Der Historiker Andreas Rödder: «Alle haben Angst vor Deutschland, einschliesslich der Deutschen selbst» (NZZ 28 Nov 2018)

MESOPOTAMIA NEWS INTERVIEW : GEGEN DAS NUR NOCH MORALISIERENDE DEUTSCHLAND !

Andreas Rödder ist einer der bedeutenden deutschen Zeithistoriker. Als CDU-Mitglied mischt er sich regelmässig in die Politik ein. Eines der grössten Probleme sieht er derzeit darin, dass die Deutschen nur noch moralisieren statt argumentieren. Für die deutsche Aussen- wie die Innenpolitik hat das schwere Folgen.ndreas Rödder: «Alle haben Angst vor Deutschland, einschliesslich der Deutschen selbst»

Andreas Rödder ist einer der bedeutenden deutschen Zeithistoriker. Als CDU-Mitglied mischt er sich regelmässig in die Politik ein. Eines der grössten Probleme sieht er derzeit darin, dass die Deutschen nur noch moralisieren statt argumentieren. Für die deutsche Aussen- wie die Innenpolitik hat das schwere Folgen. 

Claudia Schwartz 28.11.2018, 05:30 Uhr – NZZ –  Herr Rödder, warum ist die deutsche Frage gerade jetzt wieder aktuell?

Erstens befürchteten schon 1990 viele, ein wiedervereinigtes Deutschland würde zur neuen Vormacht in Europa werden. Mit der deutschen Vereinigungskrise trat diese Wahrnehmung eine Zeitlang zurück. Seitdem Deutschland aber zu neuer ökonomischer Stärke gefunden hat, also seit etwa 2005, hat es wieder jene «halbhegemoniale Stellung» in Europa, von der schon für das Bismarck-Reich die Rede war. Aktualisiert wurden diese Potenziale dann, zweitens, durch die Euro-Schuldenkrise und die Flüchtlingskrise.

Schon beim Westfälischen Frieden und beim Wiener Kongress ging es ja darum, Deutschland zu schwächen. Wo liegt denn da für Sie als Historiker die deutsche Frage?

Die deutsche Frage gibt es grundsätzlich in zwei Varianten. Die eine ist die Frage nach den territorialen Grenzen und der Verfassung – das war die deutsche Frage vor 1871 und nach 1949. Die andere ist die Frage nach der Verträglichkeit der deutschen Stärke mit der europäischen Ordnung – das ist die deutsche Frage von 1871 und seit 1990. Hinzu kommt eine grosse historische Irritation: Deutschland hat im 20. Jahrhundert eine beispiellose Geschichte der Zerstörung und der Selbstzerstörung erlebt. Und dennoch, trotz Weltkriegen, Diktaturen, Holocaust, Hyperinflationen und Teilung, steht das Land heute wieder da, wo es 1914 stand: Es ist die stärkste Macht in Europa. Das ist eine Geschichte, die für die Nachbarn ebenso beunruhigend ist wie für die Deutschen selbst.

«Wer hat Angst vor Deutschland», lautet der Titel Ihres neuen Buches. Wer hat denn Angst vor Deutschland?

Alle.

Alle?

Einschliesslich der Deutschen selbst. Dabei sind ganz unterschiedliche Selbstbilder und Aussenwahrnehmungen im Spiel. Die Deutschen halten sich selbst für eine friedliche Zivilmacht, während die Sicht der anderen auf die Deutschen von der Vorstellung des Furor teutonicus geprägt ist, wie es schon beim römischen Dichter Lukan hiess. Die europäischen Nachbarn verbindet mit Deutschland allesamt eine Geschichte der kriegerischen Konflikte, der Gewalt. In der italienischen Erinnerung an die Deutschen steht dafür die Plünderung Mailands durch Friedrich Barbarossa. In der französischen ist es Bismarck und der Krieg von 1870/71. In der polnischen Erinnerung sind es die polnischen Teilungen, dann der Hitler-Stalin-Pakt und die deutsche Besatzung im Zweiten Weltkrieg.

Wie politisch verlässlich ist Deutschland denn heute? Beim Stabilitätspakt und bei der Euro-Krise hat man sich ja sehr legalistisch verhalten. Im Rahmen der Flüchtlingskrise hat man Regeln und Gesetze über Bord geworfen.

In den Augen der anderen gibt es da tatsächlich grosse Zweifel. Aber das ist ohnehin eines der wesentlichen Merkmale der Aussenansicht von Deutschland seit dem 19. Jahrhundert: Neben der Wahrnehmung einer Bedrohung durch die deutsche Stärke stand immer die Vorstellung, dass die Deutschen unberechenbar und sprunghaft seien. Diese Sicht auf Deutschland hat sich in der Euro-Schuldenkrise und der Flüchtlingskrise einmal mehr bestätigt. Interessanterweise ist das deutsche Selbstbild ein völlig anderes.

Inwiefern?

Die deutsche Sichtweise besagt: Die Verträge verpflichten uns nicht zur Haftung für die Schulden anderer. Wir haben Griechenland und die anderen europäischen Staaten trotzdem unterstützt – wir waren gute Europäer. Die kritische Aussenwahrnehmung hingegen besagt, Deutschland habe zu spät reagiert und seine Aussenhandelsüberschüsse ausgeblendet, um den anderen Europäern die deutsche Sparpolitik aufzuzwingen – die Deutschen waren «geoökonomische Nationalisten». Und so verhält es sich auch mit der Flüchtlingspolitik. Wenn Angela Merkel der Meinung ist, dass sie ein Auseinanderbrechen der europäischen Institutionen verhindert hat, dann ist die Sicht der anderen die, dass Deutschland im Alleingang gehandelt hat und ihnen seinen Willen aufzwingen wollte.

Und wer hat nun recht?

Das Fatale ist, dass beide Geschichten in sich durchaus schlüssig sind, aber dass sie überhaupt nicht zusammenpassen. Und diese Diskrepanz von Selbstbildern und Aussenwahrnehmung prägte auch das Deutschlandbild im 19. und im 20. Jahrhundert.

Wie hat sich denn innerhalb dieses Spannungsfeldes im Laufe der Geschichte die deutsche Selbstwahrnehmung verändert?

Als zu Beginn des 19. Jahrhunderts überall in Europa die Idee des Nationalstaats aufkam, gab es in Frankreich bereits den Staat, und die Nation konnte sich an diesem Staat festmachen. In Deutschland gab es aber einen solchen geeinten Staat nicht, und deshalb haben sich die Deutschen behelfsweise als Kulturnation verstanden, und das auch noch mit aller Emphase der Romantik. Dieses Selbstverständnis als Kulturnation hatte immer schon eine Tendenz zum moralischen Überlegenheitsgefühl. Das Interessante ist, dass sich die Inhalte deutscher Selbstbilder seit dem 19. Jahrhundert fundamental verändert haben. Geblieben ist aber dieses moralische Überlegenheitsgefühl – heute zum Beispiel gegenüber den «fremdenfeindlichen» Polen oder Ungarn, die keine muslimischen Migranten aufnehmen wollen, oder den «irrsinnigen» Briten, die es wagen, einfach die EU zu verlassen. Im Gegensatz dazu empfinden sich die Deutschen als aufgeklärte, multilaterale Zivilmacht im Zeichen von Menschenrechten, Diversität und Antidiskriminierung.

Sind sich die Deutschen dieser Diskrepanz bewusst?

Nein, das wird viel zu wenig reflektiert. Auch das ist eine historische Konstante, dass die Deutschen nämlich sehr auf sich selbst bezogen sind. Die deutsche politische Kultur, die Standards der deutschen Öffentlichkeit haben tatsächlich etwas sehr deutsch Hermetisches an sich. Und nichts ist so deutsch wie die Frage «Was ist deutsch?». Insofern neigen die Deutschen tatsächlich dazu, sich permanent mit sich selbst zu beschäftigen.

Der frühere polnische Aussenminister Radoslaw Sikorski hat gesagt, er habe nicht Angst, wenn Deutschland führe, sondern wenn Deutschland nicht führe. Wäre das nicht ein Beleg dafür, dass die deutsche Frage obsolet geworden ist?

Ja, wenn das denn die Mehrheitsmeinung rund um Deutschland oder in Polen wäre. Aber erstens habe ich nicht den Eindruck, dass dem wirklich so ist. Und zweitens beschreibt Sikorski das Dilemma, in dem sich die deutsche Politik befindet: Es wird deutsche Führung erwartet. Wenn Deutschland aber tatsächlich Führung ausübt, dann ist sofort der Vorwurf der Vormachtambitionen zur Hand.

Nun ist diese Angst vor Deutschland derzeit ja auch eine Angst vor dem Rechts-Shift. Dabei ist der Rechtspopulismus in Deutschland viel weniger stark als in Frankreich, Polen oder Ungarn.

Einerseits erlebt Deutschland im Moment eine europaweite Entwicklung. Dass sie in Deutschland bis anhin weniger ausgeprägt stattfindet als in anderen Ländern, hat wahrscheinlich mit den Besonderheiten der deutschen Geschichte zu tun. Andererseits führt gerade die deutsche Geschichte zu besonderen Formen der Tabuisierung. So wird zum Beispiel «rechts» umstandslos mit «rechtsextrem» gleichgesetzt.

Warum ist es ein Fehler, die AfD-Anhänger pauschal als Neonazis zu bezeichnen?

Weil man damit erstens das Selbstverständnis als ausgegrenzte Opfer aufseiten der AfD verstärkt und weil man zweitens viele Menschen stigmatisiert, die keine Nazis sind, sondern gegen die etablierten Parteien protestieren.

Wie sollte man Ihrer Meinung nach auf gezielte Provokationen in geschichtsrevisionistischer Absicht reagieren, wie jene von Alexander Gauland?

Die permanente Empörung erreicht das Gegenteil dessen, was sie will, und führt nur zur weiteren Polarisierung. Das war zum Beispiel der Fall, als Gauland die AfD-nahe Stiftung nach Gustav Stresemann benennen wollte. Ich finde es als Historiker ganz unzulässig, dass die AfD Stresemann für sich in Anspruch nehmen will. Aber die Reaktion war einmal mehr weithin die, sich über diese böse AfD zu empören, statt sachlich zu argumentieren.

Besteht Ihrer Meinung nach die Gefahr, dass die Situation am rechten Rand kippen könnte? Und – ich frage Sie als CDU-Mitglied – was ist da die Aufgabe der Konservativen?

Das Problem im Moment ist, dass wir in den deutschen Parlamenten inzwischen auf der linken und der rechten Seite zusammen deutlich über 20 Prozent haben, die als nicht koalitionsfähig angesehen werden. Wenn das weiter ansteigt, ergibt sich zwangsläufig ein Problem mit demokratischer Legitimität und Repräsentation. Das Problem der CDU ist, dass sie auf der demokratischen Rechten eine Repräsentationslücke hat entstehen lassen, in die die AfD geströmt ist. Konservative und Sozialdemokraten haben sich in grosskoalitionärer Alternativlosigkeit eingerichtet. Daher wurde in der Mitte kaum noch debattiert.

Wie würden Sie denn die derzeitige politische Kultur in Deutschland charakterisieren?

Die Deutschen haben das politische Argumentieren durch emotionales Moralisieren ersetzt, wobei dies wie gesagt Tradition hat. Schauen Sie auf den Wahlkampf um die Nachfolge von Angela Merkel im CDU-Vorsitz: Auf der einen Seite findet tatsächlich eine Belebung der politischen Debatte statt. Auf der anderen Seite steht eine regelrechte Kampagne gegen Friedrich Merz. Sie zeigt, wie stark ein moralisierender Mainstream in Politik, Journalismus und Demoskopie durch Empörung ausgrenzt. Die Argumente, die gegen ihn vorgebracht werden, alleine die Frage, ob der Mann Millionär ist oder nicht, auch die Verkürzungen seiner Aussagen sind geradezu grotesk.

Was wäre denn Ihr Wunschszenario für die CDU?

Eine Lösung, mit der die CDU wieder ein unterscheidbares christlichdemokratisches Profil gewinnt. Das gäbe übrigens auch der SPD die Chance, wieder ein eigenes Profil zu entwickeln. Insofern würde ich vor allem auf Friedrich Merz oder Jens Spahn setzen. Annegret Kramp-Karrenbauer ist eine respektable christlichdemokratische Politikerin, aber doch auch eine Vertreterin dieser etablierten politischen Kultur à la Merkel. Friedrich Merz ist die unerfüllte Hoffnung der Liberalkonservativen der CDU, und Jens Spahn ist ein offener unorthodoxer Konservativer. Merz und Spahn sind die originellere Perspektive.

Wie müsste sich das Verhältnis Deutschlands zu seinen Nachbarn verändern, wenn in zwei Jahren . . .

. . . schneller!

Schneller?

Ja, schneller.

. . . also jedenfalls, wenn mit den nächsten Bundestagswahlen der politische Wechsel kommt?

Merkel war Krisenmanagerin, aber ohne Strategie. Die aber ist dringend nötig, um deutsche Interessen und europäisches Gemeinwohl auszutarieren. Deutschland sollte bereit sein, mehr für Europa zu tun. Gleichzeitig braucht es eine viel flexiblere Europäische Union, die nicht nur eine Richtung kennt, nämlich die «ever closer union», sondern die bereit ist zur Vertiefung, wo sie sinnvoll ist, aber auch zum Rückbau, wo er nötig ist. Und es braucht vielfältige nationalstaatliche Kooperationen neben der EU, insbesondere mit dem Vereinigten Königreich nach dem Brexit. Was es dazu braucht, sind empathischer Realismus und politischer Gestaltungswille – und davon hätte Europa viel mehr als von deutschem Moralisieren.

Andreas Rödder lehrt in Mainz neueste Geschichte. Zuletzt ist von ihm das Buch «Wer hat Angst vor Deutschland? Geschichte eines europäischen Problems» erschienen im S.-Fischer-Verlag, Frankfurt am Main 2018. 368 S., Fr. 32.90 (hier bestellbar*).