Ismail Beşikçi spricht in Wien : “Kurden sollten das Unmögliche verlangen”

16.02.2014 |  WIELAND SCHNEIDER  (Die Presse) – Wien –  Der türkische Soziologe Ismail Beşikçi fordert ein föderales kurdisches Gebiet in der Türkei und spricht darüber, wieso es bis heute keinen eigenen kurdischen Staat gibt.

Ismail Beşikçi ist ein freundlicher, älterer Herr, der mit leiser, bedächtiger Stimme spricht. Für das, was er sagt, was er geschrieben und welchen Preis er dafür gezahlt hat, verehren ihn Millionen Kurden als Helden. Beşikçi ist – ethnisch gesehen – Türke. Trotzdem tritt der linke Soziologe seit den Sechzigerjahren in seinen wissenschaftlichen Arbeiten vehement für ein Selbstbestimmungsrecht der Kurden ein. Dafür verbrachte er 17 Jahre seines Lebens in türkischen Gefängnissen. Die letzte Verurteilung wegen „PKK-Propaganda“ liegt erst drei Jahre zurück. Auf Einladung des Instituts für Kurdologie-Wien war Beşikçi zu Besuch in Österreich.

Die Presse: Im Nordirak besteht seit 2003 eine autonome Kurdenregion. Syriens Kurden kontrollieren ein eigenes Gebiet. Der türkische Staat verhandelt mit Abdullah Öcalan, dem inhaftierten Chef der Untergrundbewegung PKK. Sind die Kurden also politisch auf dem Vormarsch?

Ismail Beşikçi: Natürlich ist das eine positive Entwicklung. Aber ich will die Aufmerksamkeit darauf lenken, was Sache ist: In den 1920er-Jahren wurde Kurdistan geteilt. Es war, als wenn man das Skelett eines Menschen auseinandernimmt. Etwa 40 anerkannte Staaten der Welt zählen jeweils weniger als eine Million Einwohner. Meiner Beobachtung nach gibt es zirka 40 Millionen Kurden. Und obwohl sie so viele sind, wird ihnen nicht das Recht auf einen Staat zuerkannt. An der antikurdischen Haltung der internationalen Gemeinschaft hat sich seit den Zwanzigerjahren nichts verändert.

Aber die kurdischen Politiker haben ja meist nicht mit einer Stimme gesprochen.

Die Mächte, die in der Region Interessen haben, haben die Kurden immer gespalten und für ihre eigenen Ziele missbraucht. Der Iran, die Türkei, Syrien und der Irak unter Saddam Hussein hatten das Ziel, den Kurden keine Rechte zuzugestehen. Um Einigkeit zu erzielen, müssen die Vertreter der Kurden diese Tatsache in ihr Bewusstsein holen.

Der türkische Premier Recep Tayyip Erdoğan ist mit dem Präsidenten der Kurdenregion im Nordirak, Massud Barzani, in der türkischen Kurdenhochburg Diyarbakir aufgetreten – ein Fortschritt oder ein weiterer Versuch, die Kurden zu spalten?

Es liegt in der Verantwortung des jeweiligen kurdischen Anführers, wie er vorgeht. Mein Vorschlag ist: Wenn in einem Teil Kurdistans Verhandlungen mit externen Regierungen durchgeführt werden, sollten kurdische Anführer darauf achten, dass ihr Verhalten dem anderen kurdischen Teil keinen oder nur einen minimalen Schaden zufügt.

Was muss jetzt – nach Beginn der Friedensgespräche mit Öcalan – in der Türkei gemacht werden?

Die Kurden müssen ihren politischen Status quo verändern. Sie müssen eine ähnliche Konstruktion verlangen wie im Nordirak, wo es eine Autonomieregierung gibt, und wie im syrischen Teil Kurdistans, wo jetzt ähnliche Strukturen aufgebaut wurden.

Das heißt, Sie fordern auch in der Türkei eine autonome Kurdenregion?

Ich möchte in der Türkei eine Föderation mit einem kurdischen föderalen Teil.

Sollte das Fernziel ein eigener Kurdenstaat bleiben?

Man sollte Ihre Frage anders stellen: Warum gibt es bis heute keinen kurdischen Staat, obwohl Kurdistan so ein großes Land ist?

Die Türkei würde doch nie zulassen, dass sich ein Teil des Landes abspaltet. Wie soll das in der Realpolitik umgesetzt werden?

Die Kurden sollten genau das, was in der derzeitigen Realität nicht möglich ist, verlangen. Man redet bei einem Kurdenstaat immer von Separatismus. Dabei wurde aber Kurdistan separiert und zerteilt.

Haben Sie Sorge, dass in der Türkei erneut ein Prozess gegen Sie geführt werden könnte, für das, was Sie sagen?

Es gibt immer die Möglichkeit, dass gegen mich vorgegangen wird. Aber ich kapituliere nicht vor der Angst. Ich erzähle, was ich wissenschaftlich erforscht habe. Vor 40 Jahren durfte man in der Türkei das Wort Kurdistan nicht in den Mund nehmen. Durch das, was die Kurden durch ihren Kampf erreicht haben, kann man heute Kurdistan sagen.

Wie sind Sie als Türke dazu gekommen, sich so für die Kurden einzusetzen?

1961 wurde ich als Student in der Provinz Elaziğ Zeuge einer seltsamen Situation. Es hatte damals geheißen, in der Türkei gibt es nur Türken. Und dann sah ich dort, wie ein Dolmetscher zwischen dem Gouverneur und der lokalen Bevölkerung übersetzen musste – vom Türkischen ins Kurdische. Ich habe ab dann versucht, dieses gesellschaftliche Problem mit den Methoden der Wissenschaft zu untersuchen.