. Juni 2014 Flag crisis is just a symptom. Das DTF hat Anfang Juni 2014 einen ausführlicherer Hintergrundbericht mit dem Titel Wie steht es um den Friedensprozess im Kurdenkonflikt? erstellt.

[5]Die Zahlen sind unter den Statistiken auf der Seite http://www.cte.adalet.gov.tr/ zu finden.

[6]Vergleiche den entsprechenden Artikel in Wikipedia Haftanstalten in der Türkei

[8]Vergleiche die Artikel in Bianet vom 15. Januar 2014 Lice Katliamı 21 Yıl Sonra Yargıda und vom 16. Januar 2014 Lice Davasında Tutuklamaya Ret

[9]Darüber berichteten u.a. Radikal vom 18.06.2014 und Bianet vom 18.06.2014, siehe auch die DTF-Berichte vom April 2012: Prozess gegen Putschisten beginnt, Januar 2012: Anklage gegen Putschisten und Juli 2011: Vernehmung von Kenan Evren

[10]Siehe hierzu Bianet vom 18. Juni 2014 AYM, Balyoz Davasında “Hak İhlali Var” Dedi und vom 19. Juni 2014 Balyoz Davasında Tüm Sanıklara Tahliye oder auch SRF (Schweizer Rundfunk Fernsehen vom 20. Juni 2014 Hunderte Militärs in der Türkei freigelassen

[12]Siehe die Meldung in Bianet vom 19. Juni 2014 AYM, Avcı İçin de “Hak İhlali” Dedi, sowie die Meldungen im Juli 2013 und Meldungen im Oktober 2010.

[13]Siehe die Meldung in Radikal vom 20.06.2014 Hanefi Avcı tahliye oldu

[14]Siehe hierzu Radikal vom 24. Juni 2014 Özkök ve Yalman Balyoz’da tanık olarak dinlencek oder Hürriyet vom 24. Juni 2014 Balyoz Davası’nda 25 sanığa beraat

[16]Vergleiche dazu die Meldungen im Februar 2014 mit Zahlen des IHD und Meldungen im April 2014 mit Zahlen der TIHV zu 2013