„DIESE CHARTA IST HEILIG“ – Das neue Syrien wird in Berlin gebaut (Aber erst nach Flughafen!)–

MESOPOTAMIA NEWS : FAKE AS FAKE CAN BE / BERLIN IM VERZÜCKUNGSMODUS

DIE WELT 20 März 2019 – Von Daniel-Dylan Böhmer

Würdenträger aller syrischen Volksgruppen setzen sich in Berlin zusammen und einigen sich auf eine Charta, um das Land zu versöhnen. Nach zweieinhalb Jahren Arbeit wagt der Rat den Schritt in die Öffentlichkeit. WELT liegt das Dokument vor.

„Für uns ist es ein großes Risiko, nach Berlin zu kommen“, sagt der ältere Herr. „Aber das ist es wert, weil wir hier klarmachen können: Wir sind alle Syrer.“ Der das sagt, ist Alawit. Angehöriger jener syrischen Volksgruppe, zu der auch Präsident Baschar al-Assad gehört, der Herrscher, in dessen Namen seit Beginn des Bürgerkrieges Hunderttausende Menschen getötet wurden.

Es waren vor allem Sunniten, die gegen Assad rebellierten, und sie dürften auch in der syrischen Bevölkerung die Mehrheit stellen. Nun, wo Assad dank einer umfangreichen russischen Militärintervention seine Hoheit in den meisten Teilen des Landes behauptet hat, könnte man denken, dass seine alawitischen Landsleute aufatmen.

Aber der ältere Herr ist alles andere als erleichtert: „Wo Sunniten getötet werden, trifft das auch uns. Weil es die Grundidee Syriens trifft. Wir müssen einen Weg finden, wie wir in Zukunft zusammenleben können.“ Darum ist er in die deutsche Hauptstadt gereist.

Was hier in Berlin geschieht, wird einmal historisch genannt werden, wenn es denn gut geht. Da setzen sich Würdenträger praktisch aller Volksgruppen Syriens zusammen und einigen sich auf eine Charta, die als Basis ihrer Koexistenz dienen soll – in einem friedlichen Syrien der Zukunft, aber auch zur Begrenzung und Mäßigung des Krieges, falls er denn weitergehen sollte.

Und sie gründen einen gemeinsamen Rat, der die syrische Bevölkerung der internationalen Gemeinschaft gegenüber repräsentieren soll: den Rat der Syrischen Charta. In ihm sind einige der größten sunnitischen Stämme Syriens vertreten, aber auch einflussreiche Scheichs der Alawiten und Vertreter praktisch aller anderen Ethnien in Syrien. Die Männer und Frauen, die sich hier vor der dunklen Holzvertäfelung eines historischen Berliner Gebäudes treffen, repräsentieren Zehntausende Menschen.

Einflussreich sind sie nicht, weil sie Staatsämter bekleiden, sondern weil sie als Vertreter führender Familien oder als Geistliche ein hohes gesellschaftliches Ansehen besitzen. Einige von ihnen leben im Exil, aber viele von ihnen kommen direkt aus Syrien. Das, und die Tatsache, dass viele Alawiten dabei sind, unterscheidet den Rat von allen anderen der zahlreichen Friedensinitiativen.Anzeige

Aber gerade für seine alawitischen Angehörigen ist die Mitarbeit in diesem Forum auch riskant. Denn der Anspruch, die syrische Bevölkerung zu repräsentieren, kann auch als Infragestellung Baschar al-Assads verstanden werden, der als Präsident aller Syrer auftritt. Darum möchten die alawitischen Vertreter, die aus Syrien nach Berlin gereist sind, nicht namentlich genannt werden. Was sie hier mit anstoßen, unterscheidet sich sehr von dem ethnischen Krieg, den Regime und Rebellen führen.

Im dritten der elf Artikel jener Charta, die sie mit Sunniten, Kurden, Christen, Ismailiten und Turkmenen beschlossen haben, stellen die Unterzeichner fest, dass es in Syriens Gesellschaft heute weder Sieger noch Besiegte gebe. „Dieser qualvolle Krieg hat nur Verlierer geschaffen, namentlich das syrische Volk in seiner Gesamtheit“, steht dort.

Keine der Kriegsparteien, so heißt es später, sei unschuldig, und alle Seiten müssten ihre Fehler eingestehen. Verbrechen aller Seiten während des Krieges müssten geahndet werden. Aber es dürfe niemals die eine oder andere Volksgruppe beschuldigt werden. Verantwortung trügen immer Einzelne.

Kontakte zu den Vereinten Nationen

Artikel VI beschreibt eine Wiedergutmachung, die sehr von der jetzigen Praxis der Assad-Regierung abweicht, die Immobilien geflohener Sunniten zu enteignen und Anhängern des eigenen Lagers zuzuschanzen. Jedes Eigentum, das seit Beginn der Kämpfe vor acht Jahren gestohlen worden sei, müsse zurückgegeben, jeder Schaden kompensiert werden.

Aber auch die Verbrechen gegen die Menschen in Syrien vor dem Krieg und währenddessen müssten aufgearbeitet werden, heißt es an anderer Stelle, keine Volksgruppe in Syrien dürfe die andere dominieren, und Artikel XI stellt die Gleichheit aller Syrer unabhängig von ihrer Herkunft fest. Spätestens an dieser Stelle berührt die Erklärung auch die Frage des zukünftigen Staatsaufbaus.

Bei den von den Vereinten Nationen in Genf organisierten Friedensverhandlungen soll auch über eine neue Verfassung für Syrien beraten werden. Hier möchten die Unterzeichner der Charta gehört werden. Zum Büro des UN-Sondergesandten für Syrien, Geir Pedersen, bestehen bereits Kontakte.

„Wir gehen Schritt für Schritt vor“, sagt Sima Abed Rabbo, die aus einer der einflussreichen sunnitischen Familien stammt und heute in den Vereinigten Arabischen Emiraten lebt. „Es war sehr wichtig, sich auf diese Grundstandards zu einigen. Jetzt wollen wir von der Theorie zur Praxis übergehen.“

Dazu gehöre der Schritt in die Öffentlichkeit, den der Rat nach zweieinhalbjähriger Vorarbeit wagt. Die Forderungen der syrischen Gesellschaft sollen endlich auch in den internationalen Verhandlungsrunden gehört werden, sagt Abed Rabbo, die in das dreiköpfige Sprecher-Gremium des Rates gewählt wurde. Die Charta soll auch in Syrien noch mehr Unterzeichner und Unterstützer finden. Damit sich in der Gesellschaft ein neuer Zusammenhalt verbreitet, während die Mächte noch pokern.

In einer ersten Erklärung, die dieser Tage veröffentlicht werden soll und die WELT in einer vorläufigen Fassung vorliegt, fordert der Rat einen neuen Gesellschaftsvertrag für Syrien. Die syrische Bevölkerung müsse gehört werden, ihre Ethnien, Familien, Religionsgemeinschaften, nicht nur Vertreter politischer und militärischer Kriegsparteien. Praktisch alle Angehörigen des Rates wünschen sich darüber hinaus langfristig einen Abzug ausländischer Kämpfer aus Syrien. Das wäre ein Schritt, der wiederum alle Seiten beträfe.

Auslandskämpfer müssten gehen

Russland müsste seine für die Erfolge des Regimes entscheidenden Truppen zurückrufen, ebenso wie der Iran seine Milizen, die für Assad kämpfen, etwa auch die libanesische Hisbollah. Aber auch aus der Türkei und den Golfstaaten finanzierte Auslandskämpfer auf sunnitischer Seite müssten gehen. Dass die internationale Einmischung ein wesentlicher Grund für das Ausufern des Krieges war, darin sind sich bei dem Berliner Treffen alle einig. Und darin, dass von Frieden in Syrien noch lange nicht die Rede sein kann.Anzeige

„Ich verstehe nicht, wieso westliche Medien schreiben, der Krieg sei so gut wie vorbei“, sagt der Rechtsanwalt Ibrahim Shahin, ebenfalls ein Sprecher des Rates und einer der wenigen Alawiten, die sich öffentlich bekennen können – Shahin lebt im Exil in Deutschland. „Vielleicht gibt es da eine Art schlechtes Gewissen im Westen, dass man diese Katastrophe so lange hat geschehen lassen. Jetzt wünscht man sich eben, sie sei einfach vorbei.“ Was aber die Beteiligten in Berlin zusammenführt, ist die Gewissheit, dass kein militärischer Sieg irgendeiner Seite Syrien heilen kann.

„Die Unterzeichner der Erklärung glauben, dass es nur Frieden geben kann, wenn es auch eine gesellschaftliche Lösung für Syrien gibt“, sagt der Staatsrechtler Naseef Naeem, selbst syrischer Christ, der die Arbeit des Rates von Berlin aus berät. „Sie sind der Überzeugung, dass es keine stabile Friedensordnung in Syrien geben kann, wenn nicht alle Bevölkerungsgruppen daran beteiligt sind.“

Der Rat wolle auch eine Botschaft an die im Exil lebenden Syrer senden, dass sie von der Zukunft ihres Landes nicht ausgeschlossen seien. „Und sie wollen jene Syrer einbinden, die neutral sind, die hinter keiner der Bürgerkriegsparteien stehen. Das ist vermutlich die große Mehrheit der Bevölkerung – jene Menschen, die einfach nur genug haben von diesem Krieg.“

Dass sich der Rat ausgerechnet in Berlin zusammenfindet, drückt vielleicht auch eine Hoffnung auf Europa aus. Deutschland hat gute Kontakte zu allen Seiten des Bürgerkrieges und setzt konsequent auf eine politische Lösung.

Und Berlin – so heißt es am Ende des Entwurfs der ersten Erklärung des Rates – sei eine Stadt, die für die Überwindung von Gewalt und Spaltung stehe. „Wenn Europa es ernst meint mit dem Frieden, dann zeigt ihm diese Erklärung den richtigen Weg für Syrien“, sagt Scheich Mansur al-Melhem, der im Anzug am großen Eichentisch in Berlin sitzt und nicht wie andere sunnitische Scheichs hier in traditionellem Gewand mit Beduinentuch auf dem Kopf und goldbesticktem Überwurf.

Der Mann vom Stamm der Aniza in Südsyrien ist mit dem saudischen Königshaus verwandt und erst seit vergleichsweise kurzer Zeit Mitglied des Rates, wie er erklärt. „Aber mit ihrem Geist repräsentiert diese Charta auch mich, weil sie alle 25 Millionen Syrer repräsentiert. Sie ist heilig.“ In Syrien beginnt man, nicht nur über alle, sondern mit allen zu sprechen. Das kann der Anfang von etwas Bedeutsamem sein.