“IS bringt Kindern bei, Menschen abzuschlachten” / Von Falah Muradkhin (WADI GERMANY & IRAQ)
In den Kurdengebieten setzt sich Bürgerrechtler Falah Muradkhin für Flüchtlinge ein. Die Brutalität des Islamischen Staates ist so beängstigend, dass Menschen sofort fliehen, wenn IS näher rückt.
Falah Muradkhin: Unser Gebiet ächzt unter den Flüchtlingsmassen, die bei uns in den vergangenen Wochen Schutz gesucht haben. Alle Verfolgten der Region finden bei uns Zuflucht: von den Tausenden politischen Dissidenten aus dem Iran und der Türkei über die Flüchtlinge aus Syrien, zu den Christen und Schiiten aus Mossul und Sunniten aus der westirakischen Provinz Anbar, die nicht ins schiitische Bagdad fliehen konnten, den Schabak und Haqqa-Minderheiten und den Jesiden aus Sindschar. Jeder Bedrängte kommt nach Kurdistan! Mittlerweile leben Schätzungen zufolge 1,5 Millionen Flüchtlinge bei uns. Allein die Bevölkerung unserer Hauptstadt Arbil hat sich verdoppelt.
Die Welt: Wenn es die Menschen in Sicherheit schaffen, wie ergeht es ihnen dann?
Muradkhin: Ihr Zustand ist katastrophal. Die Flucht ist für alle schrecklich, egal ob Christen oder Muslime. Am schlimmsten aber trifft es die Jesiden. Sie gehörten schon immer zu den ärmsten Bevölkerungsgruppen, lebten als einfache Bauern in der Sindschar-Region und gingen ihrer Religion nach. Viele von ihnen waren noch nie in einer Stadt außerhalb ihres Dorfes. Selbst wenn wir sie humanitär versorgen können, so ist es für sie eine Katastrophe, dass sie von ihrer Heimatregion abgeschnitten sind. Den Islamisten gelten sie als Teufelsanbeter und deshalb werden sie noch skrupelloser und brutaler verfolgt als Christen oder andere Muslime.
Die Welt: Wie erleben Sie die psychische Situation der Flüchtlinge?
Muradkhin: Die Menschen sind völlig traumatisiert, weinen die ganze Zeit. Eine der wichtigsten Kampfstrategien der IS-Milizen ist das Verbreiten von Angst, und darin sind sie sehr erfolgreich. Vor allem für Frauen ist ihr Vormarsch extrem beängstigend. Die Dschihadisten setzen Vergewaltigungen systematisch als Waffe ein. In Mossul und Sindschar haben sie 500 Frauen und Mädchen entführt und heute haben sie angefangen, Fotos von ihren Vergewaltigungen zu veröffentlichen.
Die Welt: Die Enthauptungen verbreiten sie auch sehr öffentlichkeitswirksam.
Muradkhin: Genau. Und wenn jetzt ein Dorf hört, dass die IS-Terrormiliz zu ihnen vordringt, fliehen die Menschen sofort zu uns. Sie wissen, wie skrupellos und brutal die Dschihadisten sind, und haben deshalb furchtbare Angst vor ihnen, haben Angst um ihre Frauen und Kinder. Diese Angst ist eine der wichtigsten Waffen von IS. Wir sehen, dass IS sogar Kindern beibringt, Menschen abzuschlachten, und diese Brutalität ist so beängstigend, dass die Menschen sofort fliehen, wenn IS näher rückt.
Die Welt: Bei Wadi setzen Sie sich besonders für die Stärkung von Frauenrechten ein. Wie erleben Sie die Frauen, die vor IS geflohen sind?
Muradkhin: Gestern traf ich eine junge Frau, die Vergewaltigungen durch IS-Terroristen überlebt hat, und sie sagte, dass sie nicht mehr leben möchte, weil es eine solche Schande sei. Ich versuche, den Frauen zu erklären, dass sie Opfer geworden sind und dass sie nichts dafür können, was ihnen widerfahren ist, aber es ist nicht einfach für sie, das zu akzeptieren.
Die Welt: Haben Sie Angst, dass IS in die Kurdengebiete vordringen könnte?
Muradkhin: Das hat wenig mit Angst zu tun, es wäre fast unsere Realität geworden. Hätten die US-Luftstreitkräfte nicht mit den Luftschlägen begonnen, wären wir den Dschihadisten zum Opfer gefallen. Wir hätten die Gebiete alleine nicht halten können.
Die Welt: Was wird jetzt akut benötigt? Und was langfristig?
Muradkhin: Wir brauchen internationale Hilfe, humanitär und vor allem militärisch. Wir brauchen Waffen, neue Waffen, denn die Dschihadisten sind gut ausgerüstet. Der Westen muss verstehen, dass dieser Krieg ein internationaler Krieg ist, ich würde sagen, es ist der dritte Weltkrieg, denn die Dschihadisten bekommen Geld, Waffen und Kämpfer aus allen Teilen der Welt. Nur wir stehen alleine da! Wir sind die letzte verbliebene progressive Bastion in der Region, die Trutzburg gegen den Terror und brauchen jetzt militärische Hilfe bei der Verteidigung unseres Lebens und der Leben derer, die zu uns geflohen sind.
Die Welt: Deutschland diskutiert ja auch gerade, ob Militärhilfe geleistet werden soll.
Muradkhin: Das ist sehr wichtig! Deutschland hatte nie ein Problem damit, Saddam Hussein und andere Despoten in der Region zu unterstützen. Ich hoffe sehr, dass sie jetzt als Wiedergutmachung uns helfen werden oder in Zukunft zumindest mit Diktaturen wie dem Iran keine Geschäfte mehr machen.