DIE HERSTELLUNG DER ALLEIN GÜLTIGEN WELTANSCHAUUNG / THE „RED BULLETIN“ ODER „TOTAL HAPPINESS“ – The post-truth-world

MESOP : TTIP ERMÖGLICHT ENDLICH DEN ZUSAMMENFALL VON FORMELLER & REELLER SUBSUMTION – CONTENT-PRODUKTION : VON DER FORM ZUM INHALT

Dieser Text hier bildet sich ein, er sei kritisch und frei, allein der Einsicht seines Verfassers verpflichtet, dabei alles Mögliche in Frage stellend und gerade dadurch das Selbstgefühl seiner Leser hebend, die mit ihrer freien, kritischen Lektüre alle möglichen Bedingtheiten überschreiten können, in die sie sich sonst eingezwängt finden.

Die Wahrheit aber ist: Dieser Text ist Content. Das letzte Glied einer langen Wertschöpfungskette, eine Variable im Kampf der Industrien um Einfluss und Macht. Der Witz des Content ist, dass er all die eingangs gemachten Zuschreibungen einbezieht: Content muss, wie man so sagt, „glaubwürdig” und „authentisch”, bei Bedarf also durchaus auch subjektiv und kritisch sein, damit er als „gut”, also nützlich gilt.

Wie kommt es zu den unterschiedlichen Sichtweisen auf ein und dasselbe Erzeugnis? Was wissen die Content-Strategen, was die Content-Lieferanten (Journalisten, Schriftsteller, Philosophen, Künstler, Regisseure) in ihrer Naivität noch nicht wissen?

In der Welt, in der man den Begriff mit Selbstverständlichkeit benutzt, spricht man davon, dass Content das „nächste große Ding” sein werde. Der Vorstandsvorsitzende des Springer-Konzerns wird mit dem Satz zitiert: „Content is our top priority.” Das sind beides Aussagen, die in der Welt außerhalb erst einmal merkwürdig klingen. Was könnte denn ein Medienunternehmen, das sein Geld mit Zeitungen, Zeitschriften und Websites verdient, für eine andere Priorität haben als einen wie auch immer gearteten “Inhalt”? Und ist „Inhalt” nicht spätestens seit Beginn der Schriftkultur ein ziemlich großes Ding? Sind es nicht immer schon Gedanken, die die Weltgeschichte antreiben, die Bilder, die sich Menschen von sich selbst und der Welt machen?

Doch das sind alles Fragen aus der Vor-Content-Ära (BC). Content ist eine Entdeckung, die erst in den neunziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts gemacht wurde. Wirtschaftsunternehmen fanden damals heraus, dass das Internet ihnen ganz neue Möglichkeiten erschließt, mit potentiellen Käufern ihrer Produkte in Verbindung zu treten. Statt wie bisher in Medien oder bei Kultur- und Sportveranstaltungen, die ein förderliches Umfeld zu bieten versprechen, für ihre Produkte zu werben, macht es das Internet in seiner Beweglichkeit einfach, das förderliche Umfeld selber herzustellen. So verlegten sich Konzerne der unterschiedlichsten Branchen neben ihrem angestammten Geschäft auf die Erzeugung von Produkten, die eine doppelte Mimikry-Leistung erbringen: zum einen an die etablierten journalistischen öder künstlerischen Formate, zum anderen an die Wünsche und Erwartungen der Konsumenten direkt. Diese Produkte wurden fortan „Content” genannt.

Die Content-Industrie entstand, deren Umsätze heute um jährlich fünfzehn Prozent steigen, von 5,5 Milliarden Dollar im Jahr 2014 auf voraussichtlich 94 Milliarden Dollar zoi8, wie die Radicati Group schätzt. Seither wetteifern Wirt schaftskonzerne miteinander nicht nur um den Absatz ihrer  Produkte, sondern, aufs Engste damit verbunden, um die Deutung der Welt: „Content” ist alles, was die Welt enthält, wie sie ein Unternehmen präsentiert, mit all den Informationen, Ideen, Witzen, Lebensstiltönungen, die die Aufmerksamkeit einer Zielgruppe auf sich ziehen und als deren organischer Ausfluss dann fast wie nebenbei das Produkt oder die Dienstleistung erscheinen, die das Unternehmen eigentlich verkauft. Content ist ein Bild der Welt, wie es entworfen  wird um das Image eines Unternehmens zu definieren.

So hat Coca-Cola ein Happiness  Institut eingerichtet, in dem Pädagogen und Glücksforscher Tipps und Reflexionen zur Lebensfreude offerieren und Blogger sich zu Themen wie: „So funktionieren Familien heute” äußern. Das Produkt wird in einen Zusammenhang gestellt, mit dem sich eine maximal große Zielgruppe identifizieren kann: „Was gibt es Schöneres und was macht mehr Sinn, als daran mitzuwirken, dass die Welt ein wenig glücklicher wird?

Seit mehr als 125 Jahren steht Coca-Cola für Lebensfreude.” Der konkurrierende Getränkhersteller Red Bull sponsert nicht nur Fußballverei ne und Extremsportler, er gibt auch ein Kulturmagazin namens  „The Red Bulletin” heraus, das „Belebendes für Geist und Körper” verspricht und dadurch das Markenbild des Energydrinks als Filter für die Betrachtung der Künste benutzt: „Sei der Zeit einen Schritt voraus!” Die Investmentholding Haniel, der mehrheitlich unter anderem Saturn und die Media-Märkte gehören, vertreibt das Magazin „Enkelfähig”, bei dem schon der Titel eine neckische Übersetzung der von der Unternehmensmarke behaupteten Nachhaltigkeit darstellt. Die einzelnen Ausgaben beschäftigen sich mit Themen wie Anstand, Mut, Alter und Wandel; „Anstand ist beim Nachwuchs das A und 0″, findet da zum Beispiel ein Interview heraus, und schon erscheint der Elektronikshop-Eigentümer wie selbstverständlich als einer, der die Moral auf seiner Seite hat.

Die Branche fordert alle Unternehmen dazu auf, solchen Beispielen nachzueifern und zu Medien zu werden, damit sie beim Kampf um Hegemonie nicht ins Hintertreffen geraten. „Content is King”, lautet der Schlachtruf. Die vergiftete Pointe dieser Parole ist freilich, dass sie das Gegenteil dessen anzeigt, was sie ohne Ansehen des Kontexts zu meinen scheint: Nicht der Gehalt eines Textes, Bildes oder Films selbst soll wichtiger werden, sondern dessen Instrumentalisierung für eine übergeordnete Organisation. Das ist für die Funktionäre solcher Organisationen so selbstverständlich, dass man es ihnen nicht als Infamie auslegen kann, wenn sie nicht eigens darauf hinweisen. Für sie ist es gar nicht vorstellbar, dass es einen Gedanken oder eine Analyse außerhalb von deren Funktionalisierung geben könnte. „Alles ist Content”, lautet ein in der Branche übliches, wenngleich bei näherem Hinsehen abgründiges Bonmot. Je mehr Content, desto weniger Bedeutung

Seitdem diese Betrachtungsweise in der Welt ist und vor allem durch das Internet auf jede Menge empirische Evidenz verweisen kann, ist nichts vor ihrer Infizierung sicher. Deshalb hat der Medienwissenschaftler Lutz Frühbrodt natürlich recht, wenn er in einer Studie der Otto-Brenner-Stiftung kürzlich darauf aufmerksam machte, dass das Content-Marketing die Grenze zwischen Werbung und Journalismus immer undeutlicher werden lasse. Doch diese Kritik geht noch davon aus, dass es einen grundsätzlichen Unterschied zwischen einem Industrie- und einem Medienunternehmen gibt. Dies jedoch ist, wenn man einmal den strategischen Content-Blick auf alles Veröffentlichte angenommen hat, fraglich.

Sind nicht alle Text- und Bild-Erzeugnisse, die sich an den Erwartungen und Wünschen ihrer Konsumenten auszurichten, sie durch gezielt ein-gesetzte Trigger einzufangen suchen, Content? Und verlangt man heute, da es die Branche schwerer hat, nicht auch jedem einzelnen Journalisten ab, sich selbst zu vermarkten und so zum Content-Ablieferer zu werden? Lassen sich nicht sogar künstlerische oder philosophische Hervorbringungen, sobald sie sich an einem kulturellen oder intellektuellen Markt zu positionieren versuchen, als Content identifizieren?

Je nach Blickwinkel erscheint nichts ehr unschuldig. Alls scheint vom Sog einer Logik mitgerissen zu werden , die zudem einen robusten materiellen Unterbau hat.

Denn die Content-Industrie trägt ihren Namen  zu Recht, schon früh war sie auf Standardisierung ausgerichtet. Schon vor Jahren mahnte die führende Strategin Rachel Lovinger, jene „Wörter und Satzstrukturen, die am besten dazu beitragen, unsere Kommunikationsziele zu erreichen”, in Leitlinien zu fixieren, damit der gesamte Ton eines Unternehmens wiedererkennbar bleibe. Bemerkenswerterweise beantwortete sie die von ihr als zentral angesehene Frage, wie man „mehr Bedeutung” in seinem Content generieren könne, eben nicht derart, dass tieferes Nachdenken, radikalere Kritik oder gründlichere Bildung vonnöten sei. Vielmehr sollte sich die menschliche Intelligenz vor allem darin zeigen, dass sie den Content „brauchbarer für Maschinen” mache: Man müsse ihn „strukturieren, Standardelemente definieren, so dass er auf dynamische Weise verwendet und wiederverwendet” werden. kenne.

Branchenvertreter weisen immer wieder darauf hin, dass die Erstellung von Content eine sehr mühselige, arbeitsintensive Sache sei. Deswegen wird er zum Teil schon jetzt an Maschinen delegiert, etwa wenn man Algorithmen einsetzt, um analytische Daten und Keyword-Trends auszuwerten und so die Themen zu finden, über die sich zu schreiben lohnt. Der Verleger Fred Zimmerman montiert auf diese Weise zu geringen Kosten ganze Bücher aus schon vorhandenem Material. Doch das ist noch ausbaufähig. Die großen Internetfirmen wie Facebook und Google im Silicon Valley arbeiten nicht umsonst unter Hochdruck an der Entwicklung von Künstlicher Intelligenz, um die von ihnen gesammelten Nutzerdaten noch effizienter verwerten zu können.

Diese Firmen stellen bisher keinen eigenen Content her, aber sie organisieren ihn, vermitteln zwischen seiner Herstellung und seinem Ver-brauch. Da diese sogenannte Plattform-Industrie die größeren Gewinne macht, sagen viele Experten voraus, dass sie irgendwann die Content-Industrie schlucken wird. Dann stünde der reibungslosen Multiplikation des Vorhandenen nichts mehr im Wege, denn der Content könnte sich unmittelbar an dem ausrichten, was die Plattform-Firmen über die Nutzer und deren Konsum- und Lebensgewohnheiten wissen. Was dabei entsteht, könnte man vielleicht als Content zweiter Ordnung bezeichnen: Wo schon heute die instrumentelle Vernunft in Gestalt von zu Medien mutierten Unternehmen die Weltbeschreibung in ihren Dienst nimmt, werden es künftig, wenn die Suchmaschinen das Kommando übernehmen, die Instrumente der Instrumente sein. Der Angelpunkt, um den. sich alles dreht, verschiebt sich immer weiter weg vom ursprünglichen Weltverhältnis der einzelnen Menschen zu den Institutionen der Vermittlung, die bei Bedarf auch durch Maschinen vertreten werden können. . Sogar der „Economist” schrieb angesichts der Automatisierungstendenzen schon besorgt von einer „post-truth-world”.

Gleichzeitig wird die Reichweite des Content immer totaler. Der Digitalchef von Volkswagen, Johann Jungwirth, kündigte vor kurzem an, dass er auch das Auto zum Content-Anbieter machen wolle. Die Wmdschutzscheiben künftiger VWs seien schon als Displays für sogenannte Augmented Reality vorgesehen. Dahinter steckt der Ehrgeiz, die zahllosen Daten, die auch die Autokonzerne mittels der hochdigitalisierten Fahrsysteme von ihren Kunden sammeln, nicht den großen Internetfirmen zu überlassen, sondern selber damit Geld zu verdienen. Für den Endverbraucher aber sinkt die Wahrscheinlichkeit, aus diesem Kabinett der sich gegenseitig reflektierenden Spiegel jemals wieder herauszufinden.

Mark Siemons – FAZ Feuilleton 9 Okt 2016