Kurdische Metropole Diyarbakir : Kriegsmüde Mittelschicht
Badische Zeitung – 2.10.2012 – Die kurdische Metropole Diyarbakir genießt Wohlstand und Frieden, doch im Rest der Region im Osten der Türkei herrschen Misstrauen und Gewalt.
Es ist 17 Uhr, Hauptverkehrszeit in Diyarbakir. Autos und Mopeds quälen sich durch breite Alleen und an den vielen Baustellen vorbei. Der Park im Neubauviertel Dicle Kent füllt sich langsam mit Leuten, die sich vom Tagesstress erholen wollen. Es wird gejoggt, von zwei neu angelegten Tenniscourts tönt das monotone Floppen der Bälle.
Es ist eine friedliche Feierabendatmosphäre wie in einer türkischen Großstadt im Westen des Landes – und doch gibt es einen gewaltigen Unterschied. Diyarbakir liegt im kurdischen Teil und damit mitten im Krisenzentrum des Landes. Soeben flimmert über den Fernseher im idyllischen Teegarten des Parks die Nachricht vom neuen Anschlag. Neun Polizisten sind bei einem Bombenattentat auf ihren Konvoi in der Nähe von Bingöl ums Leben gekommen. Auf derselben Straße von Bingöl nach Mus werden zwei Tage später zehn unbewaffnete Soldaten in Zivil, die vom Urlaub auf dem Weg zurück in ihre Kasernen sind, ermordet. Insgesamt gab es in den letzten zwei Monaten mehrere hundert Tote, die Armee setzt gegen die kurdischen Separatisten von der PKK sogar Kampfflugzeuge ein.
Bingöl liegt rund 100 Kilometer nördlich von Diyarbakir, doch angesichts der friedlich ihre Wasserpfeife schmauchenden Männer im Teegarten erscheinen diese Nachrichten wie von einem anderen Stern. “Die Leute haben sich daran gewöhnt”, sagt Sertac Bucak. Er ist Mitglied eines unabhängigen Think Tank, der sich mit sozialwissenschaftlicher Forschung über die kurdische Gesellschaft beschäftigt. “Die Leute wollen ihren Alltag nicht mehr davon bestimmen lassen.” Polizei und Militär unterstützen diese Haltung. Sie halten sich zurück und vermitteln ebenfalls den Eindruck, als sei die Situation völlig normal. Die sichtbare Präsenz des Militärs ist, anders als in früheren Zeiten, minimal. Lediglich die Kampfflugzeuge, die vom nahe gelegenen Militärflugplatz starten und landen, erinnern daran, dass in wenigen Kilometern Entfernung heftig gekämpft wird.
Bucak ist bereits im Pensionsalter. Er hat Jahrzehnte in Deutschland gelebt, 1980 nach dem Militärputsch hat er das Land verlassen. Seit einigen Jahren ist er nun zurück in Diyarbakir und freut sich über die Entwicklung der Stadt.
Aus der heruntergekommenen uralten Siedlung am Tigris ist eine moderne Metropole geworden. Die wichtigste kurdische Stadt der Türkei expandiert. Statt der 200 000 Menschen, die noch vor 20 Jahren mehr schlecht als recht hier hausten, hat die Stadt nun 1,5 Millionen Einwohner, sie hat breite Alleen und riesige Neubauviertel. Die von der mittelalterlichen, aus schwarzen Basaltsteinen erbauten Stadtmauer umgebene Altstadt ist heute das pittoreske Anhängsel der Neustadt. Vor ein paar Jahren noch hausten Kriegsflüchtlinge in Slums an der Stadtmauer, jetzt sind dort Grünanlagen und Kinderspielplätze.
Der Strukturwandel der Stadt ist zum großen Teil hausgemacht: In Diyarbakir hat sich eine urbane kurdische Mittelschicht entwickelt – ein Novum für diese Gegend der Türkei. Noch bis vor wenigen Jahren war die kurdische Gesellschaft agrarisch-feudalistisch organisiert: Großgrundbesitzer herrschten über abhängige Bauern, Großclans bestimmten das soziale Gefüge. Der seit 30 Jahren andauernde Krieg der PKK-Guerilla gegen die Armee hat jedoch viele dieser traditionellen Strukturen zerstört. Zehntausende Bauern und ihre Familien wurden vom Militär aus ihren Dörfern vertrieben, andere verließen ihre Häuser, weil sie zwischen die Fronten gerieten. Sie flüchteten in die Städte, nach Diyarbakir, in den Westen der Türkei oder ins Ausland.
Doch in den letzten Jahren sind wie Sertac Bucak viele Kurden nach Diyarbakir zurückgekehrt und haben Geld und Know-how mitgebracht. Selbst wenn sie in Istanbul oder Izmir bleiben, sind sie doch vielfach bereit, in ihrer alten Heimat zu investieren. Auf einer Tour durch die Stadt zeigt Bucak auf Luxuswohnanlagen, die man offenbar mittlerweile auch in Diyarbakir verkaufen kann. Außerhalb der Stadt, auf einem Hügel jenseits des Tigris, liegt die nach dem Fluss benannte Universität. Mehr als 20 000 Studenten werden hier in nahezu allen Fächern ausgebildet, demnächst soll auch eine Fakultät für kurdische Studien eröffnet werden.Möglich wurde das durch einen De-facto-Waffenstillstand Anfang des vergangenen Jahrzehnts und die längeren Friedensphasen danach. Man hoffte auf eine politische Lösung, wie sie der türkische Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan mehrfach versprochen hatte. Doch seit gut zwei Jahren wird wieder geschossen statt gesprochen. Vor allem in den letzten Monaten hat die PKK ihre Angriffe auf Militär und Polizeiposten intensiviert. Die Separatisten gehen momentan in die Offensive. Entlang der irakischen und iranischen Grenze wollen sie befreite Gebiete errichten. Die Armee hat zusätzliche Kräfte in diese Region verlegt und greift die PKK auch aus der Luft an.
Der Krieg ist neu aufgeflammt, auch die Menschen in den kurdischen Städten denken und fühlen nach wie vor nationalistisch. Doch im Gegensatz zu früher hat die neue kurdische Mittelschicht durchaus etwas zu verlieren. Ihre Symbolfigur ist Osman Baydemir, der Oberbürgermeister von Diyarbakir. Ihm geht es nicht nur um mehr oder weniger abstrakte Autonomieforderungen, er will die Lebensbedingungen der Menschen verbessern. Früher war Baydemir Anwalt für Menschenrechte, trotz der angespannten Lage macht er einen gelassenen Eindruck. Obwohl als Amtssprache nach wie vor verboten, redet er in seiner kurdischen Muttersprache. Das ist ihm wichtig, auch wenn er sich problemlos auf Türkisch oder Englisch unterhalten könnte. Baydemir gehört der kurdischen Partei BDP an und ist mittlerweile fast genauso lange Oberbürgermeister von Diyarbakir wie Tayyip Erdogan Ministerpräsident der Türkei. In der Kurdenfrage sind sie deshalb bereits einen langen Weg mit- und gegeneinander gegangen. Knapp zehn Jahre.
Nach Jahren der Annäherung war auf einmal Schluss
“Zu Beginn meiner Amtszeit ging es in den kurdischen Gebieten ständig bergauf. Die Waffen schwiegen und die Regierung von Tayyip Erdogan hat sich bemüht, die Kurden für sich zu gewinnen und viel in die Infrastruktur in Diyarbakir und anderen kurdischen Städten investiert”, sagt Baydemir. “Dann kam eine Phase der Stagnation und seit zwei Jahren geht die Kurve wieder steil nach unten.”
Über die Gründe schweigt Baydemir. Diese erläutert später der Politologe Vahab Coskun, Professor an der Universität Diyarbakir. Nicht nur die Regierung sei für die neuerliche dramatische Zuspitzung der Lage verantwortlich. Zwar lässt Tayyip Erdogan seit mehr als eineinhalb Jahren Massenverhaftungen von Funktionären der BDP durchführen, denen allesamt vorgeworfen wird, sie würden versuchen in den kurdischen Regionen eine staatliche Parallelstruktur im Auftrag der PKK einzurichten. Doch zuvor habe die BDP ein Friedensangebot Erdogans scheitern lassen.
PKK-Kämpfer, denen die Regierung Straffreiheit zugesichert hatte, wenn sie ihre Waffen niederlegen, wurden von der BDP im Triumphzug durchs Land gefahren. Die Türken waren empört, Erdogan legte seine Friedensinitiative auf Eis. Trotzdem ließ er hinter den Kulissen weiter verhandeln. Selbst der inhaftierte PKK-Chef Abdullah Öcalan wurde in die Verhandlungen mit einbezogen.
Doch im Sommer letzten Jahres war plötzlich Schluss. Die PKK griff einen Militärkonvoi an und tötete 13 Soldaten. Das war der Auftakt, in den letzten Monaten wurden die Kämpfe immer brutaler. Keiner weiß, warum die Verhandlungen gescheitert sind. Die Oppositionspartei CHP behauptet, dass es der Regierung nur darum gegangen war, Ruhe vor den Wahlen zu haben, die im Juni 2011 stattgefunden haben.
Vahab Coskun führt das Scheitern dagegen auf das wechselseitige Misstrauen zurück: “Die PKK behauptet, die Regierung hätte ihre Zusagen nicht eingehalten und die Regierung verweist darauf, dass ein Teil der PKK mit den Ergebnissen nicht einverstanden war und von den Verhandlungsführern nicht kontrolliert werden konnte.” Die Regierung ist zudem davon überzeugt, dass das Assad-Regime in Syrien die aktuelle PKK-Offensive unterstützt – als Rache dafür, dass die Türkei der syrischen Opposition hilft.
Doch selbst wenn das stimmen sollte – es ändert nichts daran, dass die kurdische Frage in der Türkei nicht durch Gewalt gelöst werden kann. Die neue Mittelschicht in den kurdisch dominierten Städten ist kriegsmüde. Sie will von den immer wieder gleichen Kämpfen zwischen PKK und Armee eigentlich nichts mehr hören. “Darauf müssen auch die BDP und indirekt damit auch die PKK Rücksicht nehmen”, sagt Vahab Coskun. Eine Lösung sei nur durch Verhandlungen möglich, meinen er und der Heimkehrer Sertac Bucak. Auch der Oberbürgermeister von Diyarbakir will zurück an den Verhandlungstisch.”Am Ende wird eine regionale Autonomie innerhalb des türkischen Staates stehen”, sagt Osman Baydemir. Das müsse jetzt nur noch politisch durchgesetzt werden.
In der Nacht knallt es plötzlich heftig im Stadtteil Dicle Kent. Lichter werden hastig gelöscht, Leute stürzen ans Fenster oder auf den Balkon, um zu sehen, was los ist. Deutlich sind die Schüsse zu hören. Doch dann steigen auf einmal Feuerwerksraketen in den Himmel. “Es ist eine Hochzeit, erklärt der Nachbar lachend, die Schüsse waren nur ein Freudenfeuer.” Ein bisschen Frieden in Kurdistan.
http://www.badische-zeitung.de/nachrichten/ausland/kriegsmuede-mittelschicht–64187718.html