MEINHARDT CREYDT – »OFFENE GESELLSCHAFT«, BELIEBIGKEIT UND VERZAUBERUNG

MESOPOTAMIA NEWS “DIE IDEOLOGIE DES DIVERSEN” :  „Für die Absatzsteigerung wird eine Diversifizierung der Waren erforderlich. Das fördert die inflationäre Vielheit von Lebensstilen.“ – Zur Anatomie postmodernen Bluffs –

Wer »an vielen, an zu vielen Welten gleichzeitig teilnimmt«, hat »keine bestimmte, und damit auch keine Welt«. (Ebd., XV) Günther Anders

„Ich bin eigentlich ganz ander, aber ich komme so selten dazu“ Ödön von Horvath 

 Manche sind empfänglich dafür, kollektive Identität per Abgrenzung zu Fremden zu gewinnen. Andere haben sich an eine Koexistenz von einander fremden und widersprechenden Inhalten in der eigenen Person gewöhnt.

Im Folgenden widmen wir uns den Grenzen des Pluralismus sowie dem problematischen Zauber des Synkretismus. Weit verbreitet ist die Zeitdiagnose, »dass es in modernen Gesellschaften keinen integrativen Fixpunkt mehr gibt« (Heitmeyer 1997, 32) in Gestalt »gemeinsam geteilter Werte und Normen«. (Ebd., 36). In dieser Hinsicht fehle ein »Mindestmaß an Übereinstimmung und Ähnlichkeit«. (Ebd.) Diese Meinung unterschätzt den Konsens, der bei allen sonstigen Meinungsverschiedenheiten in der Bevölkerung dominiert.

Die »offene Gesellschaft« suggeriert, sie garantiere die Offenheit eines Raumes, in dem alles existieren dürfe mit Ausnahme von Verstößen gegen die Offenheit. Ausgeblendet wird,wie solche »Offenheit« das in diesem Raum Mögliche präjudiziert bzw. formiert. Ein Beispiel dafür bildet die Meinungsfreiheit. Unstrittig ist sie dem Verbot der Äußerung missliebiger Auffassungen vorzuziehen. Allerdings enthält sie das Gebot, sich eine folgenschwere Einschränkung aufzuerlegen: Die eigene Position sei nichts anderes als eine Meinung und solle sich ja nicht aufspielen.

Um mehr als ein der Vielheit untergeordnetes Element könne es sich bei ihr nicht handeln. »Eine Meinung ist eine subjektive Vorstellung, ein beliebiger Gedanke, eine Einbildung, die ich so oder so und ein anderer anders haben kann.« (Hegel 1986, Bd. 18, 30)

Eingebürgert hat sich »eine allgemeine Überzeugung von der Subjektivität aller Erkenntnis, und allgemeines Geltenlassen solcher als sehr harmlos empfundener ›Meinungen‹.« Jeder hat seine Meinung, jedem ist die »des anderen gleichgültig, keiner vermag den anderen zu bekehren oder hat das Bedürfnis dazu«. (Gehlen 1978, 130)

Die Offenheit der »offenen Gesellschaft« erweist sich als sehr selektive Variationsbreite. Der Pluralismus ist für die Sphäre der Meinungen vorgesehen, nicht für die ihnen zugrunde liegenden kognitiv-evaluativen Koordinaten. Nicht die Tatsache der gesellschaftlichen Selektion von Inhalten wird zum Problem, sondern welche Inhalte durch die »freiheitlich demokratische Grundordnung« (fdGO) bevorzugt und welche Inhalte eher marginalisiert werden. »Ist das Sieb schlecht, so ist es auch die Auslese.«

(Müller-Lyer 1920, 83) Die zentralen Momente der fdGO genießen bei der übergroßen Mehrheit der Bevölkerung hohe Wertschätzung. In der fdGO steht die »Handlungsfreiheit « der Individuen im Zentrum. Die Verfassung gewährleistet »autonomes Wirtschaften und autonomes Verfügen über Wirtschaftsgüter«. (Detjen 2009, 97 f.)

»Die Garantie des Eigentums bedeutet, dass sich die Wirtschaftsgüter in der Verfügung Privater befinden.« (Ebd., 100) Dem bürgerlichen Selbst- und Weltverständnis gilt das Eigentumsrecht als Bedingung der eigenverantwortlichen Gestaltung des Lebens und als »die reale Grundlage der individuellen Unabhängigkeit und damit der Freiheit«.

(Ramm 1974, 50) Die Freiheit von der nötigenden Willkür einer anderen Person bezieht sich auch auf die Freiräume der individuellen Lebensführung. Eine Freiheit von »Sachzwängen « (der Organisationen sowie der Wirtschaft) ist damit nicht gemeint. Der andere Grundwert der fdGO, die Gleichheit, trennt strikt zwischen Form und Stoff.

Allen ist erlaubt, ihre Zwecke zu verfolgen. Die sachlichen Bedingungen dafür, Zwecke realisieren zu können, fallen nicht in den Gewährleistungsbereich der Freiheitsgarantie. Gleichheit heißt Entsprechung von Leistung und Gegenleistung.

Die staatliche Sicherung des Einkommens für diejenigen, die partout keine Leistung erbringen können, wird mit der fdGO als Ergänzung, nicht als Ersatz des Leistungsprinzips verstanden. Die der fdGO inhärenten Werte der Eigenverantwortlichkeit und Unabhängigkeit, Eigenleistung und Selbständigkeit des Individuums setzen sozialstaatlichen Kompensationsveranstaltungen enge Grenzen.1 Meinungsfreiheit, Rechtsstaatlichkeit und repräsentative Demokratie gehören zu den Werten der modernen bürgerlichen Demokratie. Der Wert der Menschenwürde formuliert den Imperativ, demzufolge Menschen nicht nur als Mittel, sondern auch als Zwecke zu behandeln seien. Dieses Armenrecht des vereinzelten Einzelnen schützt ihn vor willkürlicher Verhaftung und vor Folter. Es gibt ihm bürgerliche und öffentliche Rechte.

Wie begrenzt empirische Menschen und ihre Sinne und Fähigkeiten mit dem Begriff der Menschenwürde in den Blick kommen und wie stark sie sich auf ein immaterielles Substrat bezieht, zeigt das Urteil des Bundesverfassungsgerichts von 1977 über die Verfassungsgemäßheit der lebenslangen Haftstrafe. Sie führe nicht »zwangsläufig zu irreparablen Schäden psychischer oder physischer Art, welche die Würde des Menschen (Art 1 Abs 1 GG) verletzen«. (BVerfGE 45, S. 187, Rn. 191)

Der These von der Erosion des bürgerlichen SelbstundWeltverständnisses zuwider haben wir es heute mit der modernen bürgerlichen Gesellschaft zu tun. Gemeint sind nicht die ökonomisch Selbständigen (7–10% der Bevölkerung im späten 19. Jahrhundert). »Heute werden die Prinzipien der Bürgergesellschaft auch von anderen Gruppen unterstützt, über das Bürgertum hinaus. […] Ihre Prinzipien und Praktiken werden breit anerkannt, auch in anderen sozialen Milieus, wenn auch nicht völlig und mit Abstufungen. Gerade deshalb ist die Bürgergesellschaft heute fester verwurzelt, als sie es vor einem Jahrhundert war.« (Kocka 2008, 8 f.) ,

Nicht die Abwesenheit von Werten und Konsens, sondern die bestimmte Filterung, zu der sie beitragen, ist das Problem. »Man könnte meinen, es ginge ihr [der liberalen oder repräsentativen Demokratie – M. C.] eher darum, […] Menschen auf sicherem Abstand zu halten als zu fruchtbarer Zusammenarbeit zu bewegen.« (Barber 1994, 33) »Das Individuum ist gegen die alten Despotien von Hierarchie, Tradition, Rang, Aberglauben und absoluter politischer Macht mit Hilfe einer Theorie des vollständig isolierten Individuums verteidigt worden, das durch abstrakte Rechte und Freiheiten definiert ist.

Doch als diese Theorie in der Welt wirklicher sozialer Beziehungen praktisch umgesetzt wurde, hat sie sowohl die fruchtbaren wie die tyrannischen Bindungen aufgelöst und die Individuen nicht nur gegen Machtmissbrauch gefeit, sondern auch voneinander abgeschnitten.« (Ebd., 75 f.)2

Die »offene Gesellschaft« ist zugleich eine Gesellschaft der Barrieren durch Gleichgültigkeit. Märkte verbinden die Menschen, indem sie sie trennen. Die Konsumenten interessieren sich nicht dafür, wie es den Arbeitenden in der Arbeit ergeht. Die Anbieter orientieren sich nicht an vorsorglicher Problemvermeidung. Sie nutzen vielmehr auf der Grundlage des Fortbestehens der Probleme (und ihrer Ursachen) diese als Gelegenheit dazu, ein Produkt oder eine Dienstleistung zu offerieren. Produzenten und Konsumenten blenden die indirekten negativen Effekte aus, die von Produktion und Konsum ausgehen.

Die genannten Externalisierungen, Ausblendungen und Gegensätze sind Beispiele für die bestimmten Abstraktionen, die der »Vergesellschaftung durch das Recht« (Tuschling 1978, 207) in der bürgerlichen Gesellschaft zugrunde liegen.3 In ihr und in der Marktwirtschaft gelten »die Beiträge der anderen Subjekte als Mittel zur eigenen Entwicklung« (Raeithel 1983, 168). Eine gemeinsame Gestaltung des »Reproduktionsprozesses des gesamten Gemeinwesens« als »komplexer Prozess des Einander-Entwickelns« (ebd., 162) ist nicht vorgesehen.

Tuschling vermag – im Unterschied zur Diagnose eines Verfalls des bürgerlichen Selbst- und Weltverständnisses – einleuchtend die Kontinuität zwischen diesem (von Hobbes bis Kant) klassischen bürgerlichen Modell (der Vergesellschaftung durch das Recht) und der heutemaßgeblichen Vorstellung der »offenen Gesellschaft« darzulegen. Weit verbreitet ist – von politisch Konservativen bis zu Horkheimers Annahme vom Verfall der »objektiven Vernunft« (in seiner Kritik der instrumentellen Vernunft) – die These, das Besondere habe die Beziehung zum Allgemeinen verloren. Infolgedessen sei das Besondere nur noch auf sich selbst verwiesen. Dieser These widerspricht normativ die Bindung der fdGO an die Menschenwürde und die sie konkretisierenden Grundrechte. Art. 79.3 des Grundgesetzes entzieht sie der Disposition der Legislative und schreibt sie als unveränderbar fest.

Deskriptiv übergeht die These von der mangelnden Präsenz des Allgemeinen im Besonderen die beschriebene Selektion des Besonderen durch die allgemeinen Maßstäbe bzw. Filter, die der fdGO eigen sind. Allerdings liegt im skizzierten abstrakten Charakter der fdGO ein Grund für die Schwierigkeiten, die die individuelle Urteilskraft dabei hat, das Einzelne und Besondere auf eine allgemeine Ordnung zu beziehen.

Weiter unten werden die vom abstrakten Hintergrundkonsens strikt zu unterscheidenden einzelnen Meinungen der Individuen noch zum Thema. Auf der Grundlage einer allgemeinen Selbst- und Weltsicht, die in der skizzierten Abstraktheit vieles ausblendet, herrscht in den konkreten Ansichten der Individuen oft Beliebigkeit. Sie steigert sich durch das Übermaß an verwirrenden Informationen sowie durch die Beschleunigung der Themenkarussells. »Die Werte wuchern, wenn der Wert der Werte fällt. […] Die Abwertung des Sinns folgt der Inflation der Zeichen.« (Debray 1981, 134) Die Individuen driften in ihren konkreten Auffassungen zwischen Aspekten, die sich in ihrem Bewusstsein temporär in den Vordergrund schieben.

Wie beim Drehen an einem Kaleidoskop ändern sich die Bilder, wenn sich die zugrunde liegenden Elemente anders gruppieren und ineinander spiegeln. Die Urteilskraft verläuft sich in einer »Welt der Reflexion […] als einer unbestimmten Menge von Existierendem, die sich […] zueinander gegenseitig als Grund und als Begründetes

verhalten. In diesem bunten Spiel der Welt als des Inbegriffs des Existierenden zeigt sich zunächst nirgends ein fester Halt, alles erscheint hier nur als ein Relatives, bedingt durch Anderes und Anderes bedingend« (Hegel 1986, Bd. 8, 254). Es entsteht »eine Welt gegenseitiger Abhängigkeiten und eines unendlichen Zusammenhangs« (Ebd., 253). Jede(r) kann nun einen Aspekt auf einen anderen beziehen, ihn mit anderen verbinden oder ihn gegenüber anderen Momenten profilieren. Auch fundamentalistisches Für-Wahrhalten erweist sich als Abkömmling jenes verworrenen Pluralismus4, den es zu durchbrechen meint. »Das Gewirr von klug, dumm, gemein, schön ist gerade in solchen Zeiten so dicht und verwickelt, dass es offenbar vielen Menschen einfacher erscheint, an ein Geheimnis zu glauben, weshalb sie einen unaufhaltsamen Niedergang von irgendetwas verkünden, das sich dem genauen Urteil entzieht und von feierlicher Unschärfe ist.« (Musil 1981, 62)

Der hohe Stellenwert der Unterhaltung steigert die Neigung, Disparates zu kombinieren. Nahezu alles wird so aufbereitet, dass möglichst keine Langeweile entsteht und das Präsentierte als anregend und »spannend« erscheint.

Die inflationäre Verwendung dieses Wortes ebnet die Unterschiede in den  Geltungsmaßstäben (zwischen Krimi und ernsteren Themen) ein. Beim Betrachten

von Talkshows mit Politikern zeigen sich die Zuschauer davon überfordert, die verschiedenen Ebenen, auf denen die Kontrahenten argumentieren, zu unterscheiden. Erst wer ein in sich gegliedertes Ganzes zu denken vermag, ist imstande zu begreifen, welche Momente dieser realen Ordnung in den verschiedenen Statements isoliert, aus ihrem Kontext herausgenommen, hypertrophiert und willkürlich mit anderen Momenten kombiniert werden. Die Aufmerksamkeit richtet sich beim Betrachten solcher

  • Als »Kompensationsveranstaltung« kapituliert der Sozialstaat »vor einemsich aller ethischen Einbindung entledigenden Marktliberalismus«. Der Sozialstaat unterstellt die »Externalisierungsentscheidungen einer sich dekontextualisierenden, absolut setzenden ökonomischen Rationalität.

[…] Und da sich das nach der eigenen verengten Maximierungslogik fortentwickelnde ökonomische System zu keinerlei reethisierender, rekontextualisierender Veränderung mehr fähig war, mussten die sozialen Defizite des ökonomischen Systems durch entsprechende etatistische Arrangements kompensiert werden. Kompensationen sind konservativ: Sie lassen die Ursachenstrukturen der nach ihnen verlangenden Mängellandschaften unverändert; sie sind Komplizen der Mängelverursacher.« (Kersting2003, 115)

  • »Wird das Wesen als Gleichheit gefasst, so bleiben alle Einzelnen

Für sich, egoistisch, gleichgültig außer einander, unverbundene Einzelne; die

Gleichheit […] afficiert sie nicht, sie verlieren nicht ihr gleichgültiges Außereinander.

« (Feuerbach 1976, 137)

  • In der Marktwirtschaft existieren »keine anderen gesellschaftlichen Beziehungen, Zwecke und Interessen der vergesellschafteten Individuen, die allen gemeinsam und deshalb wirklich allgemein sind«, als eben jene »formalen Zwecke und Interessen, die sie alle als Eigentümer von Waren überhaupt haben, nämlich der allgemeine Zweck der Garantie der Formender Prozesse wechselseitiger, freier und gleicher Aneignung und Enteignung und das allgemeine Interesse an dieser Garantie«. (Tuschling 1976, 51)
  • Zu beobachten ist, dass eine »heute im Gefecht stehende Gedankengruppe[…] ihren Nachschub an Kombattanten und Ideenmaterial nicht nur aus ihrem eigenen Depot, sondern auch aus dem ihres Gegners bezieht; du siehst, dass sie ihre Front fortwährend verändert und ganz unbegründet plötzlich mit verkehrter Front, gegen ihre eigene Etappe kämpft; du siehst andersherum, dass die Ideen ununterbrochen überlaufen, hin und zurück, so dass du sie bald in der einen, bald in der anderen Schlachtlinie findest«. (Musil 1981, 374)

Sendungen leicht darauf, wie welcher Kontrahent aufgetreten ist, wie souverän und sympathisch er wirkt und wie viele »Treffer« er erzielt. Eine »zerstreute Aufmerksamkeit « macht sich breit, in der »die Menschen nun von allem und nichts gefangen genommen werden« (Lipovetsky 1995, 55). In dieser aus »Neugier und Toleranz gemischten Gleichgültigkeit« (ebd., 56) sind Ausschließlichkeitsansprüche verpönt. Der individuelle Synkretismus und das Temporäre stehen hoch im Kurs.

Die Not wird zur Tugend stilisiert: Das flexible Individuum »ist aus Merkmals-Atomen kombiniert, die sich nicht mehr zu einer kohärenten ›Persönlichkeit‹ zusammenschließen, sondern bereit sind, sich auf jede Schwingung einzulassen, die auf sie einwirkt. Sofern von einem Identitätskern die Rede sein kann, handelt es sich um einen Knotenpunkt sich überschneidender Kräftefelder. Es partizipiert vielfach an Verdichtungen, die hinsichtlich eines Massencharakters kompakter sind als hinsichtlich der Einheit einer Person.«

(Sieferle 1994, 162)

Für die Absatzsteigerung wird eine Diversifizierung der Waren erforderlich. Das fördert die inflationäre Vielheit von Lebensstilen. Das individuelle Auswählen im Angebotbekommt eine höhere Bedeutung als das kollektive Einwirken auf Lebensverhältnisse. Die Individuen sind aufgerufen, sich als Inneneinrichter ihrer Lebensweise zu betätigen, sich jeweils ihren »individualistischen Sinn-Cocktail« zusammenzumixen (ebd., 169). Was

zum Individuum »passt«, gilt es unablässig zu finden, zu überprüfen oder nachzujustieren. Diese individuelle Feinabstimmung absorbiert viel Urteilskraft und Energie, zumal die Zahl der Objekte massiv gestiegen ist, die zum Material der Selbstbestimmung werden.

Traditionelle Anhängerschaft und Treue richten dem Warenabsatz gegenüber Schranken auf. Erst »das flexible Individuum, das frei ist von jeglichem Ballast und jeglicher Gewissheit« (ebd., 168), erweist sich als »aufgeschlossen« und durchlässig. Auf den »Charakterpanzer« folgt der Mangel an Eigengewicht, das den immer neuen Offerten, Meinungen und Moden gegenüber geltend gemacht werden könnte. »Der lässige Mensch ist ein entwaffneter Mensch.« (Ebd., 66)

Im Vergleich zu hoch politisierten Zeiten wächst das Gewicht der Privatsphäre. »Man pflegt seine Gesundheit, sichert seine materielle Situation, befreit sich von seinen ›Komplexen‹ und wartet auf den Urlaub. […] Die Filme Woody Allens und ihr durchschlagender Erfolg sind geradezu ein Symbol dieser übermäßigen emotionalen Besetzung des privaten Raumes.« (Ebd., 70)

Die hier beschriebene Mentalität weist Gleichheit und Freiheit nicht den gleichen Rang zu. Soziale Ungleichheit wird leichter toleriert als Verbote, die die Privatsphäre betreffen. Eine spezielle Sorte von Humanismus breitet sich aus: »Je mehr der Mensch als Privatperson lebt, desto stärker ist er für das Leid oder den Schmerz des anderen empfänglich; Blutvergießen und Angriffe auf die Unversehrtheit des Leibes werden zu unerträglichen Schauspielen.« (Ebd., 281) Der Individualismus bringt einander entgegengesetzte und komplementäre Effekte hervor: »die Indifferenz gegenüber dem anderen sowie die Sensibilität für den Schmerz des anderen« (ebd.).

Vom Standpunkt der Unterhaltung, Zerstreuung und Freizeitorientierung bauen sich Vorbehalte auch gegen Fremdenfeindlichkeit und Rassismus auf. Die Ausländer, wenigstens die »spannenden«, erscheinen dann je netter, desto exotischer sie anmuten, und dienen diesen Ausländerfreunden dazu, die Langeweile zu vertreiben, wenigstens aber den Speiseplan und das Unterhaltungsangebot zu bereichern. Für diejenigen, die der Selbstverortung in einer festen Identität nicht bedürfen, sind »Zeiten der Ungewissheit« zugleich »Zeiten ohne Überheblichkeit « (Bruckner, Finkielkraut 1981, 281).

Insofern gilt: »Wir sind heute weniger verkrampft, weil wir weniger zu verteidigen haben.« (Ebd.)

Das emphatische Bewusstsein für einen Gegensatz verliert an Brisanz, wenn die Zahl der »Anziehungspole« wächst. (Ebd., 285) Der jeweilige bestimmte Gegensatz wird durch andere Gegensätze entwichtigt. Das Bewusstsein vermag die verschiedenen Gegensätze in keine Ordnung zu bringen. Sie gilt ihm als ebenso unnötig wie unmöglich. Der »Konformismus« gegenüber der Mehrheit wird bei vielen abgelöst durch die Konformität zu einzelnen Szenen und deren Moden. Der postmoderne Bürger schert sich nicht um Kohärenz und  Kompatibilität seiner Ansichten. Seine Treulosigkeit folgt einem recht speziellen »Pflichtbewusstsein, denn er gehorcht dem Gesetz des Plurals und verfügt über eine Sensibilität für Unterschiede, die sich in kein System zwingen lassen. … Er ist von so vielen Mythen und Vorurteilen überhäuft, dass er nicht mehr weiß, wem er das Wort erteilen soll.« (Ebd.)

Nicht die politische, auf eine Totalität bezogene Vorstellung, sondern die kleine Situation erscheint als attraktiv.

Dauerndes und auf Totalität Bezogenes gilt als Opium fürs Volk. Das Fragment, das Episodische, das Flüchtige und die Überraschung stehen subjektiv hoch im Kurs. Man möchte sich entführen lassen zu neuen Ufern, die man mit Plan und Absicht nie erreicht hätte. »Lasst euch überraschen, dann werden Wunder wahr« – so hieß es schon bei Rudi Carrell.

Die emphatische Wertschätzung der Vielfalt übergeht notorisch, wie deren Steigerung zur »Vergleichgültigung der von ihr hervorgebrachten Mannigfaltigkeit« führt. »Die diversen Möglichkeiten neutralisieren sich gegenseitig und konsonieren im weißen Rauschen der Indifferenz.«

(Welsch 1986, 175) Pluralität bringt sich selbst um ihre Pointe. Wer antithetisch auf die Unterdrückung von Pluralität fixiert ist, übersieht, wie »durch Freigabe der Differenzen« »alles bedeutungslos und darin gleich: egal« wird. »Unsere Kultur ist eine gigantische Maschinerie der Vergleichgültigung der durch sie produzierten Differenzen.

[…] Differenzbildung ist der gegenwärtige Modus der Indifferenzerzeugung.« (Ebd.) Vor diesem Hintergrund entwickelt Ulrich Eisel (2003) eine Argumentation zur »Leitkultur«, die von den in der Diskussion bisher dominanten Positionen positiv abweicht.

 

Die fluide Offenheit erscheint in der Postmoderne als Tugend der Wandlungsfähigkeit und nicht als Not. Dem Driften und Floaten korrespondiert eine spezifische Qualität der Überzeugungen. Die Betroffenen haben »keine Ahnung«, aber ahnen vielerlei. »Die Menschen, die in Diotimas Salon sprachen, hatten in nichts ganz unrecht, weil ihre Begriffe so unscharf waren wie Gestalten in einer Waschküche. […] Man konnte von keiner ihrer Idee eine Weile sprechen, ohne unversehens schon in die nächste zu geraten.« (Musil 1981, 458) Eine imaginäre Welt entsteht, die »nicht eng, sondern weit« ist; »deswegen stoßen sich die Sachen hier nicht hart, sondern sie berühren sich weich und glatt; auch stößt man sich hier nicht an ihnen als an etwas Hartem, vielmehr weichen sie vor einem zurück und ›geben sie Raum‹, so dass man ›fast ungerührt‹ und jdf. unverletzt durch sie hindurch geht.

[…] Wer in einer solchen Welt existiert, der hat ›kein allzu schweres Eigengewicht‹, sonst würde er ja in ihr versinken oder untergehen.« In dieser Welt »gibt es überhaupt kein Gehen mit Tritten, welche Stapfen hinterlassen in einem Boden […], nichts, ›an das der Fuß sich stoßen könnte‹«. (Binswanger 1933, 58 f.)

 

Foucaults Popularität resultiert auch daraus, dass er sich als Propagandist dieser Daseinsweise betätigte. Er plädiert für die »Überschreitung« als einer »permanenten Erschaffung unserer selbst« (Foucault 1990, 47, 49) und für die Fähigkeit und Bereitschaft der Individuen, sich  immer wieder »von sich selbst zu lösen« und mit sich zu »experimentieren« (Foucault 1989, 15; vgl. auch Foucault 1990, 50). Es gehe darum, für »eine sukzessive Realisierung aller möglichen Identitäten« prinzipiell offen zu sein und »zahllose andere zu werden« (Klossowski 1986, 96 f.). Foucault bringt die Faszination für die Offenheit, für das Neue und Überraschende und für phantastische Möglichkeiten absurdifizierend auf den Punkt. Sie überwinden  ebenso überkompensatorisch wie imaginär jede Notwendigkeit und Begrenztheit, nicht nur die problematische, in der Perspektive von Freiheit und Veränderung.

Es entsteht ein Teufelskreis zwischen der mangelnden Arbeit an realen Fixierungen und Bornierungen einerseits, dem Wuchern eines phantastischen Möglichkeitssinnes andererseits. Der legitime Protest gegen die festlegende Identifizierung der Person auf eine Eigenschaft (pars pro toto) ist das eine. Etwas anderes ist die imaginäre Entwertung jedes bestimmten Daseins im Namen einer ebenso unendlichen wie abstrakten Freiheit. Die entsprechende Devise lautet: »Ich bin eigentlich ganz anders, aber komme so selten dazu.« (Ödön von Horvath)

Dieser unbestimmte Vorbehalt »muss erleben«, dass er »den Gegenstand der Befreiung vernichtet hat. Je freier die Entscheidung ist, desto weniger wird sie als Entscheidung empfunden. Jederzeit widerrufbar, mangelt es ihr an Gewicht und Festigkeit – sie bindet niemanden, auch nicht den Entscheider selbst; sie hinterlässt keine bleibende Spur.

[…] Freiheit gerät zu Beliebigkeit.« (Bauman 1993)

Die Schwächung des wirklichen oder vermeintlichen »Durchblicks« stärkt die Bereitschaft für das Erstaunen und die Überraschungen. Die kleinen Abenteuer, die Neuigkeiten,

die vielfältigen Gelegenheiten zur Selbstwirksamkeit in hobbyhafter Betätigung, der Konsum von Bildern und Atmosphären – all das veredele das Leben und gebe die täglichen »Kicks«. Anders als in der Flüchtigkeit könne – so heißt es – das Glück ohnehin nicht existieren.

Ein großer Teil der Bevölkerung will unreif sein, um staunen zu können. Wie im Aberglauben und in der Esoterik soll vieles in der Welt als interessantes Geheimnis erscheinen. Nüchternheit und Realismus gelten als Hindernis für die tägliche Dosis Glück. Postmoderne Bürger wollen sich verführen und verzaubern lassen. Gemeint ist »kein riesiger Edelstein, den man in kleine Teil zerschnitten und sparsam verteilt hätte, sondern ein glitzernder Diamantenstaub, der sich über alle Menschen ergossen hat. Als wäre unsere sichtbare Welt verklammert mit einer anderen, normalerweise unsichtbaren Welt, deren sporadische,

aber stets unerwartete Intervention sie als einzige von ihrer Gleichförmigkeit zu retten vermag.« (Bruckner, Finkielkraut 1981, 290) In kleiner Münze und verstreut wird ausgeteilt, was früher kompakter als Kunst daherkam: »Die Schönheit allein beglückt alle Welt, und jedes Wesen vergißt seine Schranken, solang es ihren Zauber erfährt.« (Schiller 1967, 668)

Diese Wiederverzauberung ermöglicht die Vorstellung von einer metaphysischen Gunst, die dem Individuum trotz aller Widerstände entgegenkommt. Implizit ähnelt die erwünschte Existenz einem Ideal von Kindheit, in der man – frau auch – beeindruck- und überraschbar ist sowie in magischer Fülle und Buntheit lebt, ohne jedoch die Nachteile der Unreife erleiden zu müssen. Der Vorhang soll öfter aufgehen, und wir wollen uns öfter in eine andere Atmosphäre versetzt sehen. Dass der Vorhang dann wieder fällt, spricht einzig dafür, dass er bald wieder aufgeht. Postmoderne Individuen wollen, nicht nur zugleich von dieser und einer anderen Welt sein, sondern von vielen Welten, ohne sich zu vergegenwärtigen, dass »Polykosmismus« zum »Akosmismus« führt (Anders 1993, XVI):

Wer »an vielen, an zu vielen Welten gleichzeitig teilnimmt«, hat »keine bestimmte, und damit auch keine Welt«. (Ebd., XV)

 

Literatur

Günther Anders: Mensch ohne Welt. München 1993.

Benjamin Barber: Starke Demokratie – Über die Teilhabe am Politischen.

Hambur 1994.

Zygmunt Bauman: »Wir sind wie Landstreicher«, in: Süddeutsche Zeitung vom

16./17.11.1993.

Ludwig Binswanger: Über Ideenflucht. Leipzig 1933.

Pascal Bruckner, Alain Finkielkraut: Das Abenteuer gleich um die Ecke.

München 1981.

Régis Debray: »Voltaire verhaftet man nicht!« Die Intellektuellen und die Macht

in Frankreich. Köln-Lövenich 1981.

Joachim Detjen: Verfassungswerte. Welche Werte bestimmen das Grundgesetz?

Bonn 2009.

Ulrich Eisel: »Tabu Leitkultur«, in: Natur und Landschaft. Zeitschrift für Naturschutz

und Landschaftspflege. H. 9/10, Jg. 78 (2003). Siehe: http://www.eisel.de/

fileadmin/dokumente/Tabu_Leitkultur-2003.pdf

Ludwig Feuerbach: Vorlesungen über Logik und Metaphysik (Erlangen

1830/1831). Darmstadt 1976.

Michel Foucault: Der Gebrauch der Lüste. Sexualität und Wahrheit, Bd 2. Frankfurt/

Main 1989.

Michel Foucault: »Was ist Aufklärung?«, in: Eva Erdmann u. a. (Hg.): Ethos der

Moderne. Foucaults Kritik der Aufklärung. Frankfurt/Main 1990.

Arnold Gehlen: »Wirklicher und unwirklicher Geist« (1931), in: ders.: Philosophische

Schriften I. Gesamtausgabe, Bd. 1. Frankfurt/Main 1978.

Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Werke, Bd. 8 u. Bd. 18. Hg. v. Eva Moldenhauer

und Karl Markus Michel. Frankfurt/Main 1986

Wilhelm Heitmeyer: »Gibt es eine Radikalisierung des Integrationsproblems?«,

in: ders. (Hg.): Was hält die Gesellschaft zusammen? Frankfurt/Main 1997.

Wolfgang Kersting: »Gerechtigkeit: Die Selbstverewigung des egalitaristischen

Sozialstaats«, in: Stephan Lessenich (Hg.): Wohlfahrtsstaatliche Grundbegriffe.

Historische und aktuelle Diskurse. Frankfurt/Main 2003.

Pierre Klossowski: Nietzsche und der Circulus vitiosus deus. München 1986.

Jürgen Kocka: »Bürger und Bürgerlichkeit im Wandel«, Aus Politik und Zeitgeschichte,

  1. 9–10/2008.

Gilles Lipovetsky: Der Narziss oder die Leere. Hamburg 1995.

Franz Müller-Lyer: Die Zähmung der Normen. München 1918.

Robert Musil: Der Mann ohne Eigenschaften. Reinbek bei Hamburg 1981.

Arne Raeithel: Tätigkeit, Arbeit und Praxis. Frankfurt/Main 1983.

Thilo Ramm: Einführung in das Privatrecht. Allgemeiner Teil des BGB. Bd. 1.

München 1974.

Friedrich Schiller: Über die ästhetische Erziehung des Menschen, in: der.:

Sämtliche Werke, Bd. V. München 1967.

Rolf Peter Sieferle: Epochenwechsel. Die Deutschen an der Schwelle zum

  1. Jahrhundert. Berlin 1994.

Burkhard Tuschling: Rechtsform und Produktionsverhältnisse. Frankfurt/

Main 1976.

Burkhard Tuschling: Die »offene« und die »abstrakte« Gesellschaft. Berlin 1978.

Wolfgang Welsch: »Philosophie in der Postmoderne«, in: Wulff D. Rehfus/Horst

Becker (Hg.): Handbuch des Philosophie-Unterrichts. Düsseldorf 1986