GIFTGAS, FOLTER, MORD – Die Wahrheit über Assads Krieg gegen sein eigenes Volk
> > > English version: The truth about Assad’s war on Syria
Ein BILD-am-SONNTAG-Report von Katharina Windmaißer und Yasser al-Haji (Text), Christian Spreitz (Fotos) – Es sind Zahlen, die nicht die Kraft haben, die Hölle auf Erden zu beschreiben: 240 000 Syrer sind seit Beginn des Aufstandes gegen Präsident Bashar al-Assad im März 2011 gestorben, unter ihnen mehr als 12 000 Kinder.
Sie starben, als der Diktator nach internationalem Kriegsrecht verbotene Fassbomben auf Schulen, Wohngebiete und Marktplätze werfen ließ. Sie wurden totgefoltert in seinen Gefängnissen, weil sie demonstrierten. Sie wurden niedergestreckt von seinen Snipern, als sie Brot kaufen wollten. Syrien liegt in Trümmern, ist aufgesplittet in Gebiete mit unterschiedlichen Machtverhältnissen.
Und während die Welt im Moment auf eine Macht schaut, die radikalen Islamisten von ISIS, verlieren wir die täglichen Opfer der Mordmaschinerie Assads aus den Augen. Unsere Reporter haben Syrer befragt, die jahrelang selbst Teil des Assad-Regimes waren. Sie erzählen, wie Kinder vor den Augen ihrer inhaftierten Väter vergewaltigt werden, wie man sie zwang, falsche Totenscheine für Folteropfer auszustellen und wie Assad sein Volk immer noch mit Chemiewaffen vergiftet. Drei Jahre nach Obamas berühmter Rote-Linie-Rede. Es sind erschütternde Augenzeugenberichte, die vor allem eine Frage aufwerfen: Warum sehen wir tatenlos zu?
Als der Gerichtsmediziner Dr. Abed Tawab Shahrour (50) den blauen Müllbeutel öffnet, denkt er noch: „Bitte nicht schon wieder ein Kind.“ Doch in dem provisorischen Leichensack in der Pathologie des Universitätskrankenhauses von Aleppo liegt der kleine Hadi Zahrour, die Lippen dunkelviolett, das Gesicht verzerrt im Todeskampf. Auf der Stirn des toten Jungen klebt ein Post-it. Per Hand hat jemand die Zahl 2160 darauf geschrieben. „Braune Augen, heller Hauttyp, unter zehn Jahre alt. Tod durch Inhalation giftiger Substanzen“ wird später in einem achtzeiligen Bericht über Nummer 2160 stehen. Mehr bleibt nicht in den Akten von dem dunkelhaarigen Kind. Zu viele Opfer liegen auf den Tischen hier im Leichenschauhaus von Diktator Bashar al-Assad (49).
Der kleine Hadi starb bei einem Giftgasanschlag in Khan al-Assal. Auf seine Stirn klebten die Pathologen ein Post-it mit der Nummer 2160Foto: privat
Dr. Shahrour war damals, 2013, Chefpathologe der Universitätsklinik von Aleppo. Das Foto des toten Kindes hat er heimlich mit seinem Nokia 5130 aufgenommen. „Ich habe es aufgehoben, um der Welt später sagen zu können, was meinem Volk geschehen ist“, sagt der Arzt.
Er ist einer von vier Zeugen, die BILD am SONNTAG getroffen hat. Keiner von ihnen ist ein Revolutionär der ersten Stunde. Ihre Posten konnten sie nur als brave Mitglieder von Assads Baath-Partei bekommen. Zu Beginn der syrischen Revolution arbeiteten sie für das Regime, bis sie angesichts der Gräueltaten unter Lebensgefahr die Seiten wechselten. Sie haben dadurch sich selbst und Familienmitglieder in Gefahr gebracht, ihre Existenz verloren und mussten ihre Heimat verlassen.
Dr. Abed Tawab Shahrour (50) war Chefpathologe an der Uniklinik in Aleppo, obduzierte mehr als 3000 KriegsopferFoto: Christian Spreitz / Bild am Sonntag
Wir treffen Dr. Shahrour in der Türkei, wohin er geflohen ist. Der Arzt erzählt uns vom 19. März vor zweieinhalb Jahren, dem Tag, als Hadi vom fröhlichen Schuljungen zu einer Nummer in den Todes-Registern von Assad wurde. In Khan al-Assal, einem kleinen Vorort von Aleppo, wurden neben Hadi bei einem Giftgasanschlag gegen sieben Uhr morgens mindestens 13 weitere Menschen getötet, rund 120 verletzt. Sieben Monate sind an jenem Frühlingstag vergangen seit der berühmten „Rote-Linie-Rede“ von Barak Obama. Darin hatte der US-Präsident ein militärisches Eingreifen angekündigt, sollte Assad weiter Giftgas gegen sein eigenes Volk einsetzen.
Weitere fünf Monate später sterben in Ghouta bei Damaskus bis zu 1700 Menschen bei einem Angriff mit dem Nervengift Sarin, zahlreiche weitere folgten – bis heute. Die gesandten UN-Inspektoren konnten angeblich nicht hinreichend belegen, wer für die Angriffe verantwortlich war, nach Khan al-Assal ist die Abordnung gar nicht erst gefahren. „Aus Sicherheitsgründen“, heißt es in dem Abschlussbericht.
Drei Jahre nach Obamas Rede liegt Syrien in Trümmern. Wöchentlich werden weiterhin Kriegsverbrechen verübt, fallen nach internationalem Kriegsrecht verbotene Fassbomben auf Schulen, Wohngebiete und Marktplätze.
Der ehemalige Chefpathologe Dr. Shahrour kann nicht verstehen, wieso niemand den Diktator stoppt: „Ich wurde nach meiner Flucht am 14. November 2013 nach Den Haag zum internationalen Gerichtshof geladen. Ich habe eine Stunde lang ausgesagt über all die Massaker, die ich bezeugen kann. Mehr als 3000 Opfer von kaltblütigen Morden habe ich gesehen. Alle starben einen sinnlosen Tod. Ich habe in Den Haag den Polizeibericht des Regimes über die Giftgasattacke in Khan al-Assal überreicht, den ich gestohlen und unter meinem Hemd aus Syrien herausgeschmuggelt habe. Man kann noch die Ränder auf dem Dokument sehen, die mein Angstschweiß hinterlassen hat. In dem streng geheimen Bericht schreibt das Regime selbst, dass mehrere Zeugen an jenem Morgen der Giftgasattacke Kampfjets am Himmel über Khan al-Assal sahen. Nur das Regime verfügt über Kampfjets. Aber niemand wollte von mir wissen, wer für die Giftgasattacke verantwortlich war.
Auf dem geheimen Polizeireport sieht man noch die Ränder, die der Angstschweiß von Dr. Shahrour hinterlassen hat, als er das Dokument unter seinem Hemd aus Syrien herausschmuggelteFoto: Yasser Al-Haji
Die UN wollten nur erfahren, ob wirklich Chemiewaffen eingesetzt wurden. Natürlich wurden sie. Ich habe blau angelaufene Körper gesehen, Menschen mit Schaum vor dem Mund, sie sind qualvoll erstickt. Unsere Pfleger erlitten ebenfalls Vergiftungen, als sie die Körper anfassten, einen mussten wir wiederbeleben.
Ich habe Bodenproben genommen in Khan al-Assal, einen toten Vogel und Zigaretten eingesammelt, Kleidung der Toten analysiert. Wo sind diese Belege geblieben? Ich habe sie dem Staatsanwalt von Aleppo übergeben. Niemand hat mit mir abgeglichen, was davon in dem Bericht der Assad-Regierung an die UN übrig geblieben ist. Ich bezweifle, dass es meine kompletten Analysen sind, denn nach allem, was ich gesehen und untersucht habe, ist das Regime dafür verantwortlich.
Nahe des Einschlagsortes der Rakete ist eine Militärbasis des Regimes. So viele Zivilisten wurden vergiftet, kein einziger Soldat Assads starb. Haben sie Gasmasken benutzt? Alles nur ein Zufall? Ich habe die Toten und Verletzten gesehen. Da war kein Soldat, da waren Frauen, Kinder und Männer im Schlafanzug. Wie kann das sein? Warum hat die UN das nicht interessiert?
Wissen Sie, wie es sich anfühlt, wenn mal wieder einer der Lastwagen mit Leichenbergen vor Ihnen entladen wird und Sie fürchten: Dieses Mal sind es meine Kinder, die verbrannt, ohne Hände, ohne Füße, ohne Kopf hier liegen werden? Zwei Pflegern an der Uni ist das passiert. Ihre Schreie werde ich nie im Leben vergessen.
An manchen Tagen habe ich Leichensäcke mit drei rechten Händen und einem Torso bekommen. Wo waren die anderen Körper?“
Der Pathologe Dr. Shahrour hat mit seinem Handy Fotos von Opfern aufgenommen und sie BamS gegeben. Er hat sie heimlich und unter Lebensgefahr fotografiert, um der Welt später zeigen zu können, was seinem Volk widerfahren istFoto: Privat
Dr. Shahrour zeigt uns auf seinem Handy weitere Bilder grausam zugerichteter Leichen, manchen Opfern wurde der Mund mit Plastikstreifen zugebunden, anderen quillt Gehirnmasse aus dem Kopf. Alle haben eine Nummer auf der Stirn kleben.
„Ich habe im Studium gelesen, was im Zweiten Weltkrieg passiert ist. Nie im Leben hätte ich damit gerechnet, dass ich etwas Ähnliches jemals in meiner Arbeit dokumentieren muss, nie hatte ich mir ausgemalt, dass so etwas noch einmal auf der Welt geschehen wird. Ich habe Frauen gesehen, die zurechtgemacht waren für ihre Hochzeitsnacht. Ihr Körper war unversehrt, ihre Köpfe eingeschlagen, nur noch eine blutige Masse. Ich habe meine Jacke über ihr Gesicht gelegt, es war ein unerträglicher Anblick. Allein diese Gefühlsregung hätte mich schon den Kopf kosten können. Die letzten 40 Jahre haben wir Syrer Steuern bezahlt, damit Assad Waffen kaufen kann. Jetzt richtet er diese Waffen gegen uns. Es ist eine Tragödie.“
Weil der Gerichtsmediziner nicht schwieg, wurden seine Brüder verhaftet. Einer saß drei Monate im berüchtigten Foltergefängnis „Palestine Branch“ in Damaskus. Assads Schergen haben ihm Haare und Zähne ausgerissen, die Hände gebrochen. Dr. Shahrour zeigt uns ein Foto seines Bruders kurz nach der Haftentlassung. Wir sehen einen älteren Herrn in Unterhosen. Auf einer Kopfhälfte fehlen Haare, die Hände hängen merkwürdig verformt von den Armen. http://m.bild.de/storytelling/topics/syrien/giftgas-folter-mord-die-wahrheit-ueber-assads-krieg-in-syrien-42100624,variante=M.bildMobile.html