Die Migration muss reguliert werden, wenn wir den Sozialstaat erhalten wollen. Denn in keiner anderen Region auf der Welt werden Sozialleistungen so grosszügig verteilt wie in Westeuropa.

MESOPOTAMIA NEWS : “SANS PHRASE – Kommentar

– «Der andere Blick»: Die Migration muss reguliert werden, wenn wir den Sozialstaat erhalten wollen – Der Wohlstand macht Europa zum Magneten für Einwanderungsströme aus Afrika und Asien. Man kann offene Grenzen haben oder den Sozialstaat – aber beides zusammen ist eine Herausforderung. – Eric Gujer, Chefredaktor der «Neuen Zürcher Zeitung» 3 Juni 2018

Warum diskutieren wir so viel über Migration? Weil wir viel zu verlieren haben an nationaler Identität wie an Wohlstand – und wir dies vermeiden wollen. Gefordert sind Ehrlichkeit und der Mut zu klaren Entscheidungen, und beides ist Mangelware in der heutigen Politik. Die Migration muss reguliert werden, wenn wir den Sozialstaat erhalten wollen. Denn in keiner anderen Region auf der Welt werden Sozialleistungen so grosszügig verteilt wie in Westeuropa.

  • Liberale müssten eigentlich jeden jungen Menschen bewundern, der sich in Nigeria aufmacht, um in Europa ein besseres Leben zu finden. Sein Schicksal in die eigenen Hände nehmen und Leistungsbereitschaft zeigen – das sind Kernanliegen des Liberalismus. Sie entsprechen auch unserem westlichen Lebensstil, der sich der freien Entfaltung des Individuums verschrieben hat.
  • Damit das Gedankenspiel der unregulierten Migration funktionierte, müsste eine wesentliche Voraussetzung erfüllt sein: Jeder ist für sich selbst verantwortlich. Der Staat kümmert sich nicht um die Neuankömmlinge, Sozialleistungen gibt es nicht, auch nicht für die Einheimischen. Wer scheitert und sich keine Existenz aufbauen kann, muss allein die Konsequenzen tragen.
  • Es ist offensichtlich, dass sich diese Bedingung nie erfüllen lässt. Westeuropa stellt den Sozialstaat nicht zur Disposition, nicht für seine Bürger und auch nicht für die Einwanderer. Schon von Gesetzes wegen ist der deutsche Staat verpflichtet, Migranten und Flüchtlingen ein Existenzminimum zu garantieren. Und diese Sozialleistungen, sosehr man sie auch einschränkt wie jetzt in Österreich, machen Europa zum Magneten für Einwanderer aus Afrika und Asien.
  • Europa unterscheidet sich von der Türkei sowie den Ländern im Nahen Osten und in Afrika, die im grossen Stil Flüchtlinge aufnehmen. Dort gibt es keinen Sozialstaat, sondern nur Flüchtlingslager, in welche die Neuankömmlinge gepfercht und ihrer Zukunftsperspektive beraubt werden. Für den Betrieb der Lager kommen besonders in Afrika meist Uno-Programme und westliche Staaten auf.
  • Die Stärke der Einwanderungsströme mag variieren, wenn Fluchtrouten geschlossen werden und sich Fluchtursachen verändern – wenn zum Beispiel ein Bürgerkrieg zu Ende geht. Am grundlegenden Faktum ändert sich jedoch nichts. Allein in Afrika wird sich die Bevölkerung in den nächsten Jahrzehnten verdoppeln.
  • Schon heute gibt Deutschland rund die Hälfte des gesamten Bundeshaushalts für Soziales aus. Dieser Anteil lässt sich nicht beliebig steigern, will man nicht schmerzhafte Einschnitte bei Investitionen, Verkehr, innerer und äusserer Sicherheit vornehmen oder bedenkenlos Schulden machen.
  • Die «asylbedingten Kosten» des Bundes für die Jahre 2016 und 2017 beziffert das Bundesfinanzministerium auf 43 Milliarden Euro. Die Ausgaben für die Nothilfe werden sinken, weil unterdessen wieder weniger Menschen einreisen. Doch die langfristigen Kosten der Integration werden hoch bleiben, weil die Neuankömmlinge Wohnungen benötigen und ihre Kinder Schulplätze.
  • Es vergeht viel Zeit, bis etwa syrische und afghanische Einwanderer ohne Sprachkenntnisse und mit geringer beruflicher Qualifikation auf eigenen Beinen stehen können. Der Glaube, diese Form der Zuwanderung löse in absehbarer Zeit das demografische Problem, ist reine Phantasterei. Dafür dauert es einfach zu lange, bis aus hilfsbedürftigen Einwanderern produktive Facharbeiter werden.
  • Migration im ausgebauten Sozialstaat westeuropäischer Prägung bleibt zunächst ein Verlustgeschäft, denn es hat sich längst als Irrglaube herausgestellt, dass man sich nur die hochbegabten und gut ausgebildeten Einwanderer herauspicken könne. Auf lange Sicht mag die Migration Deutschland bunter, vielfältiger und kreativer machen. Zunächst aber kostet sie viel Geld und belastet die sozialen Sicherungssysteme.
  • Viele Wähler fühlen sich aufgrund der Migration nicht nur zunehmend fremd im eigenen Land, sie fürchten auch eine materielle Konkurrenz, weil sie ahnen, welche Verteilkämpfe auf den Sozialstaat zukommen. Die Wohlhabenderen mögen davon nicht viel merken. Alle anderen, für die staatliche Transferleistungen einen Teil des Lebensunterhalts bilden, sind sich des Wettbewerbs sehr wohl bewusst. Kommen dann noch Identität und Religion hinzu, ergibt dies einen explosiven Cocktail.
  • Für die Regulierung der Einwanderung machen die Parteien unterschiedliche Vorschläge, von denen die der Alternative für Deutschland und der Grünen schon auf den ersten Blick untauglich sind. Die AfD würde am liebsten jede Art von Migration untersagen. Es soll am besten niemand mehr kommen, kein Arbeitssuchender, kein Bürgerkriegsflüchtling, niemand. Das ist illusorisch.
  • Das Gebiet des heutigen Deutschland «importierte» im Lauf der Geschichte schon immer Menschen – oder es «exportierte» sie, wie bei den Auswanderungswellen nach Amerika. Abhängig war dies vom Wohlstand, und solange dieser so hoch ist wie gegenwärtig, werden Menschen in Deutschland das gelobte Land sehen, und sie werden einen Weg dorthin finden. Wer behauptet, dies erstmals in der Geschichte ändern und die Migration auf nahezu null reduzieren zu können, ist ein Scharlatan. Die Ein-Thema-Partei stört das nicht, denn sie weiss allzu gut, dass sie nur gewählt wird, wenn das Problem ungelöst ist.
  • Die Grünen hingegen jubelten auf dem Höhepunkt der Willkommenskultur, dass Deutschland «Menschen geschenkt» (Katrin Göring-Eckardt) bekomme, und liessen es zeitweise so aussehen, als könne Deutschland gar nicht genug Migranten, Asylbewerber und Flüchtlinge aufnehmen. Dies ist ein ebenso utopisches Ansinnen wie das der AfD – wobei die Grünen die Aufnahmebereitschaft der Bevölkerung über- und die Belastung für den Sozialstaat unterschätzen. Die Haltung der Grünen ist genauso «populistisch», weil sie wie die Alternative für Deutschland rein ideologisch argumentieren.
  • Die SPD ist, wie es sich für die Sozialdemokratie gehört, hin- und hergerissen zwischen den beiden Maximalpositionen und möchte am liebsten ein wenig von beidem. Die Parteilinke und die Funktionäre in der Mitte wittern bereits einen Verrat am humanitären Erbe der SPD, wenn bei gefährlichen Islamisten der Familiennachzug ausgeschlossen werden soll. Die Parteirechte und vor allem die einfachen Mitglieder drängen auf eine restriktivere Politik.
  • Es braucht keine prophetische Gabe, um festzustellen, dass die SPD nie ins Kanzleramt zurückkehren wird, wenn sie für den Zielkonflikt zwischen Einwanderung und Sozialstaat keine tauglichen Lösungen vorweisen kann. Solange die eigenen Anhänger und Wähler in dieser entscheidenden Frage viel weiter rechts stehen als die in der Partei tonangebenden Kräfte, wird die SPD nie aus dem Sumpf von 20 Prozent Zustimmung herausfinden.
  • Die politische Linke – ob SPD, Grüne oder Linkspartei – spielt sich zwar als letzte Verteidigerin der sozialen Sicherheit auf, kümmert sich aber in der Praxis nicht um die materiellen Folgen der Migration. Historisch betrachtet, entstand die Linke im Kampf für die Rechte der Unterprivilegierten. Aus den «Mühseligen und Beladenen» von einst sind unterdessen die gut versorgten Nutzniesser öffentlicher Wohlfahrt geworden. Die wahren Unterprivilegierten in Zeiten der Globalisierung sind die Migranten. Die Linke verzagt angesichts dieses Widerspruchs zwischen ihrer Geschichte und den Herausforderungen der Gegenwart und steckt den Kopf in den Sand.
  • Die CDU hat ihre Lektion in der Flüchtlingskrise gelernt und probt den Spagat zwischen Härte in der Sache und einer Rhetorik, die pflichtschuldig den Kotau macht vor Merkels Prinzip Hoffnung mit der Maxime «Wir schaffen das». Beinahe unbemerkt drehte die Haltung der Christlichdemokraten um 180 Grad. Dieser mit Machtinstinkt gepaarte Opportunismus bildet das Erfolgsgeheimnis der CDU. Zudem treibt die Opposition die Regierungspartei vor sich her. Das gilt nicht nur für die AfD, sondern auch für die FDP, die im Bundestag einen Ausschuss zur Untersuchung der Flüchtlingskrise 2015 verlangt.
  • Die Themen Migration und Sozialstaat werden die politische Debatte in Deutschland in den nächsten Jahren bestimmen. Die Parteien an den politischen Rändern wollen das Problem nur bewirtschaften und am Köcheln halten. Für die Volksparteien hingegen gilt, dass sie nur dann Wahlen gewinnen, wenn sie überzeugende Antworten finden.

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