KOTZIAS – INTIMPORTRAIT EINES EWIGEN MOSKOWITERS

KOTZIAS – INTIMPORTRAIT EINES EWIGEN MOSKOWITERS / FORTSCHRITT ALS WIEDERAUFFÜHRUNG : DER SIEG DER 1968er DKP IM HEUTIGEN ATHEN

  • Die Eule der Minerva fliegt hier nicht mehr –

Der neue griechische Außenminister Kotzias hat in Gießen studiert. Mit Zitaten von Marx und Lenin brachte er die Augen der Kommilitoninnen zum Leuchten. So jedenfalls kam es einem Tutor damals vor. Von Timo Frasch

Als Heinrich Brinkmann, Stadtrat der Grünen in Gießen, am Mittwochmorgen die Zeitung aufschlug und einen Artikel zum neuen griechischen Kabinett las, begann es in seinem Kopf zu arbeiten: Nikos Kotzias. Neuer Außenminister. Professor. Freund Russlands. Der Nikos Kotzias? Aber natürlich, warum nicht? Schon früh hatte sich angedeutet, dass der Mann zu Höherem berufen war -und sich dessen wohl bewusst. Früh bedeutet in Brinkmanns Erinnerung: Ende der sechziger Jahre. Damals, im Sommersemester 1969, begann Kotzias an der Universität Gießen Volkswirtschaftslehre zu studieren. Nach Angaben der Universität kamen im Laufe der Zeit andere Fächer hinzu, Soziologie, Politikwissenschaft, Philosophie. Brinkmann war Tutor, später wissenschaftlicher Mitarbeiter. Die beiden waren keine Todfeinde, aber doch Gegner.

Es war die Zeit der Studentenproteste. Brinkmann, Jahrgang 1942, war im Sozialistischen Deutschen Studentenbund, ein Anhänger der kritischen Theorie, von Leuten wie Adorno oder Marcuse. Kotzias hingegen war DKPist – ob organisiert oder nicht, kann Brinkmann nicht mehr sagen. Klar sei jedenfalls, dass er „für damalige studentische Verhältnisse ein gemäßigter Linksradikaler” war. Das bedeutet, Kotzias war nicht bei den sogenannten K-Gruppen, die sich direkt auf Mao und Stalin beriefen. Er verfolgte eine weichere, marxistisch-leninistische Linie. Dass sich Brinkmann in einem Büchlein gegen den Stalinismus gestellt hatte, reichte trotzdem aus, dass die beiden keinen persönlichen Kontakt hatten. Unter DKPisten habe damals Einigkeit geherrscht, dass man Veranstaltungen eines Tutors, der Moskau in den Rücken falle, schlicht nicht besuche.

Es gab aber auch so viele Gelegenheiten für Brinkmann, Kotzias zu erleben. Der war an der Universität, die damals nur ein paar tausend Studenten hatte, bekannt wie ein bunter Hund – offenbar aus zwei Gründen. Zum einen fiel er nach Brinkmanns Erinnerung durch seine Intelligenz auf. Das Deutsche beherrschte er demnach sehr gut, wenn auch mit deutlichem griechischen Akzent. Er konnte Marx also im Original lesen. Und wer mehr Marx- oder Lenin-Zitate zum Besten geben konnte als die anderen, war in den Propagandaschlachten klar im Vorteil.

Auf den anderen Grund für Kotzias’ Prominenz, den Brinkmann nennt, käme man nicht unbedingt sofort, wenn man sich die jüngsten Fotos ansieht. Mit Gürtel enger schnallen ist da nicht viel. Aber in Gießen war er ein Frauentyp. Ein Womanizer? „Aber hallo”, sagt Brinkmann. „Er war auf dem erotischen Markt der Universität eine unschlagbare Aktie. Den hätten Sie bei den Teach-ins sehen müssen, wie da die Studentinnen leuchtende Augen bekamen.” Eine davon sei eine bildhübsche und dazu noch sehr intelligente Germanistin gewesen. Mit der kam Kotzias zusammen, und die heiratete er nach Brinkmanns Erinnerung auch. Der Grünen-Stadtrat, der auf eine Karriere als außerplanmäßiger Universitätsprofessor zurückblickt, wertet das als Hinweis, dass Kotzias auch ein Gefühl für das Musische und Literarische eigen sein müsse – „sonst wäre er nicht bei einer Germanistin gelandet”. Vielleicht hat aber auch der Hedonismus geholfen. Von Askese in der alltäglichen, vor allem abendlichen Lebenspraxis habe Kotzias wenig gehalten, sagt Brinkmann.

Dieser Tage ist Kotzias in Porträts auch als Technokrat beschrieben worden. Das fmdet Brinkmann schon in den frühen Jahren angelegt. Den DKPisten sei es immer um die Entfesselung der Produktivkräfte gegangen. Technik und Energieversorgung spielten dafür eine große Rolle. Wobei für die Leute um Kotzias klar gewesen sei: Russische Atomkraftwerke sind gut, die im Westen sind schlecht, und die aufkommende Ökologiebewegung ist ein besonders perfider Trick des Klassenfeinds zur Verwirrung der Köpfe.

Nach Angaben der Universität Gießen bekam Kotzias im November 1974 sein Ökonomie-Diplom ausgehändigt. Verlassen hat er die Uni erst nach dem Wintersemester 1977/78. Seither hatte Brinkmann nichts mehr von ihm gehört. Dabei war Kotzias seit Februar 1991 an der Universität Marburg Mitarbeiter in der „Forschungsgruppe Europäische Gemeinschaft”, im Jahr darauf hatte er an der hessischen Uni eine Gastprofessur. Aus dem Jahr 1995 gibt es einen Aufsatz von ihm: „Zur Renaissance nationaler Macht- und Interessenpolitik in der EU”. Der Text ist im Rahmen der Forschungsgruppe entstanden und lässt ahnen, mit wem es Deutschland und die EU jetzt zu tun bekommen.

Manche Passagen klingen fast, als wären sie von heute: „Diejenigen Kräfte, die in der EG über strukturelle Macht verfügen, wollen eine Politik durchsetzen, mit der sie – über die EG-Institutionen und Verträge – die Wirtschaftspolitik der schwächeren Länder deregulieren und diese gleich-zeitig als ‚Hinterhof’ im internationalen Wettbewerb beherrschen können.” Oder auch: „Einige Länder haben nur einen geringen Einfluss auf den Integrationsprozess. Anderen – stärkeren – Mitglied-staaten fällt hingegen die Rolle ,hegemonialer Spieler’ zu. Sie bestimmen die Spielregeln und zwingen den schwächeren Ländern be-stimmte Politikmodelle auf.”

Und schließlich: „Das Projekt einer neuen Spaltung der Union und Europas mit der Bildung eines festen Kerns würde den Sieg der ökonomischen Stärke und Macht Deutschlands über die ökonomisch und politisch schwächeren Partner beinhalten. In ihm artikuliert sich der Versuch von Teilen der Bonner Elite, im Bündnis mit einigen politischen Kräften in Paris – gleichsam vom Standpunkt eines ,Bismarck’schen Modells der Einigung um den Starken’ – die Gesamtinteressen Europas zu definieren.” Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAS) 1 Februar 2015