Frankfurter Anthologie : Hans Magnus Enzensberger: „Weitere Gründe dafür, daß die Dichter lügen“

  • Von Ulrich Greiner FAZ – 30.09.2022

Seit Platon ist der Vorwurf in der Welt, aber stimmt es wirklich, dass alle Dichter unaufrichtig sind? Hier spricht ein Dichter in eigener Sache – und zugleich, obwohl er es gar nicht will, auch für viele andere.

Die Gedichte Enzensbergers sind selten das, was der Lyrikfreund gerne „poetisch“ nennt.

Goethes „Röslein auf der Heiden“ liegt ihnen ebenso fern wie Georges „schimmer ferner lächelnder gestade“. Es sind zumeist Lehrgedichte, Gedankengedichte, Thesengedichte, und dieses hier diskutiert eine ziemlich alte, ewig aktuelle Frage, ob nämlich die Sprache – und damit Literatur überhaupt – zur Wahrheit imstande ist.

Hans Magnus Enzensberger: „Weitere Gründe dafür, daß die Dichter lügen“

Weil der Augenblick
in dem das Wort glücklich
ausgesprochen wird,
niemals der glückliche Augenblick ist.
Weil der Verdurstende seinen Durst
nicht über die Lippen bringt.
Weil im Munde der Arbeiterklasse
das Wort Arbeiterklasse nicht vorkommt.
Weil, wer verzweifelt,
nicht Lust hat, zu sagen:
„Ich bin ein Verzweifelnder.“
Weil Orgasmus und Orgasmus
nicht miteinander vereinbar sind.
Weil der Sterbende, statt zu behaupten:
„Ich sterbe jetzt“,
nur ein mattes Geräusch vernehmen läßt,
das wir nicht verstehen.
Weil es die Lebenden sind,
die den Toten in den Ohren liegen
mit ihren Schreckensnachrichten.
Weil die Wörter zu spät kommen,
oder zu früh.
Weil es also ein anderer ist,
immer ein anderer,
der da redet,
und weil der,
von dem da die Rede ist,
schweigt.