DER KURDE IST KÖNIG IN KÖLN / FAZ Interview mit Demirtas

MESOP: IN DER PARTEI DER BASIS & DER MASSEN (PKK) HAT DER FÜHRER LETZTLICH ALLEIN DAS SAGEN

FAZ – MICHAEL MAR TENS – 21-7-2014 –  Nach dem türkischen Ministerpräsidenten Erdogan reist nun auch einer seiner Gegenkandidaten, der pro-kurdische Politiker Selhattin Demirtas, durch Westeuropa, um um Stimmen von Auslandstürken zu werben. An diesem Wochenende trat er in Köln auf.

Selahattin Demirtas, Jahrgang 1973, ist Vorsitzender der vornehmlich von Kurden und türkischen Linken gewählten „Demokratischen Partei der Völker“ (HDP), die den früheren Menschenrechtsanwalt zu ihrem Kandidaten für die türkischen Präsidentschaftswahlen im August nominiert hat. Ziel der HDP ist es, den scheidenden Ministerpräsidenten Tayyip Erdogan, der für die Regierungspartei AKP antritt, in die zweite Wahlrunde zu zwingen, um im Stichentscheid Zünglein an der Waage zu werden.

Herr Demirtas, Sie legen großen Wert darauf, dass Sie nicht nur ein Präsidentschaftskandidat für die Kurden, sondern für alle Bürger der Türkei seien. Von der großen Mehrheit der Türken werden Sie aber als Kurdenpolitiker wahrgenommen, ebenso wie Ihre Partei HPD als „Kurdenpartei“ gilt. Wie wollen Sie diese Wahrnehmung überwinden?

Wir versuchen, die vielen Vorurteile gegen uns durch unsere Arbeit zu überwinden und Antworten auf alle Schwierigkeiten der Türkei zu finden. Es geht uns nicht darum, nur einzelne gesellschaftliche Gruppen anzusprechen, und dieser Ansatz trägt langsam Früchte – wir gewinnen an Zustimmung.

Unlängst sagten Sie mit Blick auf den luxuriösen Lebenswandel vieler AKP-Politiker, man könne nicht Gott und Geld zugleich verehren. Spielt Religion eine Rolle für Sie als Politiker?

Ich habe mit diesem Satz Ministerpräsident Tayyip Erdogan und seine Regierung kritisieren wollen, weil sie die Frömmigkeit der Menschen ausnutzen, um sich zu bereichern. Das gilt für Erdogan als Person und für das Netzwerk um ihn herum.

Spielt Religion eine Rolle für Sie als Politiker?

Ich bin zwar ein religiöser Mensch, aber als Politiker trete ich für den Laizismus und die gleichberechtigte Vielfalt der Religionen ein.

Sie haben keine Chance, zum Präsidenten der Türkei gewählt zu werden. Worin besteht der Sinn Ihrer Kandidatur?

Die Präsidentenwahlen sind nur eine Etappe. Meine Kandidatur ist Teil einer langfristigen Oppositionsstrategie. In der Türkei ist um Erdogan eine Struktur entstanden, die nicht demokratisch gesinnt ist. Die Oppositionsparteien CHP und MHP sind ebenfalls nicht demokratisch gesinnt, sie sind rückständig und leben in einer Türkei, die es seit 30 Jahren nicht mehr gibt. Wir haben uns deshalb sowohl von Erdogan als auch von dem gemeinsamen CHP-MHP-Kandidaten Ekmeleddin Ihsanoglu distanziert, da beide nicht unsere Werte vertreten. Beide versuchen, uns für die Stichwahl auf ihre Seite zu ziehen, aber wir lassen uns nicht instrumentalisieren.

Es existiert nämlich ein drittes Lager in der Türkei, das für Vielfalt und bürgerliche Freiheiten eintritt. Kurden gehören dazu, Aleviten, Sozialisten, Sozialdemokraten, demokratische Konservative, die Frauenbewegung, Umweltaktivisten. Wir wollen diese Gruppen einen, denn derzeit sind sie zersplittert und können nicht viel ausrichten. Auch wenn ich nicht zum Präsidenten gewählt werde, wäre damit die Grundlage einer glaubwürdigen Alternative für kommende Wahlen geschaffen.

Mit Ihrer Forderung nach einer Abschaffung der Wehrpflicht und der Religionsbehörde Diyanet machen Sie sich bei der Mehrheit der Türken allerdings nicht beliebt.

Die Abschaffung von Diyanet ist wichtig, weil dieses Amt immer die Religionspolitik des Staates vertreten und andere Konfessionen benachteiligt hat. Die türkische Wehrpflicht verstößt in ihrer heutigen Form gegen die Menschenrechte, weil es keine Möglichkeit zum Zivildienst gibt. Menschen zum Dienst an der Waffe zu zwingen, ist ein unhaltbarer Zustand. Ein Staat kann nicht einzelne Menschenrechte ausklammern. Das gilt auch für das Recht, den Dienst an der Waffe zu verweigern.

Ist die Abschaffung der Wehrpflicht mehrheitsfähig in einer Gesellschaft, die ihre Armee liebt? Fast alle Türken sind stolz auf ihre Armee, die Männer berichten mit Stolz von ihrer Wehrdienstzeit.

Fragen Sie mal türkische Männer nicht nach, sondern während ihrer Militärzeit, was sie davon halten. Als ich meinen Wehrdienst ableistete, wollten selbst die Ultranationalisten alles so schnell wie möglich hinter sich bringen. Wichtig ist, dass jeder selbst entscheiden kann, ob er Wehrdienst leistet. Immer mehr junge Türken wollen das nicht und beginnen lieber ein zweites Studium, als zur Armee zu gehen.

Erdogan hat den Kurden vor Wahlen oft viel versprochen und danach wenig gehalten. Trauen die Kurden ihm noch?

Nein. Wenn Erdogan nicht unter Druck stand, hat er keinerlei Schritte für die Kurden unternommen. Deshalb geht es bei den Präsidentenwahlen nicht um das Vertrauen in Erdogan, sondern um das Vertrauen in uns selbst, in unsere Ideen und unseren Widerstand.

Obwohl er seit 1999 in Haft ist, bleibt PKK-Führer Abdullah Öcalan ein wichtiger Faktor der kurdischen Politik. Sie waren mehrfach mit anderen kurdischen Politikern zu Beratungen bei ihm auf der Gefängnisinsel Imrali. Wie laufen diese Treffen ab? Gibt es eine Diskussion über die richtige Strategie, oder gibt Öcalan Anweisungen, die dann zu befolgen sind?

 

Herr Öcalan hat meist eine Tagesordnung, und wir haben auch eine. Vor allem geht es um aktuelle politische Entwicklungen. Wir setzen uns zusammen und diskutieren über alle Punkte. Natürlich sind die Delegation und Herr Öcalan nicht immer einer Meinung. Auch darüber wird dann diskutiert.

Und jeder hat eine Stimme?

Es ist nicht so, dass auf Imrali endgültige Entscheidungen gefällt werden. Wir diskutieren, und mit den Ergebnissen der Diskussion kehren wir zur Partei auf das Festland zurück, um weiter darüber zu sprechen.

Ist bei diesen Treffen stets ein Aufpasser vom türkischen Staat dabei?

Immer. Vertraulich können wir nichts besprechen – aber wir haben auch nicht das Bedürfnis danach.

Kann ein kurdischer Politiker in der Türkei auch gegen den Willen Öcalans erfolgreich um die Stimmen der Kurden werben?

Es gab und gibt kurdische Parteien und Politiker, die eine Politik gegen Öcalan betreiben und ihn zur Seite drängen wollen. Aber er genießt weiterhin die größte Unterstützung durch die kurdische Bevölkerung. Daher wird es keinem anderen Politiker gelingen, ihn zu verdrängen.

Sie haben gesagt, was immer auch geschehe in der Türkei, man werde nicht wieder zu den Waffen greifen. Ist die Zeit des bewaffneten Konflikts unwiderruflich vorbei?

Als Politiker stehe ich hinter diesen Worten, denn ich bin gegen Gewalt zur Lösung politischer Konflikte. Aber über die Frage, ob die Waffen ruhen sollen oder nicht, entscheiden letztlich die PKK und Herr Öcalan.

Wahlkampfauftritte Erdogans in Deutschland sind meist mit viel Unruhe verbunden. Haben Sie eine Nachricht an die Kurden in Deutschland?

Keine Diaspora der Türkei ist größer als die in Deutschland. Es ist wichtig, dass diese Diaspora zur Verständigung zwischen der Türkei und Deutschland beiträgt. Wer in einem anderen Land lebt, muss sich in dessen Gesellschaft integrieren, wobei die Integration nicht in Assimilation münden darf. Jeder Mensch soll die Sprache und Kultur seiner Herkunft bewahren können. Es geht um eine Balance zwischen Integration und Bewahrung eigener Wurzeln, damit nicht bestimmte gesellschaftliche Gruppen in Parallelwelten abgleiten, die vom Rest der Gesellschaft abkapselt sind. Das Ziel ist eine homogene Gesellschaft, in der die einzelnen Gruppen dennoch ihre Eigenheiten bewahren können.

Erdogan nennt Assimilation ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Er fordert, dass die Türken in Deutschland erst Türkisch und dann Deutsch lernen sollen.

Ich wäre froh, wenn Herr Erdogan diese Haltung auch gegenüber den Kurden in der Türkei einnähme. Der türkische Staat hat jahrzehntelang eine systematische Assimilationspolitik gegenüber den Kurden betrieben, und auch heute wird die kurdische Sprache im Bildungswesen teilweise ausgegrenzt.

Sie gelten selbst als Opfer dieses Zwangsassimilation, da Sie nur mangelhaft Kurdisch sprechen.

Es stimmt, ich beherrsche Türkisch viel besser als Kurdisch. Meine politischen Gespräche führe ich nur auf Türkisch. Aber ich versuche, mein Kurdisch zu verbessern und die Sprache zu lernen.

Sprechen Ihre Kinder Kurdisch?

Sie lernen es, aber da sie in einem türkischen Bildungssystem aufwachsen, ist Türkisch die dominantere Sprache für sie.

Im Norden Iraks könnte ein eigenständiger kurdischer Staat entstehen. Unterstützen Sie das?

Im Irak herrscht Chaos wie gesamten Nahen Osten. Daran wird sich kurzfristig nichts ändern. Die Wahrscheinlichkeit, dass die Menschen im Irak innerhalb der derzeitigen Grenzen friedlich miteinander leben können, sinkt täglich. Zwar gibt es formal noch keine Grenzen zwischen Sunniten, Schiiten und Kurden im Irak, aber de facto sind sie schon festgelegt. Es ist wichtig, dass die Menschen dort ihre Entscheidungen selbst treffen. Die gilt es zu respektieren. Es ist aber auch wichtig, dass die Entscheidungen nicht zu neuen ethnischen oder religiösen Konflikten und Kriegen führen.

Im Norden Iraks könnte ein eigenständiger kurdischer Staat entstehen. Unterstützen Sie das?

Es ist nicht sicher, dass staatliche Unabhängigkeit und Souveränität den Kurden eine Garantie für ein friedliches Leben bieten, denn die religiösen und ethnischen Konflikte der Region werden deshalb nicht verschwinden. Wichtig ist, dass die gesamte Region befriedet wird.

Trifft es zu, dass die Türkei in Syrien Terrorbanden wie den „Islamischen Staat im Irak und (Groß-)Syrien“ (Isis) oder und Nusra-Front im Kampf gegen kurdische Freischärler unterstützt hat?

Die Türkei hat seit Beginn der Kämpfe in Syrien islamistische Gruppierungen und Al-Qaida-Ableger wie die Nusra-Front unterstützt. Sie hat versucht, diese Gruppen gegen Assad und gegen die Kurden zu instrumentalisieren. Es wurde den Kämpfern leicht gemacht, die Grenze zur Türkei zu überqueren, sie konnten ihre Verwundeten dort behandeln lassen und erhielten logistische Unterstützung. Das war der größte Fehler der türkischen Außenpolitik. Jetzt erst begreift die türkische Regierung, dass sie eine falsche Syrien-Politik betrieben hat und versucht, davon Abstand zu nehmen.

Sie haben gewarnt, sollte die Türkei tatenlos zusehen, ob die islamistischen Terroristen die kurdischen Kräfte in der nordsyrischen Grenzregion Kobani besiegen, könne Isis „in 15 Tagen in Hatay und in einem Monat in Adana sein“. Ist das nicht übertrieben?

Nein, es ist eine sehr realistische Gefahr. Es ist durchaus möglich, dass Isis auch die türkischen Grenzen überwindet, in der Türkei Terroranschläge verübt und versucht, in den türkischen Grenzregionen ihre Interessen durchzusetzen. Die Grenzregion um Kobani ist von strategischer Bedeutung. Fällt Kobani an Isis, wird es gefährlich. Das ist eine große Gefahr.

Isis kann den Staat mit der zweitgrößten Armee der Nato gefährden?

Wie professionell eine Armee auch sein mag, sie sollte Isis nicht unterschätzen. Es ist eine barbarische Organisation, die bedenkenlos Gräueltaten verübt. Weder in Syrien noch im Irak gelang es den staatlichen Armeen, sie aufzuhalten. Nur die kurdischen Kräfte  haben es geschafft, Isis zurückzuschlagen – weil sie eine gut organisierteGuerillabewegung sind.

Das Gespräch mit Selahattin Demirtas führte Michael Martens.