Ein täglicher Horror, der von Pazifisten ignoriert wird Von Budour Hassan,

15. September 2013 – Einer der vielleicht grausamsten Aspekte des Krieges, den das syrische Regime gegen seine Bevölkerung führt, ist sein Erfolg dabei, den Tod zu „normalisieren“ und die Welt gegenüber seinen entsetzlichen Massakern abzustumpfen. Hinter der sechsstelligen Zahl der Todesopfer verlieren sich die verbrannten Gesichter und unfassbaren Geschichten der Märtyrer, aber auch das Leiden, dass sie alle zurücklassen.

Ein syrischer Aktivist drückte es so aus: „Eine Sache, die ich Bashar al-Assad nie verzeihen werde, ist die Tatsache, dass er uns die Möglichkeit genommen hat, um unsere Freunde und Märtyrer zu trauern.“ Da der massenhafte Tod nach zweieinhalb Jahren zu einem schrecklichen Normalfall geworden ist, wurde für die meisten Syrer die Trauer um die Getöteten zu einem Luxus, den sie sich nicht mehr leisten können.

Die Dehumanisierung der Syrer

Die Debatte um den Chemiewaffenangriff vom 21. August zeigt auf besonders schmerzliche Weise, wie die Syrer geradezu entmenschlicht werden. Die Internationale Gemeinschaft, die Mainstreammedien und die Kriegsgegner haben letztlich die Opfer nur als Nebensächlichkeit wahrgenommen. Das tägliche rote Blut der syrischen Kinder, die vom Regime und seinen Milizen mit konventionellen Waffen abgeschlachtet werden, ist nicht schockierend genug für all jene westlichen Regierungen, die eine „rote Linie“ hinter den Gebrauch von Chemiewaffen und die Interessen Israels gezogen haben. Der syrische Autor und frühere politische Häftling Yassin al-Haj Saleh beklagte unlängst in einem offenen Brief zurecht, dass sich die aktuelle Diskussion lediglich um die Chemiewaffen dreht – weder ginge es um den Kriminellen, der diese Waffen benutzt hat, noch um die Menschen, die derart ermordet wurden, geschweige denn um die noch viel größere Anzahl von Todesopfern durch konventionelle Waffen.

Der Mainstream der Medien hat dem syrischen Volk seine Stimme und Handlungsfähigkeit geraubt und stattdessen die syrischen Revolution zu einem „Bürgerkrieg“ zwischen zwei „Bösen“ erklärt: Ein säkularer Diktator gegen fleischfressende, bärtige Islamisten. Nirgends sieht oder hört man von der erstaunlichen Auflehnung und von der öffentlichen Solidarität, die diese Revolution entgegen aller Erwartungen noch immer am Leben hält; von dem unerschrockenen Kampf gegen den repressiven „Islamischen Staat im Irak und Syrien“ [Dawlat al-ʾIslāmiyya fi al-‘Iraq wa-l-Sham (ISIS), al-Qaida-Gruppe mit hohem Anteil ausländischer Kämpfer, Anm.], der in großen Teilen des „befreiten“ Nordens Syriens herrscht; oder von den fortwährenden Initiativen und Protesten des Volkes gegen das Regime und die islamischen Extremisten.

Währenddessen gilt für viele Koalitionen von Kriegsgegnern offenbar noch immer die Devise: „Krieg ist Frieden und Ignoranz ist Stärke“. Sie führen abgedroschene und falsche Dichotomien als Fakten auf, um dafür zu argumentieren, dass alle Rebellen „Terroristen“ seien und Assad nicht allein gegen den „Imperialismus“ kämpft, sondern jetzt auch gegen den „Terrorismus“. Dass Assad dagegen in den letzten 30 Monaten einen konfessionellen Großangriffskrieg gegen syrische Zivilisten führte, gilt dabei kaum noch. Dass sein Regime systematisch friedliche und säkulare Aktivisten inhaftieren ließ und al-Qaida-nahe Terroristen aus den Gefängnissen entließ, zählt noch weniger. Und dass seit Beginn der Aufstände Tausende inhaftierte Syrer, unter ihnen Arbeiter, Kinder, unbewaffnete Demonstranten und zivile lokale Nachbarschaftsaktivisten, von dem Regime zu Tode gefoltert wurden, zählt offenbar überhaupt nicht.

In der Folter getötet

Daher wird diese „Antikriegs“–Bewegung wohl aktuell auch eines der letzten Folteropfer ignorieren: Khaled Bakrawi, ein 27 Jahre alter palästinensisch-syrischer Gemeindeaktivist und Mitbegründer der Jafra Foundation for Relief and Youth Development. Khaled wurde bereits im Januar 2013 von den Sicherheitskräften des Regimes aufgrund seiner führenden Rolle in der Organisation und Durchführung von humanitärer Hilfe im palästinensischen Flüchtlingscamp Yarmouk in Damaskus verhaftet. Am 11. September 2013 haben nun die Yarmouk-Lagerkoordination und die Jafra Foundation bekannt gegeben, dass Khaled in einem der vielen berüchtigten Geheimdienstkeller zu Tode gefoltert wurde.

Khaled wurde im Yarmouk-Camp, einem südlichen Vorort von Damaskus, geboren und wuchs dort auch auf. Seine Familie wurde 1948 im Zuge der Nakba [arabisch: „Katastrophe“] von der israelischen Besatzungsmacht aus dem ethnisch gesäuberten palästinensischen Dorf Loubieh vertrieben. Noch am 5. Juni 2011 hatte Khaled am sogenannten „Rückkehrmarsch“ zu den israelisch besetzten Golanhöhen teilgenommen. Er wurde Zeuge der Politik von Ahmad Jibrils PFLP-GC, einer regimetreuen palästinensischen Miliz. Die Gruppe hatte den Patriotismus und Enthusiasmus der Jugendlichen in Yarmouk ausgenutzt und sie zu diesem Marsch ins besetzte Palästina angestiftet. Die Aktion war ein gezielter Versuch, um Assads Popularität unter den Jugendlichen zu stärken sowie von dem heraufziehenden Zusammenbruch und der überwältigenden friedlichen Revolution abzulenken. Khaled sah die brutale Reaktion der israelischen Besetzungsarmee kommen und versuchte die unbewaffneten Jugendlichen davon abzubringen in die israelisch besetzte Waffenstillstandszone einzudringen – leider vergeblich. So war er gezwungen mitzuerleben, wie die syrischen Regimesoldaten an ihrem Tee nippten und gleichgültig zuschauten, als israelische Soldaten die syrischen und palästinensischen Demonstranten mit Kugeln durchlöcherten. Dutzende wurden bei dieser Protestaktion verletzt oder getötet. Khaled selbst wurde von zwei Kugeln in den Oberschenkel getroffen.

Beleidigende Versachlichung

Einer von Khaleds Freunden, der ihn daraufhin im Krankenhaus besucht hat, erinnert sich noch gut daran, wie Khaled in Tränen ausbrach, als er Blumen und eine Karte mit der Aufschrift bekam: „Wir sind stolz auf dich, du bist ein Held“. Für Khaled war das Gefühl, die Verletzung eines Menschen als Quelle für nationalistischen Stolz zu begreifen, einmal mehr Bestätigung dafür, was man eine beleidigende Versachlichung nennen kann. Hier liegen die wesentlichen Gründe für den Ausbruch des Aufstandes: Die Rückeroberung der individuellen und kollektiven Würde, die über vier Jahrzehnte lang von einem Regime zertreten wurde, das die syrische Bevölkerung nur als minderwertige Gegenstände oder Werkzeuge betrachtete.

Von der falschen Kugel getötet

Viele derjenigen, die Khaled Bakrawi nach den Schusswunden von israelischen Soldaten zum Helden erklärt hatten, schwiegen zu seinem Foltertod in den Kerkern des Regimes. Kein einziges Wort des öffentlichen Beileids wurde ausgesprochen. Weder die PLO noch andere palästinensische politische Gruppen haben den Mord an einem der prominentesten, sympathischsten und engagiertesten Aktivisten des Yarmouk-Camps verurteilt. Auch die Morde an drei weiteren palästinensischen Aktivisten innerhalb von fünf Tagen, die ebenfalls in Polizeihaft starben, löste im offiziellen palästinensischen Establishment keinen Protest aus. Es scheint so zu sein, als sei ein Palästinenser nur dann der Bezeichnung als „Märtyrer“ würdig, wenn er von den zionistischen Besatzern getötet wurde. Das Pech zu haben, ein Opfer des „antiimperialistischen“ und „widerständigen“ Assad-Regimes zu werden, macht den Mord akzeptabel und das Opfer der Solidarität unwürdig.

Aus dieser Logik hat auch die Volksfront zur Befreiung Palästinas (PFLP) es versäumt, dem palästinensischen Flüchtling und Märtyrer Anas Amara jegliche Form von Anerkennung zu bekunden. Anas Amara war ein 23 jähriger Jura-Student, er lebte in Yarmouk und war seit seinem neunten Lebensjahr ein Aktivist der PFLP. Anas war ein revolutionärer Kommunist, der sich von der bürgerlichen Linken distanziert hatte und an der syrischen Revolution seit ihrem ersten Aufflammen aktiv teilnahm. Er kam im April dieses Jahres während eines Überfalls des Regimes in der Nähe des eingekreisten Yarmouk-Lagers ums Leben. Auch er, so muss man wohl sagen, wurde von der „falschen Kugel“ getötet. Sein Tod rief bei all jenen, die behaupten die Verfechter der palästinensischen Sache zu sein, keinerlei Empörung hervor.

Betäubende Stille

Die betäubende Stille, die sowohl vonseiten der palästinensischen Führung, als auch der UNRWA [UN-Hilfswerk für Palästina-Flüchtlinge im Nahen Osten] über die Notlage der palästinensischen Flüchtlinge in Syrien herrscht, überrascht leider nicht besonders. Seit Juli 2013 befindet sich Yarmouk, das größte Flüchtlingslager Syriens, unter erdrückender Belagerung der syrisch-arabischen Armee. Den 70.000 in Yarmouk eingeschlossenen Zivilisten wurde der Zugang zu Strom und Essen verwährt. Manche sind sogar gezwungen Hunde zu essen, um zu überleben. Trotz zahlreicher Appelle der Bewohner von Yarmouk und syrischer Aktivisten, die humanitäre Katastrophe abzuwenden und die Belagerung zu beenden, bleiben die palästinensische Führung und die UNRWA bis heute eine Antwort schuldig.

Ebenso wenig werden die Appelle von palästinensischen Gruppen in Syrien gehört, die palästinensischen Inhaftierten aus den Gefängnissen des Regimes zu befreien. Wie ihre syrischen Brüder und Schwestern blicken auch sie dem Tod ins Auge. Aber als ob die kollektive Bestrafung – die willkürlichen Verhaftungen, die umbarmherzige Besatzung – und die dauerhafte Bombardierung noch nicht genug wären, müssen Palästinenser und Syrer auch noch an einer anderen Front kämpfen: Islamistische Extremisten haben am 12. September Wassim Meqdad, einen Aktivisten, Musiker und einer von nur zwei Ärzten im Yarmouk-Camp, entführt.

Kriegsverbrechen

Bündnisse und Organisationen, die behaupten sich für Frieden und Menschenrechte einzusetzen, aber die vom syrischen Regime begangenen Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit nicht eindeutig verurteilen, sind nicht tatsächlich Friedensbewegung. Die eigentliche Bedeutung des Begriffs „Frieden“ ist längst ausgehöhlt – von all jenen Kriegstreibern, die behaupten, dem Frieden zu Liebe zu handeln. Natürlich ist es ein Begriff, der in einer ethisch edlen Position jedem Krieg gegenübersteht. Aber diese Position des Friedens verarmt schlagartig im moralisch und politischen Sinn, wenn das syrische Regime und das iranisch-russische Eingreifen nicht explizit abgelehnt werden und man nicht die Seite der Syrischen Volksrevolution im Kampf für Freiheit und Würde wählt. Es ist zynisch und von einer dunklen Ironie, wenn Antikriegsgruppen kein Wort über die tödliche Folter an über 2.000 syrischen politischen Gefangenen verlieren, während sie gemeinsam mit syrischen Regime-Unterstützern und rechten Islamophoben gegen eine mögliche Intervention der USA in Syrien demonstrieren. Wenn diese pazifistischen Gruppen – völlig zu Recht – ihre westlichen Regierungen für deren Heuchelei anprangern, sollten sie sich aber auch eine Sekunde Zeit nehmen, um über ihre eigene Scheinheiligkeit nachzudenken, die syrische Revolution vom ersten Tag an im Stich gelassen zu haben – lange vor ihrer militärischen Eskalation. Es ist in diesem Zusammenhang empfehlenswert, mal wieder George Orwells „Notes on Nationalism“ zu lesen, denn viele dieser lautstarken Antikriegsaktivisten würden in die nationalistische Pazifismuskategorie passen, die Orwell wie folgt kritisiert:

„Unter den intellektuellen Pazifisten gibt es eine Minderheit, deren eigentliches Motiv – ohne dass sie das zugeben würden – ein Hass auf die westliche Welt und eine Begeisterung für den Totalitarismus zu sein scheint. Die pazifistische Propaganda lässt sich normalerweise mit der Aussage zusammenfassen, dass die eine Seite genauso böse ist wie die andere. Wenn wir uns aber die Artikel junger intellektueller Pazifisten genauer ansehen, finden wir dort nicht die unparteiische Ablehnung der Gewalt, sondern stellen fest, dass sie sich fast vollständig gegen Großbritannien und die USA richten. Sie gehen sogar so weit, nicht die Gewalt als solche zu verurteilen, sondern verurteilen nur Gewalt, die zur Verteidigung des Westens angewandt wird.“

Im Fall Syrien bemühen sich nicht wenige Pazifisten darum, ihre Positionen durch Binsenweisheiten über Frieden und Neutralität zu verschleiern; oder aber sie konzentrieren ihre Energie darauf, sich gegen einen möglichen US-Krieg in Syrien einzusetzen, während sie dagegen den eigentlichen, vom syrischen Regime geführten, Krieg dulden. Diese selbsternannten „antiimperialistischen“ Pazifisten halten an ihrem Prinzip der Nichtintervention nur gegen eine westliche Militärintervention in Syrien fest, da sie nichts über die iranische oder russische Beteiligung sagen, die aktuell weitaus sichtbarer und aggressiver ist. Es ist natürlich nachvollziehbar, dass die Ablehnung der Missstände im eigenen Land und damit auch der eigenen Regierung eine Priorität hat, aber das rechtfertigt nicht die Unterstützung eines genozidalen Regimes, indem dessen Verbrechen bagatellisiert werden und man dem heldenhaften Kampf der syrischen Bevölkerung die kalte Schulter zeigt. Dabei sind es genau jene Kämpfe gegen den Totalitarismus – woran eigentlich kein „Linker“, der seinen Namen verdient, erinnert werden müsste – die neue Fronten hervorbringen im weitaus größeren Kampf für eine globale Menschheit, die unter dem Stiefel und der Demütigung all dessen lebt – und stirbt.

Übersetzung: Viktoria Bechstein (medico international)

 
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