Krise der Öffentlich-Rechtlichen : Soko Schlesinger

Patricia Schlesinger, damals noch Intendantin, und Tom Buhrow, immer noch Intendant.

Die Affäre um die gefeuerte Intendantin Patricia Schlesinger stellt die Legitimation des öffentlich-rechtlichen Systems in Frage. Das ist auch gut so – denn die wahre Verschwendung findet sich im Programm.

  • Von Claudius Seidl   27.08.2022- FAZ  Der Slogan des Rundfunks Berlin Brandenburg heißt „Bloß nicht langweilen“, die Agentur, die sich das ausgedacht hat, hat für die Kampagne einen Preis gewonnen.
  • Und der Sender lobt sich gern selbst dafür: „Unangepasst und unbescheiden, mit einem Schuss Selbstironie“, so zeige man sich hier, schreibt die Marketingchefin. Dabei widerspricht der Slogan allen Regeln der Überzeugungskunst: Wer von Langweile spricht, gibt schon zu, dass er die Möglichkeit des Langweilens in Erwägung zieht. Und wer „bloß nicht“ davorstellt, lässt eine gewisse Verzweiflung erkennen, den unbedingten Willen, sich notfalls auch zum Deppen zu machen. Und genau so hat sich das Versprechen des Slogans ja auch erfüllt: Die Story vom Fall der Intendantin ist für viele zum Verzweifeln. Langweilig ist sie nicht.

Eine ähnliche Verzweiflung war Ende Juni während der Verleihung des Deutschen Filmpreises zu spüren, wo man, je heftiger die Kraft des Kinos beschworen wurde, desto deutlicher sah, dass kaum einer der nominierten Filme über diese Kraft verfügte. Für einen César, einen Oscar hätte es bei keinem gereicht, und der Jubel über den Sieger „Lieber Thomas“ war nur deshalb so laut, weil dieser Film, wenn schon nicht groß, dann wenigstens klein, charmant und nicht völlig frei von Selbstreflexion ist.

In der ersten Reihe saß Patricia Schlesinger, die, nicht nur weil der RBB die Gala übertrug, als Gastgeberin allseits begrüßt und lobend erwähnt wurde; freundlich lächelte sie zurück. Und genau so ist ja im deutschen Film auch die Macht verteilt: Ohne das Geld des Fernsehens geht nichts, gar nichts. Und wenngleich es ein paar Redakteure mit Geschmack, Ideen und Freude am Risiko gibt, ist doch die Schuld des Fernsehens an dem Mittelmaß, der Konfliktscheu und dem ästhetischen Konformismus der ganzen Branche gar nicht hoch genug einzuschätzen. Einer Branche, die, wenn die Budgets nicht für Filme reichen, dann eben all die Fernsehspiele, Fernsehkrimis, Fernsehserien produziert, die der Grund dafür sind, dass Netflix fast zehn Millionen Abonnenten hat. Und Amazon prime noch ein paar mehr. Weil den Leuten das Fiktionsangebot der Öffentlich-Rechtlichen nicht gut genug ist.

Der totale Kollaps

Manchmal, wenn man die Kraft findet, sich länger als zehn Minuten zum Beispiel der Serie „In aller Freundschaft“ auszusetzen, manchmal möchte man glauben, dass der totale Kollaps und danach ein Neustart das Beste wäre, was der Branche passieren könnte. Ja, die Serie hat ihr Publikum, Rosamunde Pilcher hat ihres, aber wenn es beides nicht mehr gäbe, wenn auch der Bozen-Krimi, der Kroatien-Krimi und die Soko Potsdam plötzlich verschwänden, wüssten deren Zuschauer sich schon anders zu beschäftigen. Die Einzigen, denen dann wirklich etwas fehlen würde, nämlich Gagen, Honorare, Gehälter: das wären all die Leute, die an der Herstellung dieser Fiktionen beteiligt sind. Die deutsche Fiktionsindustrie lebt von den Gebühren, so wie der Kohlebergbau jahrzehntelang von Subventionen lebte.

Wie diese Gebühren verschwendet werden, offenbart sich nicht nur in der Affäre Schlesinger. Es genügt ein Blick ins Fernsehprogramm. Eine Folge „In aller Freundschaft“ kostet ungefähr ein Intendantenjahresgehalt. Ein Rosamunde-Pilcher-Film hat das gleiche Budget wie die Renovierung der RBB-Chefetage. Gegen beides wäre, da es ja seine Zuschauer findet, viel weniger zu sagen, wenn es nicht so viel davon gäbe. Zu viel, wie jede Stichprobe zeigt. An einem Montag: Donna Leon im Ersten, Bodensee-Krimi im Zweiten. An einem Dienstag: „Die Kanzlei“, danach „In aller Freundschaft“. Es gibt „Sokos“, fast schon aus jeder Mittelstadt, es gibt Barcelona-Krimis, Mordkommission Istanbul, alles aus deutscher Produktion. Und natürlich Spreewald-Krimis, Erzgebirgskrimis, „München Mord“. Was nicht nur die Verengung fast aller narrativen Möglichkeiten auf die Aufklärung von Morden und das Erfinden immer neuer und einander doch so schrecklich ähnlicher Motive zur Folge hat – letztlich also ein Bild der Gesellschaft als Ansammlung von Verdächtigen. Wer zum Beispiel die Angewohnheit hat, freitags das „heute journal“ zu sehen, und, um nichts zu versäumen, ein paar Minuten zu früh einschaltet, muss den Eindruck haben, es werde jeden Freitag derselbe Krimi immer wieder gesendet: so ununterscheidbar sind die betroffenen Gesichter, die Umarmungen der Davongekommenen, die Musik scheint ein endloser Loop zu sein.

Vor allem aber folgt aus der Fiktionsinflation ein scheinbares Paradox: dass das öffentlich-rechtliche Fernsehen zu­gleich zu teuer und zu billig ist. Zu teuer deshalb, weil all die Krimis, Schnulzen, Serien natürlich sehr viel mehr kosten als die politischen Magazine und die Dokumentationen, deren Sendezeit immer knapper wird.

Zu billig deshalb, weil diese Überproduktion aber dazu führt, dass die einzelnen Produktionen unterfinanziert sind; dass zu wenig Geld da ist für Drehbücher, Szenenbilder, Kostüme, Beleuchter; dass in geheimnislos ausgeleuchteten Räumen totalredundante Dialoge im Einheitsfernsehdeutsch gesprochen werden und die Aufklärung des Mordes oder, im Fall der Romanzen, das fadenscheinige happy ending aus mindestens zwanzig Minuten Abstand schon zu erkennen sind. Und diese ästhetische Anspruchslosigkeit hat längst den deutschen Film angesteckt, der ja, wenn er sich nicht an die Fernsehnorm hält, mit Fernsehgeld nicht rechnen darf. Im Kino will in dieser Saison kaum jemand mehr deutsche Filme sehen, der Bankrott ist vollkommen. Was, offensichtlich, auch daran liegt, dass das Publikum sich von der deutschen Fiktionsproduktion keine starken Erregungen, Herausforderungen, Emotionen verspricht. Und nicht neugierig genug darauf ist, im Kino zu überprüfen, ob „Lieber Thomas“ oder „Das schnelle Alphabet der Liebe“ dieses Vorurteil wirklich bestätigen.

Fernsehen, nur für Schnösel

Neulich lief, tatsächlich im Ersten, eine sensible Dokumentation über Christoph Schlingensief, die ausführlich Schlingensiefs Filme zitierte. Wobei überdeutlich sichtbar wurde, dass diese Filme im Fernsehen nur so, eingerahmt und eingehegt vom Kommentar, gezeigt werden können – obwohl der Minutenpreis weit unter dem der schäbigsten Dienstagabendserie läge. Als Projekt bekäme „Das deutsche Kettensägenmassaker“ keinen Euro für die Produktion. Und erst recht keinen Sendeplatz. Und wenn, am anderen Ende der Möglichkeiten gewissermaßen, eine Serie wie „Babylon Berlin“ vorführt, wie hoch die Standards einer deutschen Serie liegen können: Dann ist das erstens nur als Koproduktion mit einem Bezahlsender möglich. Und bleibt, zweitens, die Ausnahme, die an der Regel nichts ändern wird.

Wer die Regel für falsch erklärt, ist ein Schnösel. Wer öffentlich fragt, ob das wirklich der Sinn der Gebühren ist: dass davon demnächst noch eine Soko Bielefeld, der Tirana-Krimi und endlich die erste Staffel der Bergdoktorin produziert werde – der bekommt von denen, die das Programm verantworten, seit Jahren die Antwort, dass man nicht nur Programm für Akademiker, Filmkenner und andere radikale Minderheiten machen könne. Man bekomme Gebühren von allen, also sei man verpflichtet, Programm für alle zu machen. Was insofern stimmt, als Nachrichten die verlässlichsten Quotenbringer sind. Das Fiktionsfernsehen holt selten mehr als fünf Millionen Zuschauer, was auch heißt: 75 Millionen haben es nicht gesehen.

Und der wahre Grund für all die Redundanz und Erwartbarkeit der Krimis und Romanzen ist der, dass man jene, denen bei Rosamunde Pilcher die Kraft zum Abschalten fehlt, nicht verschrecken will: Es sind die Leute, die zu weitsichtig sind, den ganzen Abend zu lesen, zu schwach zum Ausgehen, zu müde für lange Konversationen. Es sind die Senioren, deren Intelligenz und Ge­schmack von den Fernsehredaktionen notorisch unterschätzt werden.

Einfach das ZDF abschaffen?

Die Frage, die sich jetzt stellt, ist die, ob die Erschütterungen, die das ganze System in diesen Tagen erlebt, stark genug sein werden, damit Redaktionen und Aufsichtsgremien sich genötigt fühlen, noch einmal grundsätzlich über ihren Auftrag nachzudenken. Die Kritik der öffentlich-rechtlichen Programme hat ja in den vergangenen Jahren so funktioniert, dass die AfD den ganzen Laden abschaffen wollte, weshalb jeder besonnene Gebührenzahler ihn verteidigen musste. Wenn es die Öffentlich-Rechtlichen nicht gäbe, müsste man sie erfinden, sagen die gern über sich selbst – und übersehen dabei, dass man sicher nicht diesen aufgeblähten, unbeweglichen, ständig unter seinen eigenen Möglichkeiten arbeitenden Riesenapparat er­fände. Und erst recht nicht die daran angeschlossene Fiktionsindustrie.

Die Lage ist kompliziert. Wer den Sendern die Budgets kürzte, würde nur dafür sorgen, dass weniger Geld ins Programm flösse, weil die Pensionsansprüche davon ja nicht kleiner würden. Wer mit Streichlisten durchs Programm ginge und die Hälfte der Krimis und des Kitsches einfach herauskürzte, setzte sich dem Vorwurf der Willkür aus. Der Medienkritiker Stefan Niggemeier, eigentlich ein Freund der öffentlich-rechtlichen Idee, hat neulich einen interessanten Vorschlag ge­macht: Warum schaffen wir das ZDF nicht ab? Wo doch kein Mensch außerhalb Deutschlands die Notwendigkeit von gleich zwei öffentlich-rechtlichen Systemen verstehen würde.

Ob der Vorschlag realistisch ist, wird sich zeigen, wenn er sich herumspricht; die hessische FDP hat ihn sich zu eigen gemacht und fordert die Privatisierung des Zweiten. Sicher ist aber, dass, was im Moment die größte Furcht der Intendanten und Programmverantwortlichen ist, dass nämlich die Affäre Schlesinger das ganze System in Frage stellt, zugleich die größte Hoffnung auf eine Veränderung der versteinerten Verhältnisse be­deutet.