DIE NEO-BIOLOGISCHE ZIVILISATION DER SYSTEMTHEORIE / DROHNEN + DIE AMEISENGESELLSCHAFTEN DER MODERNEN KRIEGE

„Das sich selbst regulierende Kollektiv (Schwarmintelligenz) und neuronale Systemsteuerung – eine neue Soziologie“ / Luhmanns Final Victory

Es  schwärmt : Zur Zirkulation des unwiderstehlichen Bildes der Ameisengesellschaft

Von Niels Werber

Aus einer Höhe von 8000 Fuß gesehen schauen die Rettungskräfte, die am Schauplatz einer Autobombe herumwieseln, »wie verstörte Ameisen« aus. Es ist nicht gerade ein »Geheimnis«, dass Menschen aus der Vogelperspektive »wie Ameisen« aussehen. – Es ist ein Gemeinplatz, mit dem der Roman von David Suarez beginnt.

Seit es Flugzeuge gibt – und Luftkriegszenarien –, steht eine Perspektive zur Verfügung, die Menschen in Ameisen verwandelt. Seit Beginn des 20. Jahrhunderts zählt »das Bild der menschlichen Ameisen zum Repertoire des tatsächlichen oder imaginierten Blicks von oben«.

Auf dieses Ameisengewimmel am Boden eine Bombe fallen zu lassen, wäre auf der metaphorischen Ebene mit dem allbekannten Stochern in einem Ameisenhaufen zu vergleichen. Ein Lausbubenstreich, kein Verbrechen.

In Kill Decision ist es allerdings kein Pilot, dem die wuselnde Menge am Boden als Ameisenwimmeln erscheint, sondern es sind Experten und Techniker der U.S. Air Force, die auf gigantischen High-Definition-Monitoren Echtzeitvideobilder einer MQ-1B-Predator-Drohne empfangen.

1 Vgl. Arnold Heinrich Müller, Geheimnisse der Filmgestaltung-  Berlin: Schiele & Schön 2003.

2 Daniel Suarez, Kill Decision, New York: Dutton 2012 (auf Deutsch 2013 bei Rowohlt).

3 Erhard Schütz, Wahn-Europa. Mediale Gas-Luftkrieg-Szenarien der Zwischenkriegszeit, . In: Heinz-Peter Preußer (Hrsg.), Krieg in den Medien,  Amsterdam: Rodopi 2005.

Wir sind mitten in einem neuen Krieg, »or whatever it is«.

Die Perspektive, die aus Menschen Ameisen macht, ist die einer Drohne. Gewissermaßen beobachtet hier ein Insekt Insekten – so wie Menschen in Flugzeugen Menschen am Boden beobachten. Auch eine Drohne kann eine Ameise sein, ein geflügeltes Männchen nämlich. Aber Suarez’ Drohnenflotte hat viel mehr mit Ameisen gemeinsam als ihre Flugfähigkeit: Es handelt sich hier um »autonome Drohnen«, um Drohnen, die sich selbst steuern, sich selbst organisieren, die ihr Verhalten den Anforderungen anpassen, die evoluieren – und all dies aus dem einen Grunde, dass sie nicht nur von Weitem »wie Ameisen« aussehen, sondern »wie Ameisen« funktionieren. In Kill Decision sind es die Modelle einer biologischen Expertin für Ameisen, einer Myrmekologin, die das Sozialverhalten der von ihr beobachteten Weberameisen im Computer simuliert, mit deren Hilfe der Drohnenschwarm gesteuert wird. Ihr »weaver ant software model«, geraubt von einer namenlosen wie mächtigen Interessengruppe, verleiht dem Schwarm das, was Ameisen auszeichnet: Autonomie, Präzision, Effizienz und Anpassungsfähigkeit.

»Wie Ameisen ihr kollektiv paralleles Handeln per Pheromonsignalnetzwerk abstimmen«, fasst Dietmar Dath die entomologisch-kybernetische Parallelaktion des Romans in seiner begeisterten Rezension zusammen, »so verständigen sich die Mechamonster bei Suarez«. Wie die Ameise, so der Roboschwarm. Man kennt dies aus Michael Crichtons Prey 5.

Die »Schwarmkooperation« der Ameisen folgt den gleichen Algorithmen wie die »aus autonomen Waffenrobotern zusammengesetzten Droidenkollektive« (FAZ vom 21. Juli 2012). Die beinahe halbseitige Abbildung, die die Rezension schmückt, zeigt denn auch nicht etwa eine Predator- oder Reaper-Drohne, sondern eine Ameise.

Wer etwas von Ameisen versteht, dieser neben dem Menschen aggressivsten und erfolgreichsten Spezies auf Erden, der weiß auch, wie »Schwärme tödlicher Maschinen« (Dath) funktionieren. Und weil menschliche Gesellschaften, die mit den gleichen Algorithmen modelliert werden wie Drohnenschwärme und Ameisensuperorganismen, auch nicht mehr sind als emergente Sozialsysteme simpler, aber dynamischer Akteure, ist demzufolge das, was für einen Beobachter »menschliche Aktivität repräsentiert«, ebenfalls mit Ameisen vergleichbar: »like ants« (Suarez). Immerhin: In Crichtons Prey verwechselt ein Softwareingenieur einen von ANT-Algorithmen gesteuerten Schwarm mit dem Liebhaber seiner Frau.

Ist es zu Beginn von Kill Decision noch die Höhe von 8000 Fuß, die aus Menschen Ameisen macht, so wird im Verlaufe der entomologischen, ethologischen, soziobiologischen, kybernetischen und technischen Belehrungen, die intradiegetisch einer US-Spezialeinheit genauso zuteil werden wie notgedrungen allen Lesern des Romans, immer deutlicher, dass wimmelnde Menschen nicht nur aus der Ferne so aussehen wie ein 4 Ameisenhaufen, sondern vergleichbaren Verhaltensweisen folgen.

4 Es ist ein »neuer« oder »asymmetrischer« Krieg oder besser, weil völkerrechtlich kein Krieg herrscht, ein »Nichtkrieg«. Vgl. Herfried Münkler, Die neuen Kriege,  Reinbek: Rowohlt 2004; Niels Werber, Zur Genealogie des Nicht-Kriegs. Ein Epochenwandel in der gesellschaftlichen Selbstbeschreibung,  In: Herfried Münkler u.a. (Hrsg.), Handeln unter Risiko. Gestaltungsansätze zwischen Wagnis und Vorsorge . Bielefeld: transcript 2010; ders., Soldaten und Söldner. Krieg, Risiko und Versicherung in der »Posthistorischen« Epoche, . In: Merkur, , Nr. 724/725, Sept./Okt. 2009.

5 Michael Crichton, Prey,  New York: Avon 2002 (Beute),  München: Blessing 2002). Vgl. Niels Werber, Prey / Beute, Dystopische Insektengesellschaften,  In: Viviana Chilese / Heinz-Peter Preußer (Hrsg.), Technik in Dystopien. Heidelberg: Winter 2013.

Dies gilt für soziale Organisationen wie Logistikunternehmen oder Marktforscher, aber auch für neuronale Systeme: »In many ways, individual ants are similar to individual neurons in the human brain. The fact that individual ants – let’s call them agents – follow fairly predictable behaviors, means that metaheuristics can simulate their actions with considerable accuracy.« Ameisenvölker, Transportfirmen und Gehirne bestehen aus »simplen Agenten«, die aber durch Vernetzung und Rekursion intelligente Problemlösungen finden – und alles »without centralized control and without conscious intent«. Wo Agentennetze ihre Handlungsmacht aus ihren eigenen Interaktionen gewinnen, statt von oben oder einem Zentrum gesteuert zu werden, sind »ant based« Algorithmen im Spiel.

Was haben neurologische Studien und Gesellschaftsentwürfe, Waffentechnologien und künstliche Lebensformen, Netzwerke und kybernetische Systeme gemeinsam? Die Frage lässt sich nun beantworten: In ihnen schwärmt es. Sie alle greifen auf entsprechende Modellierungen von Ameisengesellschaften zurück. In der Schwarmintelligenz ihrer Superorganismen finden diese vollkommmen heterogenen Diskurse, Techniken und Wissensformationen ein Muster der Ordnungsbildung, dessen Attraktivität auf einer Alternative beruht. Statt Hierarchisierungen und Zentralisierungen für die Organisation ihrer Elemente zu nutzen, wie dies seit Jahrhunderten Bürokratien in Staat, Wirtschaft oder Kirche tun, sind Ameisenschwärme dezentral und unhierarchisch. Ihre Handlungsmacht ist vernetzt und auf viele Akteure verteilt, die keinen Befehlen »von oben« folgen, sondern sich selbst steuern und in der instantanen Interaktion untereinander und ihrer Umwelt immer wieder zu spontanen und doch effektiven Lösungen finden. Aus der Sicht der Weberameisenexpertin formuliert: »What made them even more fascinating to McKinney was that their reign had already lasted more than a hundred million years. Human civilization was barely a blip on their radar screen. Weaver society was so durable, so adaptable, that these ants had survived ice ages, extinction-level events.«

Die Ameisengesellschaft ist evolutionsgeprüft. Die Regeln, die die Kooperation ihrer Elemente steuern, versprechen in unterschiedlichsten Situationen nichts als Erfolg. Ob dagegen »Mother Nature« mit der westlichen Zivilisation so zufrieden ist wie mit den Weberameisen, ist zweifelhaft. Zur Optimierung bieten sich »evolutionäre Algorithmen« an, die vom Verhalten der Ameisen inspiriert sind.

Marco Dorigo, dessen Forschungen die Protagonistin in Kill Decision referiert, dessen Bücher Suarez in einem Literaturverzeichnis anführt und dem er persönlich als wissenschaftlichem Berater seines Romans dankt, zählt zu den Pionieren auf diesem Feld der »ant colony optimization (ACO) assisted evolutionary algorithms«. Wenn wir unsere Probleme mit Lösungswegen angehen, die sich in Hundertmillionen Jahren erbitterten Konkurrenzkampfes bewährt haben, dann werden auch wir gewinnen. In Kill Decision kann ein Schwarm winziger Flugroboter, gesteuert von McKinneys ANT-Algorithmen, es mit einem Flugzeugträgerverband der U.S. Navy aufnehmen. Die Ameisen haben vor 65 Millionen Jahren die Dinosaurier überlebt. Heute lassen sie die größten Waffensysteme der Welt alt aussehen.

»The swarm would overwhelm the George Washington’s defenses and sink that carrier.«

Ein paar tausend kleine Drohnen gegen einen Flugzeugträger: Asymmetrischer geht es nicht. »The swarming pattern of these social insects resembles guerrilla tactics in some ways«, stellen die Pentagonberater John Arquilla und David Ronfeldt fest. 6

Ihre Schlussfolgerung ist: »U.S. military should develop own swarming doctrine.« Von den Ameisen lernen heißt siegen lernen.

Schließlich gewinnen sie ihre Kriege seit Äonen …

Warum gerade Ameisen? Sie sind uns, wie Remigius Bunia im Merkur (Nr. 735 , August 2010) schreibt, in gewisser Weise »ähnlich«: Auch Ameisen »kommunizieren«, treffen »Entscheidungen« und vereinigen sich »im Rahmen von Selbstorganisation zu einem kohärenten und effizienten Ganzen«.

Auch dies sind Gemeinplätze. Ameisen zählen für Aristoteles zu den »politischen Tieren«. Ihre »Staaten« sind seit der Antike ein Sinnbild für soziale Ordnung und zugleich ein Beispiel für ein Gemeinschaftswesen »sine rege et duce«, ohne König oder Führer, das dennoch wohlgeordnet ist und dessen weitsichtige Vorsorge legendär ist.

In der Natur, im Reich der sozialen Insekten gibt es also ein Vorbild für eine Form von Kollektivität, die, mit einer Formulierung von Johannes Sambucus aus dem 16. Jahrhundert, »isokratisch« genannt werden könnte. Die Ameisen sind »gleichberechtigte« Bürger ihrer Gesellschaft. Kein Wunder, dass bereits Lessing (in Ernst und Falk) sie als Modell einer republikanischen Einrichtung der Gesellschaft entdeckt – und zwar dezidiert als Alternative zu aristokratischen und monarchischen Staatsgebilden, als deren Sinnbild er den Bienenstaat anführt.

Darüber, wie Ameisen sich selbst regieren und zu komplexen Formen der Arbeitsteilung und Spezialisierung gefunden haben, hat die Entomologie seit ihrer Entstehung im 19. Jahrhundert

ununterbrochen nachgedacht. Die Antwort, die heute gegeben wird, lautet: Schwarmintelligenz. Das heißt: Nicht die einzelne Ameise ist besonders intelligent. Sie hat vielmehr ein sehr begrenztes Verhaltens- und Reaktionsrepertoire.

Sie ist ein »simple agent«. Doch aus der Kooperation vieler simpler Akteure »emergiert« ein Zusammenspiel, das mit Blick auf seinen Nutzen für die Gemeinschaft »intelligent« genannt wird. Die entomologische Spitzenforschung hat im Ameisenstaat einen »Superorganismus« entdeckt, eine aus vielen einzelnen Ameisenkörpern bestehende Körperschaft, die als Einheit agiert. 7

Ameisenschwärme sind robust und flexibel, anpassungsfähig und seit Jahrmillionen im darwinistischen Kampf siegreich. Da sie aus simplen Agenten bestehen, die einfachen Verhaltensweisen folgen, haben Soziobiologen und Kybernetiker versucht, ein Regelset zu extrahieren, dessen Befolgung es relativ »dummen« Akteuren gestattet, durch Selbstorganisation ein komplexes und intelligentes Kollektiv hervorzubringen.

Die Schwarmintelligenz der Ameisengesellschaft wird auf Algorithmen zurückgeführt, die nun in andere simple Agenten implementiert werden können mit der Erwartung, dass wiederum qua Kooperation und Selbstorganisation eine komplexe und intelligente Gemeinschaft entstehe. Schwarmintelligent, so lautet die von diesem Transfer genährte Hoffnung, sind dann auch solche Kollektive, deren eher schlichte Elemente einfachen Regeln folgen, jedoch zu einer höheren, selbstorganisierten Einheit finden: zum Beispiel Roboterschwärme.

Oder eine Partei. Oder eine Multitude.

Oder eine »schwärmende« Gruppe von Soldaten. Oder ein smart mob. 8

Aus diesen Gründen zitieren Strategen des National Defense Research Institutes oder Brigadegeneräle des israelischen Generalstabs, Soziologen und Philosophen wie Bruno Latour oder Michael Hardt und Antonio Negri, Visionäre, Techniker und Kritiker des Drohnenkrieges, Blogger der Piratenpartei und Netzenthusiasten immer wieder und zwar die gleichen entomologischen Grundlagentexte von Bert Hölldobler und Edward Osborne Wilson und ihre Transfers aus dem Reich der Insekten in die Welt der Algorithmen von Eric Bonabeau, Marco Dorigo, Guy Theraulaz oder auch James F. Kennedy und Russel C. Eberhart.

6 John Arquilla / David Ronfeldt, Swarming and the Future of Conflict. Santa Monica: Rand Corporation 2000.

7 Vgl. Bert Hölldobler / Edward O. Wilson, The Superorganism. The Beauty, Elegance, and Strangeness of Insect Societies . New York: Norton 2008.

8 Vgl. Howard Rheingold, Smart Mobs. The Next Social Revolution. New York: Perseus 2002; Kevin Kelly, Out of Control. The Rise of Neo-Biological Civilization . New York: Perseus 1994.

Ihre Forschungen zu Ameisen werden angeführt, um die Kampfweise in neuen, asymmetrischen Krieg zu erklären, 9 um in die Soziologie eine neue, laterale, symmetrische Epistemologie einzuführen, 10 um Möglichkeiten einer dezentralen, verteilten Kollektivität zu erkunden, 11 um nach Alternativen zu den klassischen Massenmedien zu suchen 12 oder um die Erde mit einem neuen Modell nachhaltiger Kooperation vor der »Tragödie der Allmende« zu retten. 13

Ameisen schaffen es immer wieder in die Zeitungen, und niemals nur um ihrer selbst willen, sozusagen im Dienst der Berichterstattung über die jüngsten myrmekologischen Forschungen, sondern immer auch wegen des unvermeidlichen semantischen Überschusses, den sie produzieren, sobald sie nur genannt werden. Dies gilt gerade auch für die genannten Romane, in denen es schwärmt und zu deren Paratexten Listen mit Forschungsliteratur von Dorigo bis Hölldobler zählen.

Ameisen sind in diesen populären Medien nie nur einfach Ameisen. Sie stehen für mehr, vor allem für solche Dinge, die uns Menschen angehen: neue Kriege, neue Medien, neue Gemeinschaften, neue Ökonomien etc. Die Ameise ist nicht nur »the paragon of social animals«, 14 der Ausbund aller politischen Tiere, sondern das Vorbild für emergente Ordnungen schlechthin. Sie ist ein »Übertier«. 15

Sie ist es auch insofern, als ihr in den Medien geradezu omnipräsentes Bild alles mögliche zu repräsentieren vermag, sei es auch noch so heterogen.

Die Unterschiede zwischen Drohnenschwärmen und Ameisenkollektiven werden mit wenigen Algorithmen spielend überbrückt, doch funktioniert die Übertragung auch dann, wenn der Abstand zwischen den Vergleichsfeldern groß und der ontologische Abgrund zwschen ihnen tief ist. Ameisen liefern in der FAZ ein Beispiel für ein »strenges Regime« (13. März 2013) und für ein »kopfloses Kollektiv« (21. Januar 2010), sie stehen für ein neues »Paradigma der Gesellschaftswissenschaft«(27. Januar 2010) und als Modell für »Informatiker«, die »Schwarmintelligenz« erzeugen (22. Oktober 2010) oder »kollektiv paralleles Handeln« programmieren wollen (21. Juli 2012). »Geh zur Ameise«, ließe sich Salomon (Sprüche 6).  Falsch ist allerdings, dass die Ameise seit der Antike für eine »hierarchisch streng geregelte Sozialordnung« stünde.

9 Vgl. Eyal Weizman, Lethal Theory. In: Log , Nr. 7, Winter / Spring 2006.

10 Bruno Latour, Eine neue Soziologie für eine neue Gesellschaft. Einführung in die Akteur-Netzwerk-Theorie . Frankfurt: Suhrkamp 2007.

11 Michael Hardt / Antonio Negri, Multitude. Krieg und Demokratie im Empire . Frankfurt: Cam-

pus 2004.

12 Jussi Parikka, Insectmedia. An Archeology of Animals and Technology . University of Minnesota Press 2010.

13 Martin A. Nowak / Roger Highfield, Supercooperators. Altruism, Evolution, and Why We Need Each Other to Succeed . New York: Free Press 2011.

14 Vgl. William Morton Wheeler, Ants. Their Structure, Development, and Behavior. New York, 1910.

15 Benjamin Bühler / Stefan Rieger, Vom Übertier. Ein Bestiarium des Wissens . Frankfurt: Suhrkamp 2006.

Der Logistiker wird auf Meister der Routenplanung, der Militär auf Kenner der Kriegskunst, der Anarchist auf eine altruistische Gesellschaft, der Faschist auf einen totalen Staat, der Medientheoretiker auf verteilte Netzwerke, der Spieltheoretiker auf geniale Ökonomen, der Populationsbiologe auf Eugeniker und der Ökologe auf Anhänger der Nachhaltigkeit treffen. Zu den Evokationen des kulturellen Bildes der Ameisen gehören sicher auch die Vorstellungen eines Kastenstaates, wie ihn Aldous Huxley an entomologischen Theorien entlang in Brave New World beschrieben hat, oder die Vision eines altruistischen Verbandes von aufopferungsvollen Schwestern, deren »mutual aid« Peter Kropotkin als Faktor der Evolution zur Geltung zu bringen suchte. 16

Das war zu Beginn des 20. Jahrhunderts, also vor der Entwicklung jener interdisziplinären Forschungsansätze namens Kybernetik oder Systemtheorie, die zwischen Ameisen, Menschen und Maschinen keine großen Unterschiede mehr machen, da die Weisen ihrer Kommunikation und Steuerung den gleichen Regeln folgen. 17

Ameisen sind »relatively unintelligent agents«, erklärt uns Professor McKinley in Kill Decision, und doch weise eine Kolonie erhebliche »kollektive Intelligenz« auf. Seit den wegweisenden Forschungen von William Morton Wheeler zählen das intelligente Verhalten des Ganzen und die Simplizität der Teile zu den Eigentümlichkeiten einer Ameisenkolonie. Eine einzelne Ameise ist dumm.

Dem Superorganismus eines Ameisennestes kommt dagegen Schwarmintelligenz zu. Der Schwarm ist zu komplexen und sogar innovativen Verhaltensweisen fähig, um Veränderungen und Herausforderungen der Umwelt gerecht zu werden. Er ist hochgradig adaptiv. Doch er besteht aus simplen Akteuren, die nicht besonders viel wissen, nicht allzu viel aushalten und leicht zu ersetzen sind.

»One ant in an anthill was nothing.«18

Ein Ameisenvolk errichtet Städte und Brücken, gräbt Tunnel und Vorratshallen, baut Flöße und Straßen, melkt Haustiere und kultiviert Nutzpflanzen, unterhält ein stehendes Heer und führt Kriege.

Dieses entomologische Wissen ist im Bild des Ameisenschwarms populär und evident geworden. Im Diskurs der Selbstbeschreibungen unserer Gesellschaft und der Selbstverständigung über die Einfügung des Menschen in die Kultur ist es zum Topos geworden: »We all are familiar with swarms in nature.« 19

Oder etwa nicht?

Und wenn ein neues Phänomen als Schwarm deklariert wird, dann ist es uns flugs vertraut. Das Bild des Schwarms reduziert Komplexität und verwandelt Unvertrautes in Selbstverständliches. Die Aufstände in Tunesien, Ägypten, Libyen? Da muss man nicht hinfahren, um das zu verstehen: Es war eine Facebook-Revolution, und diese sozialen Medien hat man sich als Schwärme vorzustellen. Und die kennen wir ja. Wir sehen die »Bilder großer Gruppen von Insekten« vor uns, in denen jedes Individuum eine ganz einfache Rolle (»simple role«) spielt und mit allen gemeinsam ein »komplexes Verhalten« hervor.

16 Peter Kropotkin, Mutual Aid. A Factor of Evolution. London 1902.

17 Vgl. Claus Pias (Hrsg.), Cybernetics – Kybernetik. The Macy-Conferences 1946-1953. Transactions. Zürich: diaphanes 2003; Norbert Wiener, Kybernetik. Regelung und Nachrichtenübertragung in Lebewesen und Maschine (1948). Reinbek: Rowohlt 1968; Charlotte Sleigh, Six Legs Better. A Cultural History of Myrmecology . Baltimore: Johns Hopkins University Press 2007;

Niels Werber, Ameisen und Aliens. Zur Wissensgeschichte von Soziologie und Entomologie . In:

Berichte zur Wissenschaftsgeschichte, Nr. 3, September 2011.

18 Antonia S. Byatt, Angels & Insects . New York: Random House 1993. Kursivierung von N. W.

19 Mike Hinchey / Lorcan Coyle (Hrsg.), Conquering Complexity . London: Springer 2012.

 

Einen Regimewechsel zum Beispiel. Oder eine »gezielte Tötung«. 20

Die zur Zeit mit großer politischer und moralischer Energie in unterschiedlichsten Medien und Diskursen geführte Debatte um militärische Drohnen greift selbstverständlich auf das Bild der Ameisengesellschaft zurück, um vorzuführen, was heutzutage unter einem Drohnenschwarm überhaupt zu verstehen sei. 21

Ganz wie im Roman. Stellen sie sich vor, eine Gruppe unbemannter bewaffneter Fluggeräte arbeite genau so zusammen wie ein Haufen Ameisen … Dann gilt für diese neue Technologie, was man über Ameisen bereits zu wissen glaubt: »A swarm is not simply a collection of individuals. It is composed of relatively unintelligent agents following a set of rules to achieve group coordination.«

Die Kampfdrohnen oder Aerial Battle Bots werden nicht von einer Zentrale ferngesteuert wie noch Ernst Jüngers Gläserne Bienen, 22 sondern sich selbst überlassen, ausgestattet mit einigen basalen Fähigkeiten und wenigen simplen Regeln. Was in der Aviation Week angeführt wird, um ihren Lesern nahezubringen, wie ein autonomer Schwarm von Kampfdrohnen funktioniert, ist genau das gleiche, was in den anderen Diskurs- und Wissensfeldern die Selbstorganisation einer Multitude, die spontanen sozialen Eruptionen der sogenannten Arabellion oder auch die Taktik terroristischer Netzwerke erklären soll. Es sind wenige, einfache Regeln für die vielen »simplen« Agenten, die für die Entstehung »komplexen« Gruppenverhaltens genügen.

Vorbild für dieses Wunder, aus vielen Simpeln eine intelligent agierende Gemeinschaft zu formen,23 sind gelegentlich Vögel und Fische, häufiger Bienen oder Wespen, meistens aber Ameisen.

Wenn sie auftauchen, schwärmt es, und wenn es schwärmt, tauchen sie auf.

Na und? Das Bild der Ameisengesellschaft zirkuliert in den unterschiedlichsten Diskursen, Systemen, Wissensformationen und Medien, und es erweist sich als produktiv. Was Entomologen beobachten, nutzen Informatiker für ihre Programme. Was Schwarmforscher herausfinden, lässt sich von Ökonomen verwenden. Was Evolutionsbiologen postulieren, wird an Roboterschwärmen überprüft. So entsteht neues Wissen.

Das Bild, das hier zirkuliert, ist aber nicht nur epistemisch fruchtbringend. Es erzeugt einen Überschuss, der sich nicht auf den Nenner eines neuen Wissens oder einer neuen Technologie bringen lässt.

In Kill Decision wird dieser Überschuss dann sichtbar, wenn man danach fragt, was im Verlauf der Übertragungen und Transfers des Bildes (Ameisen, Schwärme, neuronale Netze, Medienverbünde, Kollektive …) aus den »simplen« Agenten wird. Die Ameise ist simpel. Ist es deshalb auch die Drohne? Und wenn die Drohne, gilt das auch für die Elemente anderer Schwärme? Etwa für in sozialen Netzen agierende Kollektive?

Wenn Gruppen oder Gemeinschaften schwarmintelligent sind, bedeutet dies dann für ihre Mitglieder, dass sie als »relatively unintelligent agents« gelten müssen wie McKinleys Weberameisen?

Genau diese Annahme wird bei der Zirkulation des Bildes mitgeführt. Dies wird auch gar nicht verhehlt, sondern hat das Schwärmen für den Schwarm noch beflügelt. Kevin Kelly spricht Klartext:

»Das Wunder des ›Denkens im Schwarm‹ besteht darin, dass keiner einer Steuerung unterliegt und dennoch eine unsichtbare Hand regiert, eine Hand, die sich aus äußerst dummen Gliedern erhebt.«

20 Armin Krishnan, Gezielte Tötung. Zur Zukunft des Krieges. Berlin 2012.

21 David Hambling, Swarm Defense . In: Aviation Weekly & Space Technology vom 6. August 2012.

22 Ernst Jünger, Gläserne Bienen. Stuttgart: Klett-Cotta 1957. Vgl. Niels Werber, Jüngers Bienen. In:Deutsche Zeitschrift für Philologie, Nr. 2, 2011.

23 Vgl. Kevin Kelly, Das Ende der Kontrolle. Die biologische Wende in Wirtschaft, Technik und Gesellschaft. Regensburg: Bollmann 1998.

Die Agenten sind aber nicht nur simpel und dumm, sie sind deshalb auch austauschbar, leicht zu ersetzen. Dies gilt nicht nur für Ameisen, sondern für alle Schwärme und jede Schwarmintelligenz, also auch für menschliche Kollektive. »Individuen zählen nicht.«

Im Ernstfall zahlt sich das aus. In der israelischen Armee, die mit »Schwarmmanövern« experimentiert, stellt ein Heeresgeneral fest, man wende »Prinzipien der Schwarmintelligenz« an, »which assumes that problem-solving capacities are found in the interaction and communication of relatively unsophisticated agents (ants, birds, bees, soldiers) without (or with minimal) centralized control« (Weizman).

Aus dem Topos der soldatischen Ameise wird so ein ameisiger Soldat, dessen Grad an »sophistication« nicht über den von Insekten hinausreicht. Die Zirkulation des Bildes verwandelt nicht nur die Gesellschaft in einen Superorganismus, sondern auch den Menschen in einen Idioten. So intelligent der Schwarm sein mag, er produziert »verblödete Einzelne«. 24

Und wie keine Ameise überblickt, was der Superorganismus auf dem Level eines »nation-state-like domain« (Suarez) eigentlich tut, und damit wunderbar fährt, so muss auch kein Mensch zu verstehen suchen, welche Ziele die superkomplexen Schwärme verfolgen, als deren Agenten wir fungieren.

Der Dialog am Ende von Suarez’ Roman ist bezeichnend: »Are you telling me you have no idea what’s just happened? He shrugged: I sure don’t.«

Schwärme mögen unhierarchisch, dezentral, verteilt und netzwerkförmig sein, was sie als Emblem für postsouveräne Träume à la Hardt und Negri oder die Piratenvision einer »liquiden« Demokratie so attraktiv macht. Ein Unterschied zu Lessings Vision einer Ameisenrepublik ist: Ihre »Agenten« sind simpel, dumm, beschränkt und redundant. Die Zirkulation des Bildes verwandelt Entomologie in Ideologie.

Aus: Merkur, 2013, Heft 769