MENA WATCH KOMMENTAR : Der Westen zahlt in Syrien den Preis seines Nichthandelns

Die Risiken eines Militäreinsatzes in Syrien erschienen Europäern und Amerikanern immer zu hoch. Rückblickend wäre es aber besser gewesen, sie hätten eingegriffen. Daran ändert auch das Scheitern der Intervention in Afghanistan nichts.Ulrich von Schwerin NEUE ZÜRCHER ZEITUNG  15.9.2021

Gut zehn Jahre nach Beginn des Bürgerkriegs in Syrien liegt das Land in Trümmern. Mehr als die Hälfte der Bevölkerung wurde aus ihren Häusern vertrieben, gut sechs Millionen Syrer sind ins Ausland geflohen, mehr als eine Million von ihnen nach Europa. Viele der Flüchtlinge werden wohl nie in ihre Heimat zurückkehren. Ganze Städte wurden durch die Kämpfe zerstört, für ihren Wiederaufbau fehlt das Geld. Die Wirtschaft liegt am Boden, die Währung ist kollabiert, grosse Teile der Bevölkerung leiden Hunger. Zwar gab es im vergangenen Jahr kaum noch Kämpfe, doch der Konflikt ist nicht gelöst, nur eingefroren.

Selbst wenn der Krieg nicht wieder aufflammt, werden die Syrerinnen und Syrer für Generationen mit den Folgen zu kämpfen haben. Für eine abschliessende Bilanz ist es noch zu früh. Doch zehn Jahre nach Ausbruch des Konflikts ist es an der Zeit, einen Blick zurück zu werfen und einige Lehren zu ziehen. Auch wenn es in Syrien keine echten Sieger gibt, ist doch klar, dass die Europäer und die Amerikaner zu den Verlierern gehören. Ihre Politik ist auf ganzer Linie gescheitert; es bleibt ihnen nur, die Scherben zusammenzukehren.

Heute stellt sich die Frage, ob wir mit einer anderen Politik das Desaster hätten verhindern können. Wäre es nicht trotz allen Risiken und Unwägbarkeiten besser gewesen, hätten die westlichen Staaten direkt militärisch eingegriffen? Angesichts des Scheiterns des Westens in Afghanistan mag diese Frage seltsam klingen. Schliesslich haben der Kollaps des afghanischen Staates und die Rückkehr der Taliban eindrücklich gezeigt, wie schwierig und riskant Interventionen sind.

Nichthandeln ist nicht die Lösung

Es scheint naheliegend, aus dem Fiasko in Kabul den Schluss zu ziehen, dass der Westen auf Interventionen grundsätzlich verzichten sollte. Doch Syrien zeigt, dass auch Nichthandeln dramatische Konsequenzen haben kann – zuallererst für die syrische Zivilbevölkerung, aber auch für den Westen. Dessen Passivität hat es Russland und Iran erlaubt, ihren Einfluss auszuweiten. Zudem hat Europa mehr als eine Million syrische Kriegsflüchtlinge aufnehmen müssen. Auch hat der IS aus Syrien heraus zahlreiche Terroranschläge in Europa organisieren können.

Heute ist es still um Syrien geworden, doch in der Provinz Idlib kann der Konflikt jederzeit wieder eskalieren. Nur die Präsenz türkischer Truppen verhindert eine Offensive des syrischen Regimes und seiner russischen Alliierten auf die letzte Bastion der Rebellen. Zugleich droht die Türkei immer wieder mit einem neuen Angriff auf die Kurden, die sich im Nordosten eine prekäre Autonomie gesichert haben. Und in den früheren Rebellenhochburgen im Süden rumort es weiter.

Derweil regiert in Damaskus mit Bashar al-Asad noch immer der Mann, der die Hauptverantwortung für die Katastrophe trägt. Seiner Brutalität und Kompromisslosigkeit ist es geschuldet, dass die friedlichen Proteste 2011 in einen Bürgerkrieg umschlugen. Sein Regime hat mehr Blut vergossen als jede andere Konfliktpartei. Durch seine Fassbomben, sein Giftgas und die Folter in seinen Gefängnissen sind um ein Vielfaches mehr Syrer gestorben als durch die Kopfabschneider des IS.