Die linke Kurdenfolklore / DER NEUE LINKE PKK HYPE

MESOP : DIE JANUSKÖPFIGKEIT EINER GENUINEN STALINISTISCHEN KADERPARTEI / SEXUALVERBOT & ZENTRALISMUS AUS KANDIL

Viele Linke aus Europa solidarisieren sich mit den Kurden, eine Art Revolutionstourismus ist entstanden. Doch die Besucher verkennen den Kampf und die PKK. VON MURIEL REICHL, DIYARBAKIR – DIE ZEIT – 10. August 2015

Man erkennt die Revolutionstouristen leicht, an ihren Tüchern und an ihrem Gang. Den Stoff mit den für diese Gegend typischen Blumenmustern haben sie sich um den Hals gewickelt, nicht wie die einheimischen Frauen hier in Diyarbakır um den Kopf. Das wäre ja religiös, und mit Religion wollen sie nichts zu tun haben. Auf den Rücken tragen sie oft bunte Patchwork-Rucksäcke, und ihr Schritt ist leicht und unbeschwert. Ganz anders als der vorsichtige Gang der Einheimischen hier, die immer etwas angespannt durch ihre eigene Stadt gehen, durch staatliche Gewalt und Repression auf ständige Reaktionsbereitschaft trainiert.

Der kurdisch geprägte Osten der Türkei ist eigentlich kein Touristengebiet. In vielen Türkei-Reiseführern kommt er gar nicht erst vor, und wenn Ausländer ins Flugzeug nach Diyarbakır steigen, der größten Stadt der Region, kommt es immer wieder vor, dass sie die türkischen Ticketkontrolleure fassungslos anstarren. “Warum denn ausgerechnet Diyarbakır? Fahr lieber nach Izmir. Da ist es schöner.” Für viele Türken rangiert die Region immer noch irgendwo zwischen Problemviertel und Kriegsgebiet.

Trotzdem – oder gerade deshalb – hat sich hier längst ein linker Revolutionstourismus entwickelt. Sie kommen aus den westlichen türkischen Städten, aus Istanbul oder Ankara, aus Skandinavien, Deutschland, Frankreich, Italien, Griechenland, zahlreich aus Katalonien, hin und wieder auch aus den USA. Spätestens seit dem Kampf der syrisch-kurdischen YPG in Kobane ist das Kurdengebiet kein Geheimtipp unter Anarchisten mehr. Die Solidarität für die kurdischen Autonomiebestrebungen ist riesig.

Fast alle, die kommen, absolvieren hier dasselbe Programm: Sie landen auf dem Militärflughafen, trinken Tee in den Cafés, die als “autentik” gelten, und fahren dann ins Fidanlik-Camp, wo die jesidischen Flüchtlinge aus Sindschar seit fast einem Jahr leben. Wer Zeit hat, fährt dann mit dem Minibus nach Suruç direkt an der Grenze, um die Flüchtlinge aus Kobane zu besuchen. Meistens wohnen die politischen Touristen bei Aktivisten in Diyarbakır, junge Menschen, die studiert haben und passables Englisch sprechen. Die vielleicht gar Vegetarier sind, sich für die Rechte der LGBT-Community oder für Prostituierte einsetzen. Solch ein Lebensstil gilt in Diyarbakır als ziemlich radikal, doch er ist wunderbar kompatibel mit den Vorstellungen der linksgesinnten Besucher. Sie sprechen dann also mit Akademikern, denen eine Frauenquote, Sozialismus und Ökoprojekte in Kobane wichtig sind. Von Staaten und vom Kapitalismus wollen sie nichts wissen.

Diese linke Szene ist ein wichtiger Bestandteil der kurdischen Bewegung. Aber: Sie ist nur ein kleiner Ausschnitt aus einem riesigen Spektrum an säkularen, tief gläubigen, wertliberalen und wertkonservativen Kurden. Mit den meisten Gruppen kommen die jungen Linken, die hierhin reisen, aber fast nie in Kontakt – mit den Traditionellen, den Religiösen oder den Alt-PKKlern, die sich noch einen kurdischen Nationalstaat ersehnen – dafür haben sie schließlich jahrzehntelang gekämpft, dafür wurden sie eventuell gefoltert. Menschen, die den (türkischen) Staat weitaus mehr hassen als den Kapitalismus. Für die die sozialistische Grundierung der Schriften des PKK-Führers Abdullah Öcalan eher irrelevantes Beiwerk sind. Nicht sein linker, sozialistischer Ton hat die Massen für die PKK mobilisiert, sondern die brutale Unterdrückung durch den Staat. Der kurdische Kampf entstand aus Angst, Demütigungen und Alternativlosigkeit kombiniert mit einem charismatischen Anführer, nicht aus Ideologie.

Dass viele europäische Linke davon nichts wissen wollen, verfälscht ihr Bild massiv. So kommt es, dass man sich in einer WG-Küche in Barcelona mit einer Aktivistin über die PKK unterhält, in ihrem Zimmer liegen zwei Broschüren, eine über die Frauenbewegung der PKK und eines über den PKK-Gründer Abdullah Öcalan. Sie freut sich über den kurdischen Feminismus und über die feste Frauenquote von 40 Prozent in der prokurdischen Partei HDP und der PKK-nahen PYD (Partei der demokratischen Union) in Syrien. Die Anmerkung, dass auf den vielen Frauenkongressen und den Frauendemos jedoch in erster Linie Öcalan, ein Mann, gefeiert wird und sich der Inhalt auf massentaugliche Slogans wie “Frau, Leben, Freiheit” reduziert, stört sie dann aber. Auf konkrete Beispiele von Sexismus in PKK-nahen Kreisen antwortete sie knapp: “Das sehe ich anders.” In der Region war sie noch nie. Aber sie hat die Broschüren mit den Bildern von hübschen jungen Frauen, die vor Glück strahlen, in den Bergen Kandils mit der Kalaschnikow exerzieren zu dürfen.

Mit Themen wie sexueller Selbstbestimmung, LGBT-Rechten, Bildungschancen und Verhütung bekommt man eben auch in Diyarbakır keine Zehntausende auf die Straßen. Mit Sprechchören gegen den Staat und für die Freiheit Öcalans schon. Der kurdische Kampf um Autonomie ist nicht romantisch.

Die PKK rekrutiert in Gefängnissen

Die meisten Guerillas sind nicht aus Abenteuerlust und sozialistischem Kampfgeist “ins Gebirge” gegangen. Vielmehr sind sie Kinder einer Zeit, in der Hunderte Menschen spurlos verschwanden, Tausende gefoltert und getötet wurden und die Dörfer und Wälder brannten. Kriegsjahre, in denen sich die Dorfbewohner in Höhlen versteckten und dort im Giftgasnebel des Militärs ums Leben kamen. Paranoide Zeiten, in denen die PKK und die kurdische Hizbullah einander und untereinander blind mordeten. Manche gingen aus Wut zur PKK oder aus Schmerz, andere aus Angst, wieder andere aus politischer und ökonomischer Alternativlosigkeit. Die Guerillas haben kaum Kontakt zu ihren Familien.

Am erfolgreichsten rekrutiert die PKK ihren Nachwuchs nicht in linken Studentenzirkeln, sondern in Jugendgefängnissen. Wo minderjährige Kurden, manchmal noch Kinder, ohne Prozess wegen Terrorverdacht oder Separatismus jahrelang eingesperrt und danach “reif für die Berge” sind. Oder in den armen Stadtvierteln, bei den Flüchtlingsfamilien, die in den neunziger Jahren aus den zerstörten Dörfern in die größeren Städte kamen. Die Jugendlichen tragen noch die politischen Traumata ihrer Eltern in sich, haben keine beruflichen Perspektiven und sind geprägt vom Hass auf den Staat und Identitätslosigkeit. Viele kanalisieren ihre Wut in der YDG-H, der radikalen Jugendorganisation der PKK. Diese Jugendlichen sind es, die sich gerade in den kurdischen Städten tödliche Straßenschlachten mit der Polizei liefern. Sie sind gewalttätig. Sie haben andere Sorgen als die Vereinigung aller Völker, sie kämpfen erst mal für ihr eigenes Volk – oder einfach, weil sie in diesem Land keine Möglichkeit sehen, ohne Gewalt etwas für sich zu erreichen.

Die PKK toleriert und braucht diese junge, gewaltbereite Gruppe genauso, wie sie die gebildeten, gemäßigten Alternativen braucht, die sich mit Europäern zum Tee treffen. Einen großen Teil der Modernisierung der Autonomiebewegung übernehmen die Kinder der Familien aus der Mittelschicht, die nach Ankara, Istanbul oder Izmir “ausgewandert” sind. Sie sind jetzt in ihren Zwanzigern, wurden in der Westtürkei und der linken Szene dort sozialisiert und vereinen die Elemente der “westlichen” Linken mit der kurdischen Sache. Sie päppeln das schlechte internationale Image der PKK auf. Auch die PYD in Syrien verfolgt diese Schiene: Sie gründete eine Quasi-Autonomie, die offiziell auf Pluralität, Multiethnizität und Geschlechtergleichheit basiert. Doch auch für den Großteil der dortigen Bevölkerung gilt: Es sind Dorfbewohner, sie wollen einfach zurück nach Hause, ohne von IS-Schergen erschossen, vergewaltigt oder versklavt zu werden. Ob in Kobane dann eine Bücherei steht oder Solar-Strom produziert wird, ist ihnen vorerst egal.

Einige Tage vor dem Bombenanschlag in Suruç, bei dem mehr als 30 junge Studenten starben, saß Baran in seinem Garten in Diyarbakır und plant die Fahrt nach Suruç. Er ist Arzt und Atheist, kein Antikapitalist. “In Suruç sind immer recht viele Ausländer”, sagt er und schaut etwas fragend. “Na ja, ich finde das gut, aber – es kommt mir schon auch immer ein bisschen so vor, als kämen die Leute zum Abenteuerurlaub. Oder?” Neben den Europäern kommen auch immer mehr Türken aus dem Westen des Landes ins Kurdengebiet, um den Staub und die Hitze des “authentischen” Kampfes für den Sozialismus einzuatmen und, ja, auch das, was sie für den “echten Orient” in Reichweite halten. Sie tanzen auf der Straße den kurdischen Govend, aber lernen oft kein einziges Wort Kurdisch, um mit den Leuten am Straßenrand zu reden, von denen sie die rot-grün-weißen Zipfelmützen kaufen. “So ganz ernst nehmen kann ich diese Leute aus dem Westen nicht”, sagt Baran, der Arzt. http://www.zeit.de/politik/ausland/2015-08/pkk-kurden-linke-tuerkei/seite-2