Demokratisches Türkeiforum (DTF) : GENERALREPORT November 2013

Die folgenden Nachrichten wurden im November 2013 vom DTF erfasst  und meist zusammenfassend übersetzt.

Polizei in Ankara hat 800 Gezi-Verdächtige identifiziert

BIA News Desk berichtete am 14.11.2013, dass nach verschiedenen Informationsquellen das Polizeipräsidium Ankara eine spezielle Einheit gegründet hat, die alle verfügbaren Video-Aufzeichnungen der Ereignisse auswerten und „Verdächtige“ im Zusammenhang mit dem Gezi-Widerstand identifizieren wird. Einige Quellen geben an, dass die Anzahl der „Verdächtigen“ schon die Zahl 800 überschritten hat.

Nach Angaben von Assistenz-Professor Levent Korkut, sind Massenverfahren eingeleitet worden. Die Staatsanwaltschaft Ankara habe sechs Verfahren wegen Verstoß gegen das Versammlungsgesetz und Strafverfolgungsgesetz“ zusammengelegt, in denen 137 Verdächtige wegen Schädigung öffentlichen Eigentums und Widerstand gegen die Polizei angeklagt sind.

Levent Korkut sagte der Nachrichtenagentur BIA, dass Anklagen gegen viele Personen unter den gleichen Beschuldigungen in einem gemeinsamen Verfahren bedeuten würde, dass sie schon vor dem eigentlichen Verfahren als eine Organisation angeklagt werden. Tatsächlich handele es sich jedoch um Leute, die an einer Demonstration teilgenommen haben.

Die Anklageschrift sei in diesem Fall sehr wichtig. In der Türkei käme es nur in 40% der Anklageschriften von Staatsanwälten zu einer Verurteilung. Die anderen 60% endeten mit Freisprüchen. Die Verfahren führten jedoch zu langdauernder Haft und Menschenrechtsverletzungen.

Diese Praxis verursache nach Entscheidung des Verfassungsgerichtes und des EGMR Menschenrechtsverletzungen – wodurch das Prestige der Türkei geschädigt würde.

Todesfälle von arbeitenden Kindern nehmen zu

Hürriyet Daily News berichtet am 20.11.2013, dass nach Angaben des Türkischen Statistischen Instituts (TurkStat), es 2013 in den ersten 10 Monaten 55 Todesfälle im Rahmen von Kinderarbeit gegeben habe. Nach Daten des Ministeriums für Arbeit und soziale Sicherheit starben im Jahr 2011 bei Arbeitsunfällen 1543 Arbeiter, darunter 28 Kinder.

Daten von TurkStat über Zahlen von arbeitenden Kindern in der Zeit vom letzten Quartal 2006 bis 2011 zeigen, dass 2006 die Zahl der arbeitenden Kinder 618.000 betrug und auf 448.000 im Jahr 2012 abgenommen hat. Die Zahl der im Haushalt beschäftigten Kinder hat ebenfalls von etwa 1 Million in 2006 auf 503.000 in 2012 abgenommen.

Der Minister für Arbeit und Soziale Sicherheit Faruk Çelik hat in Stellungnahmen geäußert, dass die Regierung in den letzten 11 Jahren wichtige Anordnungen hinsichtlich des Themas Arbeit erlassen habe, darunter Reformen bei der sozialen Sicherheit, allgemeine Krankenversicherung und Gesetze zur Sicherheit am Arbeitsplatz. Er sagte, das Ministerium arbeite hart für die Verhütung von Kinderarbeit. Neue Gesetzesentwürfe zur Arbeit von Kindern im kulturellen und artistischen Bereich würden in naher Zukunft fertiggestellt und dem Parlament vorgelegt. Trotz Zunahme der Zahl Beschäftigter von 2002 bis 2012 auf 128 % sei die Zahl der Arbeitsunfälle mit Todesfolge berechnet auf 100.000 Beschäftigte von 16,8 auf 6,2 gefallen.

Ein OECD-Bericht von 2009 mit dem Titel „Comparative Child Well-Being across the OECD” (Vergleich des Kindeswohls in der OECD) führt die Türkei in den Kategorien materielles Wohlergehen, Bildungs-Wohlergehen, Gesundheit und Sicherheit unter 30 OECD-Staaten als letztes Land auf. In der Kategorie riskantes Verhalten war die Türkei an 29. Stelle. In der Kategorie Qualität des Schullebens war die Türkei an 12. Stelle.

 

In fünf Jahren 802 Frauen durch häusliche Gewalt getötet

In den ersten 9 Monaten dieses Jahres wurden nach einem Bericht des Online Portals T24 vom 25.11.2013 in der Türkei etwa 136 Frauen bei Vorfällen häuslicher Gewalt getötet. Dadurch stieg die Gesamtzahl der vergangenen 5 Jahre auf 802 Fälle. Diese Zahlen wurden von den Behörden am 25. November, dem Tag zur Beendigung von Gewalt gegen Frauen bekannt gegeben. Das Online Nachrichtenportal T24 äußert, dass das Problem trotz einiger durchgeführten Maßnahmen weiterhin alarmierend ist.

Die Regierung hatte im letzten März das Gesetz zum Schutz der Familie und zur Verhütung von Gewalt gegen Frauen in Kraft gesetzt mit dem Ziel, das Schutzsystem deutlich zu verbessern.

Aufgrund der Auswirkungen der Gesetzgebung waren die Fälle häuslicher Gewalt zwischen März 2012 und Januar 2013 um 5 % zurückgegangen. In diesem Jahr wurden 28.000 Frauen in der Türkei Gewalt ausgesetzt. Nach offiziellen Angaben wurden in 4.500 Fällen Schutz- und Vorbeugungsmaßnahmen ergriffen.

Seit Januar 2013 wurde in den Fällen von 50.000 Frauen durch Gerichtsbeschluss ihren Männern oder Partnern verboten, sich ihrer Wohnung zu nähern, oder andere Maßnahmen eingeleitet. Dies geschah vor allem in den Großstädten Istanbul, Ankara und Izmir.

Seit Mai dieses Jahres sind mehr als 11.000 Frauen wegen drohender häuslicher Gewalt unter Polizeischutz.

34 Transsexuelle von 2008 bis 2013 in der Türkei ermordet

Das BIA Nachrichtenzentrum berichtet am 20. November 2013 über eine Presseerklärung der Organisation Kırmızı Şemsiye Derneği (Verein Roter Schirm), in der über Morde an Transsexuellen, Hass ihnen gegenüber und über prostituiertenfeindliche Gesetze berichtet wurde, und dass die Politiker Trans-Menschen weiterhin als Zielscheibe benutzen.

Transexuelle und SexarbeiterInnen werden gesellschaftlich geächtet und vom Arbeitsmarkt ausgeschlossen sowie als “krank, zu verbessern und zu säubern” angesehen. Laut dem Verein Krimizi Semsiye waren 75 % der zwischen 2009 und 2011 ermordeten Transsexuellen SexarbeiterInnen. Als SexarbeiterInnen sind sie aber in keiner Weise geschützt und vielen Gefahren und Risiken ausgesetzt. Der Staat tut auch nichts, um sie zu schützen. Letztlich sind sie daher sehr oft Opfer von Gewalt und Ausbeutung. Statt sie zu schützen, macht die Polizei sozusagen mit, in dem sie Strafen verhängt, Razzien durchführt und Gewalt ausübt. Der Staat versucht Prostitution über die Prostituierten einzudämmen, nicht über die Freier. Zwischen 2008 und 2013 wurden in der Türkei 34 Transsexuelle ermordet/getötet, fünf davon in 2013.

Wie wusste Polizei, dass 78% der Gezi Protestierenden Aleviten waren?

Orhan Kemal Cengiz schreibt am 26.11. 2013 in der Tageszeitung Today’s Zaman:

Laut einer von der Tageszeitung Milliyet kürzlich veröffentlichten Nachricht hat die Polizei einen detaillierten Bericht über das Profil der Gezi-Demonstranten erstellt. Bei dem Bericht wurden während der Proteste Festgenommene als Muster benutzt. Der Bericht enthält einige interessante Informationen und einige merkwürdige Details. Laut der Polizei haben 3.6 Million Leute an den Gezi-Protesten im ganzen Land teilgenommen. Insgesamt wurden 5.513 Demonstranten von der Polizei festgenommen. Das letztere ist eine Statistik, das erste ist eine Annahme. Die tatsächliche Zahl könnte viel höher sein.

Der Polizeibericht stellt aufgrund seiner „Muster“ fest, dass die Hälfte der Verdächtigen Frauen waren. Etwa 15% der Demonstranten haben die Grund- und die Mittelschule abgeschlossen, 25% hatten Universitätsabschlüsse und 36% studierten noch an Universitäten.

Die Polizeistatistik zeigt auch, dass die meisten Demonstranten junge Leute waren, 56% der Festgenommenen waren im Alter von 18 bis 25 Jahren und 26% waren im Alter von 26-30 Jahren.

Orhan Kemal Cengiz bezweifelt, dass diese Statistik der Polizei das exakte Profil der Demonstranten zeigt. Ein großer Teil der Demonstranten war friedlich und die meisten Festnahmen geschahen im Zusammenhang gewaltsamer Auseinandersetzungen. Daher spiegeln die Festgenommenen nicht das Profil der gewöhnlichen Demonstranten wieder.

In dem Polizeibericht gebe es jedoch einen seltsamen und verdächtigen Punkt. Es heißt, dass 78% der Festgenommenen bei den Gezi Protesten Aleviten waren. Wie hat die Polizei diese Information herausgefunden? Diese Information steht nicht in den Identitätspapieren. Bei Volkszählungen wird nicht nach Sunni und Alevi unterschieden. Hat die Polizei jeden Demonstranten gefragt, ob er Alevi sei? Wenn das eine weitverbreitete Praxis sei, hätte er davon erfahren. Einige der Festgenommenen hätten die Presse darüber informiert.

Der CHP-Parlamentsabgeordnete Sezgin Tanrikulu, ein Anwalt in Menschenrechtsfragen, stellte wegen dieses Problems eine parlamentarische Anfrage, die noch beantwortet werden muss.

Organ Kemal Cengiz erinnert an einen Fall, bei dem im August dieses Jahres zufällig aufgedeckt wurde, dass alle nicht-muslimischen Staatsbürger der Türkei einen Herkunftscode haben. Dies kam heraus, als eine Frau ihr Kind in einer armenischen Schule anmelden wollte. Ihr wurde geantwortet, dass ihrem Kind erst eine gewisse Nummer in der Registratur der Volkszählungsdaten gegeben werden sollte. Es wurde bekannt, dass dies seit Beginn der türkischen Republik eine standardmäßige Praxis ist. Dadurch werde manches erklärt. Plötzlich sei verständlich, wie der türkische Staat nicht muslimische Schüler erkennen kann.

Es stellt sich die Frage, ob es ähnliche Herkunftscodes für die alevitischen Staatsbürger gibt.

Polizei in Izmir erstellt Listen von kurdischen und alevitischen Schülern

Am 27. November 2013 berichtete die Internet-Nachrichtenagentur BIA, dass offenbar die Polizei in Izmir sich an die Verwaltungen der Sekundarschulen gewandt habe und Listen von Schülern mit einem kurdischen oder alevitischen Hintergrund gefordert hat. Abduallah Tunali, ein Mitglied der Bildungsgewerkschaft Egitim Sen, sagte, dass die Polizei den Lehrern gesagt habe, sie würden mit den Familienmitgliedern sprechen, um ihre Kinder von Straftaten fernzuhalten. Die Gewerkschaft habe alle ihre Mitglieder aufgefordert, keinerlei Informationen über das Profil der Schüler zu geben.
Zuvor habe die Polizei in der Provinz Izmir ein Projekt begonnen mit dem Titel „Schul-Polizei“. Izmir war für ein Pilotprojekt ausgewählt worden, das zum Ziel hat „Gewalttaten an Schulen zu verhüten“.
Tunali berichtete, dass zivil gekleidete Polizisten staatliche Schulen besucht und Interviews mit Schülerberatern geführt haben. An einigen Schulen hätten sie Informationen über fünf Schüler mit alevitischem und kurdischem Hintergrund verlangt und gesagt, dass dies für eine Mittagessen-Organisation sei. Als die Schulverwaltung fragte, warum sie nach diesen Namen fragten, antworteten die Polizisten, dass Aleviten bei den Gezi-Protesten eine herausragende Rolle gespielt hätten und diese Leute die Organisationen PKK und TIKKO unterstützten. Sie planten Seminare zu halten und Informationen zu verbreiten, um Kinder mit alevitischem oder kurdischem Hintergrund davon abzuhalten rekrutiert zu werden.
Egitim Sen gab eine Erklärung ab, dass dieser Vorfall das letzte Beispiel von Registrierung von Menschen mit anderem religiösen und ethnischen Hintergrund sei.
Sprecher des Polizeipräsidiums Izmir sagten BIANET, dass solche Praktiken ihres Wissens nach nicht möglich seien. Der Versuch einer solchen Registrierung widerspreche ihrer Berufsethik.

Allein im November 257 Festnahmen und 90 Verhaftungen bei KCK-Operationen

Die Informationsstelle Kurdistan (ISKU) veröffentlichte Berichte der Nachrichtenagentur DIHA und von Demokratie hinter Gittern vom 30.11.2013 über Festnahmen und Verhaftungen:

Die Festnahmen und Verhaftungen im Zuge der sogenannten KCK-Operationen haben im November einen neuen Höhepunkt erreicht. Trotz des „Demokratischen Lösungsprozesses“ wurden zwischen dem 1. und 30. November wegen angeblicher Verbindung zu einer verbotenen Organisation 257 Personen festgenommen und 90 von ihnen verhaftet. Bei den meisten handelt es sich um Jugendliche. Die Menschenrechtsbeauftragte der BDP, Meral Danış Beştaş, erklärte, diese Festnahmen und Verhaftungen gefährdeten den Lösungsprozess und würden im Hinblick auf die bevorstehenden Wahlen erfolgen.

In einer Zeit, in der von der Regierung eigentlich demokratische Schritte erwartet würden, sei der Anstieg der Verhaftungen im letzten Monat Anlass zu größter Sorge. Während heute gesetzliche Maßnahmen für die Freilassung tausender politischer Gefangener erwartet werden, erfolgen täglich neue Operationen, die dem Geist des Prozesses widersprechen und eine Lösung blockieren.

Im Oktober wurden 168 Personen festgenommen, 71 von ihnen wurden verhaftet. Der nochmalige Anstieg im November gibt zu denken.

 

 

Demokratisches Türkeiforum e. V.
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Das Demokratische Türkeiforum e.V. (DTF) setzt sich seit der Gründung 1990 für die Einhaltung der Menschenrechte und für Demokratie in der Türkei ein. Das DTF ist die deutsche Unterstützergruppe der Menschenrechtsstiftung der Türkei (TIHV). Spenden an das DTF werden praktisch zu 100% an die TIHV weitergeleitet.

Seit ihrer Gründung hat die TIHV mehr als 12.000 Folteropfer kostenlos behandelt. Behandlungszentren existieren in Ankara, Istanbul, Izmir, Adana und Diyarbakir. Das Dokumentationszentrum in Ankara gibt tägliche Berichte über Verletzungen der Menschenrechte in Türkisch und Englisch heraus und erstellt daraus Jahresberichte. Die Homepage des DTF wird als Sicherungskopie vieler dieser Dokumente genutzt.

Wie Unterstützergruppen in einigen anderen europäischen Ländern möchte das Demokratische Türkeiforum (DTF) in Deutschland zu der Finanzierung der TIHV beitragen. Spenden an das DTF e.V. werden in vollem Umfang an die TIHV weitergeleitet; sie sind steuerlich absetzbar.

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