Dokumentation: Das KCK Verfahren Istanbul beginnt

Demokratisches Türkeiforum (DTF) – Meldungen im Juli 2012 – Die folgenden Nachrichten wurden im Juli 2012 vom DTF erfasst (übersetzt). Für externe Links wird keine Verantwortung bezüglich des Inhalts und der Dauerhaftigkeit übernommen.

Vor dem Auftakt des Verfahrens gegen die Union der Gemeinschaften Kurdistans (Koma Civakên Kurdistan = KCK) vor einem Sondergericht in Istanbul, in dem 193 Personen angeklagt sind, versuchte die Tageszeitung Radikal vom 01.07.2012 einen Überblick über die bisherige Entwicklung zu geben. Die Operationen (Verhaftungswellen) begannen am 14. April 2009 mit 53 Festnahmen. Wie viele Personen seitdem festgenommen worden, ist unklar. Der Justizminister sagte im Februar dieses Jahres, dass 1.100 Personen von Festnahmen und Verhaftungen betroffen seien, während die BDP von mehr als 7.000 Festnahmen sprach[1] Haftbefehle sollen bisher gegen 1.951 Personen ausgestellt worden sein.[2

Die Anklageschrift in Istanbul umfasst 2.400 Seiten. Neben dem Verfahren gegen 193 Angeklagte werden in Istanbul weitere Verfahren gegen Anwälte (36 von ihnen in Haft) und Journalisten folgen. Als Letztes wurden in der vergangenen Woche 72 Gewerkschafter festgenommen, von denen 28 in U-Haft kamen. Derzeit befinden sich aus einzelnen Gruppen die folgende Anzahl von Personen in U-Haft:

ñ6 Abgeordnete (wurden nach der Verhaftung gewählt)

ñ111 Vertreter von Organisationen der zivilen Gesellschaft

ñ36 AnwältInnen

ñ111 Mitarbeiter der Presse

ñ326 Bürgermeister und Mitarbeiter der Stadtverwaltung

ñ512 Funktionäre der BDP

ñ800 Mitglieder der BDP

ñ6 Dorfvorsteher

ñ28 Gewerkschafter

Die Prozesseröffnung

Von der Eröffnung des Prozesses in Istanbul berichteten u.a. Bianet und Radikal vom 2. und 3. Juli 2012. Laut Bianet hat sich die Zahl der Angeklagten durch das Zusammenlegen mit anderen Verfahren auf 205 erhöht. Laut Radikal befinden sich 140 von ihnen in Untersuchungshaft. Die Angeklagten wurden von den Zuschauern mit dem Ruf in Kurdisch “berxwedane jiyane” (Widerstand bedeutet Leben) begrüßt. Der Vorsitzende Richter Ali Alçık sagte, dass Rufen und Applaudieren in der Sitzung verboten sei.

Die Angeklagten Kudbettin Yazbaşı und Mümtaz Aydeniz wollten die Feststellung ihrer Personalien in Kurdisch machen lassen, aber der Richter unterband dies. Dagegen protestierte der Vorsitzende der Anwaltskammer Diyarbakir Mehmet Emin Aktar mit den Worten, dass es kein ordentliches Verfahren gebe, wenn eine Sprache, die 20 Millionen Menschen in der Türkei sprechen, nicht zugelassen werde. Die Anwältin Meral Danış Beştaş beantragte, dass das Gericht auf nicht zuständig erkennen solle, da es hier um das demokratische Recht einer politischen Partei gehe (BDP), Politik zu betreiben. Andere Anwälte beantragten die Beiziehung von Dolmetschern. Daraufhin wurde die Sitzung unterbrochen.

Am Nachmittag wurde die Verhandlung fortgeführt. Im Namen aller Angeklagten führte das BDP Mitglied Barış Özgüneş aus, warum sie sich in Kurdisch verteidigen wollten. Der Staatsanwalt beantragte, dass die bisher gestellten Anträge der Angeklagten und der Verteidigung abgelehnt werden. Um 15 Uhr wurde die Verhandlung erneut unterbrochen. Als das Gericht um 16.45 Uhr verkündete, dass alle Anträge abgelehnt seien, verließen die Verteidiger den Saal. Danach wurden die Personalien von Prof. Dr. Büşra Ersanlı und weiteren 13 Angeklagten, die Türkisch sprachen, aufgenommen, nicht aber die Personalien der Angeklagten, die Kurdisch sprachen. Am folgenden Tag soll mit der Verlesung der 2.400 Seiten umfassenden Anklageschrift begonnen werden.

 

Der 2. Verhandlungstag

In dem Bericht in Bianet vom 03.07.2012 auf Angaben der Anwältin Gülvin Aydın. Das Gericht schloss Beobachter, darunter der CHP Abgeordnete Sezgin Tanrıkulu vom Verfahren aus. Als Vertreter der Verteidigung nahm der Anwalt Feyzi Çelik teil und fragte das Gericht, ob es einen Beschluss gebe, die Öffentlichkeit vom Verfahren auszuschließen. Der Vorsitzende Richter Ali Alçık verneinte dies und sagte, dass das Publikum aus dem Saal verwiesen wurde, weil es die Ordnung gestört habe.

Nach der Mittagspause wurde mit der Verlesung der Anklageschrift durch einen Sprecher der staatlichen Rundfunk- und Fernsehanstalt TRT fortgefahren. Er verlass eine 133-seitige Zusammenfassung der 2.400 Seiten umfassenden Anklageschrift. Als das Gericht zwei Anwälten das Wort verweigerte, drehten sich die Angeklagten aus Protest mit dem Rücken zur Richterbank. Das Verfahren wurde auf den 5. Juli 2012 vertagt.

 

Die erste Unterbrechung

Nach der 8. Sitzung legte die 15. Kammer für schwere Straftaten in Istanbul eine erste größere Pause ein. Wie u.a. Radikal vom 13.07.2012 meldete, entschied das Gericht außerdem 16 der 140 Untersuchungshäftlingen zu entlassen. Unter ihnen war auch Prof. Dr. Büşra Ersanlı, die sich seit dem 1. November 2011 in U-Haft befunden hatte. Die Namen der anderen freigelassenen Angeklagten sind: Kemal Karagöz, Kazım Şeker, Büşra Beste Önder, Canşah Çelik, Erdoğan Baysan, Medeni Demirkapu, Zekiye Ayık, Cüneyt Özil, Birgül Arvas, Suna Varsak, İbrahim Ethem Yıldız, Mehmet Sııdk Kumek, Uğur Taşdemir, Nizamettin Özmen und Mustafa İpek. Die Verhandlungen werden zwischen dem 1. und 9. Oktober 2012 weitergehen.

 

Das KCK Verfahren gegen AnwältInnen

Am 16. Juli 2012 begann vor der 16. Kammer für schwere Straftaten in Istanbul das Verfahren gegen 50 Angeklagte, 46 von ihnen AnwältInnen, von denen sich 36 in Untersuchungshaft befinden. Darüber berichtete u.a. Bianet vom 16.07.2012. Die Anklageschrift in diesem Verfahren umfasst 892 Seiten. Neben vielen Vertretern von Anwaltskammern in der Türkei, die sich als Verteidiger gemeldet hatten, waren auch internationale Beobachter anwesend, die jedoch nicht als Verteidiger zugelassen wurden. Neben der Nationalen Anwaltskammer von Frankreich hatte auch die Anwaltskammer Berlin eine Delegation geschickt.

Den Angeklagten wird vorgeworfen, innerhalb der KCK ein “Komitee der Führung” (tr: Önderlik Komitesi) gebildet zu haben. Als Gründer und Leiter des Komitees (einer bewaffneten Organisation) fordert die Anklageschrift gegen Cengiz Çiçek, İbrahim Bilmez, Ömer Güneş, Faik Özgür Erol, Hatice Korkut, Emran Emekçi und den Berater Cengiz Kapmaz eine Strafe zwischen 15 und 22,5 Jahren Haft. Für die anderen Angeklagten, darunter auch der ehemalige Abgeordnete Mahmut Alınak werden Haftstrafe von 7,5 bis 15 Jahren Haft als Mitglieder einer bewaffneten Organisation gefordert. Zu den 50 Angeklagten gehören neben dem Journalisten Cengiz Kapmaz auch die Sekretärin des Rechtsbüros des Jahrhunderts (tr: Asrın Hukuk Bürosu) und zwei Fahrer.

Am ersten Verhandlungstag nahm nach einer Meldung in Radikal vom 16.07.2012 die Rede des angeklagten Anwalts Doğan Erbaş einen breiten Raum ein. Er sprach im Namen aller Angeklagten und sagte, dass sie die AnwältInnen des verehrten Abdullah Öcalan seien. Daher sei das Verfahren ein Eingriff in die Beziehung von Anwälten mit ihren Mandanten. Dieser müsse unbedingt im Verfahren gehört werden.

Nach einer Meldung in Radikal vom 19.07.2012 ordnete das Gericht nach dem 3. Verhandlungstag die Freilassung von 9 der 36 U-Häftlinge an. Neben dem ehemaligen Abgeordneten Mahmut Alınak waren dies: Yaşar Kaya, Mehmet Nuri Deniz, Veysel Vesek, Cemo Tüysüz, Osman Çelik, Aydın Oruç, Hüseyin Çalışçı und Haksan Sadak. Die Verhandlung wurde auf den 6. November 2012 vertagt.

Unterdessen lehnte die 6. Kammer für schwere Straftaten in Diyarbakir im zentralen Verfahren gegen die KCK die Freilassung von 20 Personen, darunter gewählte Abgeordnete mit der Begründung eines intensiven Verdachts und der zu erwartenden Strafe von 15 Jahren Haft ab. Das berichtete Radikal vom 18.07.2012. Die Verteidigung hatte u.a. die Freilassung von der Abgeordneten für Şırnak, Selma Irmak, dem Abgeordneten für Van, Kemal Aktaş, dem Bürgermeister von Batman, Nejdet Atalay, dem ehemaligen Vorsitzenden des IHD in Diyarbakır, Muharrem Erbey, dem Bürgermeister im Stadtteil Yenişehir, Fırat Anlı und dem Bürgermeister von Şırnak, Ahmet Ertak beantragt.

Inhaftierte Studenten

In einer Kolumne fragt der Journalist Özgür Mumcu in Radikal vom 02.07.2012, wie viele Studenten in der Türkei inhaftiert seien. Während der Justizminister Sadullah Ergin von 209 inhaftierten Studenten gesprochen habe, sei der Verein der zeitgenössischen Juristen und der Abgeordnete Hüseyin Aygün zu dem Schluss gekommen, dass es mehr als 500 sein müssten. Nun hat die Initiative zur Solidarität mit inhaftierten StudentInnen (tr: Tutuklu Öğrencilerle Dayanışma İnisiyatifi = TÖDİ) in der letzten Woche eine Liste mit 771 inhaftierten Studenten veröffentlicht. In dem Bericht wird auch festgestellt, dass 2.110 StudentInnen aufgrund disziplinarischer Ermittlungen vom Studium ausgeschlossen wurden.

Neues Verfahren gegen Ahmet Şık

Unter anderem berichtete CNN Türk vom 03.07.2012 von einem neuen Verfahren gegen Ahmet Şık, das wegen seiner Worte, die er nach seiner Entlassung vor dem Gefängnis sprach eröffnet wurde. In der Anklageschrift werden 39 Staatsanwälte und Richter, die in den Ergenekon Verfahren tätig sind, als Geschädigte aufgeführt und es wird eine Strafe zwischen 3 und 7 Jahren Haft wegen “Drohungen” gegen und “Beleidigung” von Staatsbediensteten gefordert. Ahmet Şık hatte nach seiner Entlassung gesagt: “Diejenigen Polizisten, Staatsanwälte und Richter, die hinter diesem Komplott stecken, werden hinter Gittern wandern. Erst dann wird es Gerechtigkeit geben.” Wenn die 2. Strafkammer von Silivri die Anklageschrift angenommen hat, kann das Verfahren beginnen.

Wiederum CNN Türk vom 04.07.2012 berichtete über die Veröffentlichung eines neuen Buches von Ahmet Şık mit dem Titel “Pusu” (Hinterhalt). In dem vom Verlag Postacı heraus gegebenen Buch mit dem Untertitel “Die neuen Besitzer des Staates” versucht der Autor Antworten auf die Frage zu geben, welche/s Dokument/e er beim Schreiben des Buches “Die Armee des Imam” suchte, wie ihn dieses Dokument zur Zielscheibe machte und ob es dennoch gelang, dieses Dokument zu veröffentlichen. In dem Buch geht es auch um seine Erlebnisse im Gefängnis und Kommentare zu den vermeintlichen Beweismittel im Verfahren gegen OdaTV (in dem der Autor angeklagt ist.[3]

Grundsatzurteil zu mehrsprachigen Schildern

Laut einer Meldung in Radikal vom 05.07.2012 hat das Verfassungsgericht beschlossen, dass Funktionäre der BDP nicht persönlich bestraft werden können, wenn sie Schilder in Türkisch und Kurdisch aufhängen. Damit hat das Gericht erklärt, dass die Bestimmung aus dem Parteiengesetz, die den Gebrauch einer anderen als der türkischen Sprache verbietet, nur für die Partei nicht aber für einzelne Personen gilt. Das Verfahren war eröffnet worden, nachdem der Vorsitzende der BDP im Kreis Özalp (Provinz Van), Yakup Almaç vor dem dortigen Strafgericht angeklagt worden war, nachdem er vor einem Jahr vor dem Büro der BDP ein Schild in Türkisch und Kurdisch aufgehängt hatte. Das Gericht hatte das Verfassungsgericht angerufen und vorgebracht, dass der Artikel 117 des Parteiengesetzes nicht mit der Verfassung vereinbar sei.

Schon im Januar dieses Jahres hatte das Verfassungsgericht entschieden, dass der Artikel 117 des Parteiengesetzes nicht verfassungskonform sei und gleichzeitig angeordnet, dass die Rechtskraft 6 Monate nach Veröffentlichung im Amtsblatt in Kraft trete. In dem Urteil war bemängelt worden, dass das Gesetz nicht deutlich formuliert sei, so dass es für die Politiker nicht vorhersehbar sei, welcher Akt strafbar sei und welcher nicht.

Neben dem Verfahren in Özalp sind weitere Verfahren von der Entscheidung betroffen: so ein Verfahren in Ağrı, Kreis Doğubeyazıt (6 Angeklagte mit einem geforderten Strafmaß von 6 Monaten bis 20 Jahren Haft), in Diyarbakır sind Funktionäre der ESP angeklagt, weil sie ein Schild zur Unterstützung des zweisprachigen Lebens aufgehängt hatten, in Mardin, Kreis Midyat war ein Schild in den Sprachen Türkisch, Kurdisch, Assyrisch und Mahalmi (lokaler Dialekt der arabischen Sprache) aufgehängt worden.

Bilanz des ersten Halbjahres für den Südosten

Wie die Nachrichtenagentur Firat vom 08.07.2012 berichtete hat der Menschenrechtsverein in Diyarbakir zusammen mit den Zweigstellen in Van, Hakkari, Batman, Urfa, Mardin, Siirt, Adıyaman, Antep, Elazığ, Malatya, Bingöl, Muş und Bitlis einen Bericht zu Verletzung der Menschenrechte in dieser (kurdischen) Region für die ersten 6 Monate im Jahre 2012 herausgegeben. Dabei wurden u.a. folgende Zahlen angegeben:

ñBei bewaffneten Auseinandersetzungen starben 56 Angehörige der Sicherheitskräfte und 122 Militante der PKK

ñ16 Zivilisten fielen Morden unerkannter Täter, extra-legalen Hinrichtungen zum Opfer oder starben bei Gefechten

ñEs wurden 2.675 Personen festgenommen, von denen 1.006 in U-Haft kamen

ñEs gab 398 Vorwürfe von Folter oder Misshandlung

ñEs wurden 632 Publikationen konfisziert oder verboten

ñin 40 Fällen wurde es verboten, das Vieh auf Hochweiden oder anderen Orten weiden zu lassen

13 Anti-Terror-Gerichte für 11 Gebiete

Nach einer Meldung in Radikal vom 12.07.2012 wurden in 11 Orten 13 neue Kammer für schwere Straftaten geschaffen, die sich nach den Änderung an Artikel 10 des Anti-Terror-Gesetzes (ATG) um die Verfahren kümmern sollen, die bislang von Kammern für schwere Straftaten bearbeitet wurden, die nach dem inzwischen abgeschafften Artikel 250 der Strafprozessordnung (StPO) zuständig waren.[4] Für diese Gerichte wurden je ein Vorsitzender und zwei Beisitzer (im Status Richter), sowie 80 Staatsanwälte (11 davon stellvertretende Oberstaatsanwälte) ernannt. Von den 145 Juristen, die an diese Gerichte berufen wurden, waren 41 zuvor an den nach Artikel 250 StPO zuständigen Gerichten tätig.

Die Orte und jeweiligen Kammern (für schwere Straftaten) sind wie folgt:
Adana (10. Kammer), Ankara (13. Kammer), Antalya (5. Kammer), Bursa (6. Kammer), Diyarbakır (8. und 9. Kammer), Erzurum (4. Kammer), İstanbul (22. und 23. Kammer), İzmir (12. Kammer), Malatya (4. Kammer), Samsun (3. Kammer) und Van (5. Kammer).

Die Gerichtsorte und Provinzen, für die sie zuständig sind (bei Straftaten, die in diesen Provinzen begangen werden und unter das ATG fallen).[5]

Adana Ankara Antalya Bursa Diyarbakır Erzurum İstanbul İzmir Malatya Samsun Van
Adana Ankara Antalya Bursa Diyarbakır Erzurum İstanbul İzmir Malatya Samsun Van
Aksaray Bartın Afyon Balıkesir Batman Ağrı Edirne Aydın Adıyaman Amasya Bitlis
Gaziantep Bolu Burdur Bilecik Bingöl Ardahan Kırklareli Denizli Elazığ Çorum Hakkâri
Hatay Çankırı Isparta Çanakkale Mardin Artvin Kocaeli Manisa Maraş Giresun Muş
Karaman Düzce Konya Eskişehir Siirt Bayburt Sakarya Muğla Sivas Ordu  
Kilis Karabük   Kütahya Urfa Erzincan Tekirdağ Uşak Tunceli[6] Sinop  
Mersin Kastamonu   Yalova Şırnak Gümüşhane     Tokat    
Niğde Kayseri       Iğdır          
Osmaniye Kırıkkale       Kars          
  Kırşehir       Rize          
  Nevşehir       Trabzon          
  Yozgat       Tunceli[7]          
  Zonguldak                  

 

 

Bildliche Darstellung:

An Gerichtsorten hinzu gekommen sind: Antalya, Bursa und Samsun. Allem Anschein nach bleiben die Sondergerichte (die nach Artikel 250 StPO zuständigen Gerichte) an den bisherigen Orten bestehen. Die Gebiete (Provinzen), für die sie zuständig sind, wurden am 24.03.2005 im Beschluss Nr. 188 des Hohen Rates für Richter und Staatsanwälte exakt so festgelegt, wie sie zuvor an den Staatssicherheitsgerichten (SSG) gegolten hatten. In den meisten Orten mit Sondergerichten gibt es (gab es) jeweils nur ein solches Gericht (eine Kammer). In Van wurden die 2005 bestehenden zwei Kammern des SSG zu Kammer 3 und 4 (für schwere Straftaten) umbenannt. In Izmir wurde das SSG die 8. Kammer für schwere Straftaten (später wurde hier eine weitere Kammer 10 mit Sonderbefugnissen ausgestattet). In Diyarbakir wurden anstelle der vier Kammern des SSG die Kammern 4-7 für schwere Straftaten eingerichtet. In Istanbul wurden aus den sechs Kammern des SSG die Kammern 9-14 für schwere Straftaten. Hier kamen später die Kammern 15-17 hinzu (vgl. hierzu Fußnote 6 in den Meldungen im August 2011). In Ankara war neben der 11. Kammer noch eine 12. Kammer für schwere Straftaten mit den Sonderrechten des Artikel 250 StPO ausgestattet worden.

Beförderung eines Folterers

Wie u.a. Today’s Zaman vom 22.07.2012 berichtete, wurde der Polizeidirektor[8] Sedat Selim Ay zum stellvertretenden Leiter der Abteilung zur Bekämpfung von Terrorismus im Polizeipräsidium Istanbul ernannt, obwohl sein Name in mindestens zwei Verfahren als Angeklagter wegen Folter an Gefangenen genannt worden war. Today’s Zaman nennt ein Verfahren aus dem Jahre 1996, wo er verurteilt wurde, die Strafe aber zur Bewährung ausgesetzt wurde. Deshalb habe der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte die Türkei verurteilt und den Gefolterten eine Entschädigung von je 10.000 Euro zugesprochen.[9]

In einem zweiten Verfahren soll Sedat Selim Ay zu den Angeklagten gehört haben, denen Folter im Jahre 1997 vorgeworfen wurde. Die Staatsanwälte hätten aber kein Verfahren eröffnet. Deshalb habe der EGMR die Türkei wegen einer Verletzung des Artikel 3 aus prozessualer Hinsicht (ungenügende Ermittlungen) verurteilt. Zu den Opfern habe Asiye Güzel gehört, die ihre Erlebnisse in einem Buch veröffentlicht habe, so Today’s Zaman.[10]

Bianet vom 25.07.2012 berichtete von einer parlamentarischen Anfrage des CHP Abgeordneten Sezgin Tanrıkulu[11]. Er fragte darin den Innenminister İdris Naim Şahin, aus welchem Grunde ein Beamter, der zwei Mal für eine Verurteilung der Türkei durch den EGMR gesorgt habe, in die Anti-Terror Abteilung von Istanbul versetzt wurde. Sezgin Tanrıkulu wollte auch wissen, ob das Ministerium eine Untersuchung plane oder durchgeführt habe, in denen es um die Beamten ging, die für Verurteilungen durch den EGMR verantwortlich seien und wie viele dieser Beamten befördert wurden.

Radikal vom 28.07.2012 berichtete, dass es weitere zwei Verfahren gebe, in denen Sedat Selim Ay als Folterer beschuldigt wurde. Es wurde aber nur ein Verfahren genannt. Hier sei es um die Folter an Ali Haydar Saygılı gegangen. Er war am 9. Dezember 1996 festgenommen worden. Neben Sedat Selim Ay waren drei weitere Beamte angeklagt. Sie wurden später freigesprochen, weil das Gericht der Meinung war, dass die “blauen Flecken” nicht in der Haft entstanden seien. Der EGMR sprach dem Geschädigten im Jahre 1996 eine Entschädigung von 5.000 Euro zu.[12]

Die Meldung in Radikal präsentierte auch eine Stellungnahme der obersten Polizeidirektion der Türkei, in der behauptet wurde, dass die Verfahren und Ermittlungen gegen Sedat Selim Ay einer Beförderung nicht im Wege stünden. Er habe keine vom Kassationshof bestätigte Strafe erhalten und die Verfahren vor dem EGMR sollen sich nicht auf Aktionen des Beamten bezogen haben. Hier habe eine Frau ohne medizinisch attestierte Verletzungen neun Monate nach dem Vorfall falsche Beschuldigungen aufgestellt, die in ein Urteil mündeten, das wegen mangelnder Ermittlungen zu einer Verurteilung führte.[13]

Von der Erklärung der obersten Polizeidirektion berichtete auch Sabah vom 27.07.2012. Hier wurde zusätzlich bemerkt, dass es bei einem Personal von 260.000 schon einmal zu Fehlverhalten kommen könne. Diese Vorwürfe würden jedes Mal sorgfältig untersucht. Seit Anfang 2011 (in anderthalb Jahren) habe es keinen Vorfall von Folter oder Misshandlung gegeben, der zu einer Entlassung von Beamten geführt hätte, es habe jedoch 15.330 Disziplinarstrafen gegeben und 495 Beamten seien vom Dienst suspendiert worden.

Als weiteres Detail ging die Erklärung der Polizeidirektion auch darauf ein, dass der Sicherheitsdirektor Ay als Kommissar in der Anti-Terror Abteilung des Polizeipräsidiums İstanbul in den Jahren 1996 und 1997 an vielen Operationen gegen die Marxistisch-Leninistische Kommunistische Partei (MLKP = Marksist Leninist Komünist Partisi) beteiligt war und dafür gesorgt habe, dass viele Verdächtige, die an Bombenattentaten auf öffentliche Einrichtungen, aber auch Erschießungen von Polizisten und Zivilisten beteiligt waren, dingfest gemacht wurden. Von diesen Personen seien die Beschwerden über Folter und Misshandlung gekommen, die aber zu keiner Verurteilung führten. In Bezug auf den Vorwurf einer Vergewaltigung habe die Staatsanwaltschaft in Fatih im Oktober 2000 die Ermittlungen eingestellt und Staatssekretäre des Ministerpräsidiums seien 2002 zu den Schluss gekommen, dass es keine Vergewaltigung gegeben habe.

Das Demokratische Türkeiforum hatte in einem Sonderbericht aus dem Jahre 2003 Folterer weiter im Dienst schon einmal auf diesen (und andere) Polizeibeamten hingewiesen. Siehe auch den Wochenbericht 31/2004, wo darüber berichtet wurde, dass die 8. Kammer des Kassationshofs ein Urteil über 11 Monate und 20 Tage Haft gegen Bayram Kartal, Yusuf Öz, Erdogan Oguz und Sedat Selim Ay aufhob, weil sie für jede gefolterte Person (im Verfahren waren neun Opfer namentlich benannt) gesondert bestraft werden sollten. Im Wochenbericht 46/2004 ging es um das erneute Verfahren vor der 7. Kammer für schwere Straftaten in Istanbul. Hier wurde die Zahl der Opfer mit 14 angegeben. Entgegen der Vorgabe des Kassationshofs wurden Bayram Kartal, Yusuf Öz, Erdogan Oguz und Sedat Selim Ay wieder zu 11 Monaten und 20 Tagen Haft verurteilt und die Strafen wurden (erneut) zur Bewährung ausgesetzt.

Ein Verfahren, das in den Zeitungsberichten nicht auftauchte, bezieht sich auf die Foltervorwürfe von İbrahim Çiçek, Ali Hıdır Polat, Delil İldan, Hacı Orman, Füsun Erdoğan, Birol Paşa, Hakkı Mıhçı, Ali Ocak und Doğan Şahin. Sie waren am 15. März 1996 festgenommen worden. Am 16 Mai 1997 hatte die Staatsanwaltschaft sieben Beamten, darunter auch Sedat Selim Ay angeklagt. Das Verfahren gegen die Folterer hatte am 26. September 1997 in Istanbul begonnen und ging am 25. September 2002 (einen Tag vor Ablauf der Bewährungsfrist) vor der 7. Kammer für schwere Straftaten in Istanbul zu Ende. Selim Sedat Ay und vier seiner Kollegen wurden zu 14 Monaten Haft verurteilt. Die Haftstrafe wurde in eine Geldstrafe verwandelt.[14]

Auch der Tod des Gewerkschafters Süleyman Yeter am 7. März 1999 kann in diesem Zusammenhang gesehen werden. Hier wurden zwar andere Polizeibeamte (Ahmet Okuducu, Mehmet Yutar und Erol Ersan) angeklagt, aber die Festnahme war ebenfalls wegen angeblicher Mitgliedschaft in der MLKP erfolgt. Süleyman Yeter war zudem unter den Personen, die sich wegen Folter im Jahre 1996 beschwert hatten. In dem Verfahren Yeter v. Turkey (33750/03) hatte das EGMR am 13. Januar 2009 auf eine Verletzung von Artikel 2 (Recht auf Leben) und Artikel 3 EMRK entschieden.[15]

Demokratisches Türkeiforum e. V.
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Spendenkonto: DTF, Postbank Hamburg, PLZ 200 100 20, Konto-Nr. 0741 864 205

Das Demokratische Türkeiforum e.V. (DTF) setzt sich seit der Gründung 1990 für die Einhaltung der Menschenrechte und für Demokratie in der Türkei ein. Das DTF ist die deutsche Unterstützergruppe der Menschenrechtsstiftung der Türkei (TIHV). Spenden an das DTF werden praktisch zu 100% an die TIHV weitergeleitet.

Seit ihrer Gründung hat die TIHV mehr als 12.000 Folteropfer kostenlos behandelt. Behandlungszentren existieren in Ankara, Istanbul, Izmir, Adana und Diyarbakir. Das Dokumentationszentrum in Ankara gibt tägliche Berichte über Verletzungen der Menschenrechte in Türkisch und Englisch heraus und erstellt daraus Jahresberichte. Die Homepage des DTF wird als Sicherungskopie vieler dieser Dokumente genutzt.

 

 

[1]             Im Sonderbericht des DTF: Verfahren gegen die Union der Gemeinschaften Kurdistans kam das DTF im November 2011 zu einer Schätzung von 3.000 Festnahmen und 1.700 Haftbefehlen in ca. 30 Monaten.

[2]             Neben dem Sonderbericht hat das DTF mehrfach in seinen Monatsberichten von den KCK Verfahren berichtet. Dazu gehören die Meldungen im Oktober 2010, Meldungen im November 2010, Meldungen im September 2011, Meldungen im Oktober 2011, Meldungen im April 2012 und in dem Sonderbericht Einschränkung der Meinungsfreiheit in der Türkei (November 2011)

[3]             Zum Hintergrund des Verfahrens siehe auch Freilassung von Ahmet Şık und Nedim Şener und Das Verfahren gegen OdaTV sowie einen Artikel zu Anklagen wegen Mitgliedschaft in Ergenekon in einem privaten Wiki.

[4]             Details sind auf der Seite Reform der Gerichtsbarkeit beschrieben.

[5]             Um eine bessere Übersicht zu schaffen, wurden die Namen der Provinzen Afyonkarahisar als Afyon, Şanlıurfa als Urfa und Kahramanmaraş als Maraş abgekürzt. Die Tabelle und auch die Übersicht sind im Anhang zu einer Seite des Hohen Rates für Richter und Staatsanwälte in Form einer PDF-Datei zu finden.

[6]             ohne Pülümür

[7]             nur Pülümür

[8]             Es gibt neben oberhalb der Dienstgrade für Kommissare noch vier Stufen von Polizeidirektoren. Die Dienstgrade der Polizei sowie Einzelheiten zu Beförderungen sind in den entsprechenden Richtlinien, die das Kabinett 2001 verabschiedete und das durch Veröffentlichung im Amtsblatt am 10. August 2001 Rechtskraft erlangte, enthalten. Die türkische Wikipedia enthält 10 Kategorien in der Rangordnung, die sich jedoch alle auf der Generaldirektorat für Sicherheit beziehen.

[9]             Es wird sich hier um das Verfahren Erdogan Yilmaz und andere gegen die Türkei (Antrag Nr. 19374/03 handeln. In der Entscheidung vom 14. Oktober 2008 sah der EGMR eine Verletzung von Artikel 3 der Europäischen Konvention für Menschenrechte (Folterverbot) sowohl in grundsätzlicher als auch in prozessualer Hinsicht für gegeben an. Vgl. eine Nachricht in Bianet vom 15.10.2008 und die Presseerklärung abgedruckt vom Netherland Institute for Human Rights.

[10]           Siehe hierzu die Presseerklärung abgedruckt vom Netherland Institute for Human Rights für den Fall 71908/01, der am 5. Dezember 2006 entschieden wurde.

[11]           Ehemaliger Vorsitzender der Anwaltskammer Diyarbakir und Vertreter der TIHV in Diyarbakir, DTF

[12]           Das Verfahren Saygılı v. Turkey (No. 57916/00) wurde am 4. Mai 2006 entschieden. Siehe die entsprechende Presseerklärung. Das Gericht urteilte: “…the Court found it established that the injuries described in the medical report had originated in inhuman treatment for which Turkey bore the responsibility. Accordingly, the Court held, unanimously in both cases, that there had been a violation of Article 3.

[13]           Siehe hierzu auch einen Bericht bei Bianet vom 30.07.2012 unter dem Titel Police Defends Promotion of Staff Member Accused of Torture, Rape

[14]           Vergleiche eine Nachricht in Bianet vom 25.09.2002 und auch den Wochenbericht 37/2002 und Wochenbericht 39/2002. Auf den englischen Seiten des DTF sind Informationen auch im Jahresbericht 2002 zu finden.

[15]           Die Presseerklärung ist u.a. hier zu finden.