GEZI PARK RÄUMUNG : DER AUTHENTISCH-UMFASSENDE AUGENZEUGENBERICHT

„Krieg gegen Demonstranten“ Türkische Polizei räumt Gezi-Protestlager

16.06.2013 ·  Karen Krüger – Istanbul – Die türkische Polizei hat gestern Abend mit massiver Gewalt den Gezi-Park geräumt. In Istanbul und anderen Städten hielten die Ausschreitungen die ganze Nacht an.

In Ankara, Istanbul und in zahlreichen anderen Städten der Türkei ist es in der vergangenen Nacht abermals zu massiven Ausschreitungen der Polizei gegen Demonstranten gekommen, deren Ausmaß alles bisher Gesehene bei weitem übertrifft. Anders als noch zu Beginn der Proteste brach die Gewalt diesmal in mehreren Städten nahezu gleichzeitig aus. Am späten Nachmittag hatte der türkische Ministerpräsident Erdogan in Ankara vor mehreren Tausend Anhängern eine aufwieglerische Rede gehalten, in der er die Besetzer des Gezi-Parks abermals als extremistische Gruppierungen bezeichnete. Sie schändeten Moscheen, seien vom Ausland ferngesteuert und verfolgten mit ihrem Protest das Ziel, der türkischen Wirtschaft zu schaden. Erdogan sagte, egal, ob der Gezi-Park leer sei oder nicht, die Sicherheitskäfte wüssten, wie man ihn räumt. Gegen 23 Uhr, nachdem die Polizei in Ankara die Demonstranten angegriffen hatte, versendeten Aktivisten dort über Twitter zahlreiche Hilferufe an die ausländische Presse.

In Istanbul griff die Polizei kurz nach 21 Uhr den Gezi-Park an. Das Töpfeschlagen, mit dem die Istanbuler seit Ausbruch der Revolte Solidarität für die Demonstranten zeigen, war da gerade verklungen. Wenige Minuten, nachdem die Polizei die Leute dazu aufgefordert hatte, den Park zu verlassen, begann sie mit dem Tränengasbeschuss. Zu diesem Zeitpunkt befanden sich mehrere tausend Menschen im Gezi-Park, unter ihnen viele Familien mit kleinen Kindern, da am frühen Abend verschiedene Kunstaktionen dort stattgefunden hatten und für 22 Uhr eine Filmvorführung geplant war. Die Polizisten verbrannten die Zelte der Besetzer, zerstörten ihre provisorischen Behausungen und trieben die Leute durch Tränengasbeschuss in den hinteren Teil des Parks, wo es kaum Flüchtmöglichkeiten gibt. Auch das anliegende Divan-Hotel, das die Besetzer des Gezi-Parkes mit Wasser und Essen versorgt hatte und in dem die Demonstranten eine Erste-Hilfe-Station eingerichtet hatten, wurde mit Tränengas beschossen.

Zahlreiche Menschen aus dem Gezi-Park flüchteten sich in das Foyer des Divan-Hotels, unter ihnen auch die Grünen-Politikerin Claudia Roth, die gestern die Demonstranten im Gezi-Park aufgesucht hatte und dort von dem Angriff der Polizei überrascht worden war. Die Polizisten folgten den Flüchtenden ins Hotel und schossen Tränengas ins Foyer. Ali Koc, der Besitzer des Divan Hotels,  untersagte seinen Angestellten daraufhin, der Polizei die Türen weiterhin zu öffnen und drohte damit, jeden zu entlassen, der sich seiner Anweisung widersetzt. Die ihm unterstehende Unternehmergruppe Koc ist eine der größten Holdings der Türkei. Auch in das nahe gelegene Hilton-Hotel drang die Polizei bei der Verfolgung der unbewaffneten Demonstranten ein. Da sich zahlreiche von ihnen auch in das Deutsche Krankenhaus nahe des Taksim-Platzes geflüchtet hatten, schoss die Polizei Tränengas in dessen Einfahrt. Um die Wasserwerfer zu stoppen, legten sich  mehrere Demonstranten unter die Fahrzeuge. Die Fahrer von Sammeltaxis errichteten am Taksim-Platz mit ihren Autos Straßenbarrikaden, um das weitere Vorrücken der Polizei zu verhindern. Zahlreiche Schulen, Nachtclubs und eine Kirche öffneten ihre Tore, um den Demonstranten Schutz zu bieten. Ärzte, die Erste-Hilfe leisteten, verschickten Warnungen über Twitter, dass das Wasser der Wasserwerfer mit einer chemischen Substanz versetzt sei, die zu Verbrennungen ersten Grades führte. Türkische Menschenrechtsorganisationen riefen dazu auf, Fotos, Filme, und Kleidungsstücke, auf denen Spuren der Gewalteinwendungen zu sehen sind, zu sammeln und ihnen zuzuführen.

Über Stunden hinweg kam es auch auf der zum Taksim-Platz führenden Einkaufsstraße Istiklal Caddesi zu massiven Tränengasbeschuss und zum Einsatz von Wasserwerfern. Die Polizei versuchte auf diese Weise zu verhindern, dass Leute den Taksim-Platz erreichen. Aufgerüttelt durch die Gewalt, hatten sich nämlich in vielen Stadtteilen Tausende auf den Weg gemacht und versuchten, zu Fuß zum Taksim-Platz zu gelangen. Da der öffentliche Stadtverkehr samt der Bosporusfähren mit Beginn des Polizeieinsatzes eingestellt worden war, liefen Hunderte über die Bosposrusbrücke in Richtung europäische Seite der Stadt, wurden aber noch auf der Brücke kurz nach Mitternacht von der Polizei gestoppt und gegen 3 Uhr morgens mit Tränengas beschossen. Der Europaminister Egemen Bagis teilte mit, dass jeder, der sich zum Taksim-Platz begebe, als Terrorist eingestuft werde.

Ähnlich wie schon am ersten Wochenende der Proteste, berichteten einzig die türkischen Fernsehsender Halk TV und CNN Türk kontinuierlich von den Ereignissen. Die übrigen machten weiter mit ihrem normalen Programm oder behaupteten, die Räumung des Gezi-Parks sei ohne größere Zwischenfälle verlaufen. Der Gouverneur von Istanbul, Hüseyin Avni Mutlu, sagte kurz vor Mitternacht in einer Presseerklärung, dass abgesehen von den extremistischen Gruppierungen im Gezi-Park alle Leute der Aufforderung der Polizei unmittelbar gefolgt seien, das Gelände zu verlassen. Mutlu sagte: „Wir müssen uns alle an die Gesetze halten“. Weiterhin sagte er, die Polizei verhalte sich „sehr sensibel“, besonders gegenüber gewaltbereiten Gruppen. Und während die Ausschreitungen der Polizei noch anhielten, behauptete er, es habe bei dem Einsatz lediglich 44 Verletzte gegeben. Allein im Ilk Yardim Krankenhaus nahe des Taksim-Platzes zählte man zu diesem Zeitpunkt schon 78 Verletzte.

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