BILLIGE TUGEND ! – Von Wolfgang Streeck – Max Planck Institut für Gesellschaftsforschung Didier Eribon lag mit seiner Kritik an Sahra Wagenknecht im Feuilleton der FAZ falsch: Offene Grenzen sind noch keine Politik. Die Linken brauchen vielmehr einen neuen Internationalismus:

MESOPOTAMIA NEWS „UNTEILBAR FALSCH“ : IN DER LBGTQ-KULTUR ZÄHLT NUR ‚PASSIVER HEROISMUS‘ – MAN MUSS AM BESTEN OPFER SEIN, NICHT REVOLUTIONÄR

 

Sahra Wagenknecht ist mitverantwortlich für das, was in Chemnitz geschehen ist, weil sie die sogenannte Migrantenproblematik zum Bestandteil der linken Agenda gemacht hat (. . .) Wagen-knechts Aussage, sie sei gegen das Konzept offener Grenzen, (. . .) suggeriert, dass man mit ihr auch über Grenzzäune, Hunde und Internierungslager reden kann.”

Das ist eine Menge Holz, vor allem von jemand, der sich “in gewisser Weise” für das “verantwortlich” erklärt, was Wagenknecht so alles unternimmt. Ich habe, wie andere auch, Eribons “Rückkehr nach Reims” – als Soziologe war er und ist er mir bis heute nicht aufgefallen – durchaus mit Bewegung gelesen. Hätte ich das Buch zu rezensieren gehabt, hätte ich den Dauertriumphalismus des Autors über seinen eigenen Bildungsaufstieg etwas nervig gefunden; Bildungsaufsteiger gibt es in unserer Generation ja nicht gerade selten. Wichtiger, mir wäre die geradezu ontologische Beschreibung der Arbeiterklasse, jeder Arbeiterklasse und nicht nur der Familie Eribon, als “rassistisch” merkwürdig und bemerkenswert erschienen.

In Eribons Interview findet sich Wahres wie Falsches, Verständliches wie wirres Zeug. Ich beschränke mich hier auf das, was Eribon Wagenknecht als „Migrantenproblematik” zuzuschreiben versucht – wo Aufstehen! versucht, die Blockade linker Politik in Deutschland durch die sogenannte „Flüchtlingsfrage” zu überwinden. Das ist alles andere als einfach; das deutsche Einwanderungsregime ist eine Katastrophe, ein einziges Durcheinander von Interessen, Rechten, Zuständigkeiten und Identifikationsangeboten, beinah unreformierbar auch im Angesicht neuer Entwicklungen, für die es nie gedacht war. Für Eribon freilich gibt es da kein “Problem” und bedarf es folglich auch keiner Politik, um es zu „lösen”; no borders wäre alles, was gebraucht würde.

Nun ist es freilich nicht so, dass es mit offenen Grenzen keine Erfahrungen gäbe, etwa in Italien bis vor ein paar Jahren, aus geographischen Gründen und infolge einer landestypischen Kombination aus menschenfreundlichem Laissez-faire und administrativer Ineffizienz. So konnte man dann also in Florenz an jeder belebteren Straßenecke und auf jeder größeren Piazza Afrikaner sehen, die dort Zehnerpakete Papiertaschentücher verkauften. Manchmal, selten, sah man auch Kunden, die ihnen etwas abnahmen – aus Mitleid? Oder weil in den Paketen vielleicht doch nicht nur Papiertaschentücher waren? Wenn es regnete, waren dieselben Afrikaner immer noch da; dann aber verkauften sie Regenschirme, für zwei Euro fünfzig, die nur einen Regen lang hielten und deshalb nach Benutzung in der Mülltonne landeten.

Wo kamen die Taschentücher und die Regenschirme her? Ab und zu berichtete die Lokalpresse über zerfallende Häuser am Stadtrand, wo die afrikanischen Verkäufer übernachteten und gegen Ablieferung ihrer Einnahmen frische Ware erhielten – von wem? Man ging der Sache nicht weiter nach. Später sickerte durch, wie Migranten auf den Obst- und Gemüsefeldern Siziliens Sklavenarbeit leisteten, unter unmenschlichen Bedingungen, kontrolliert von der einheimischen italienischen oder einer mit ihnen eingereisten afrikanischen Mafia oder beiden.

Dass deutsche Internationalisten bei gelegentlichen Italienurlauben die fremdenfreundliche Großzügigkeit des italienischen Staates rühmten, hörte allmählich auf; heute wundern sie sich, wie schnell die Gleichgültigkeit der Taschentücher und Schirme verbrauchende Bevölkerung in Unterstützung für die Lega und deren brutal restriktive Einwanderungspolitik umgeschlagen ist, auch ohne dass den Einwanderern staatliche Leistungen gewährt wurden und werden. Lernen wollen sie daraus freilich nicht – stattdessen bekunden sie wie Eribon freigiebig ihre ihren moralischen Abscheu.

Wer staatlich-demokratische Politik und öffentliche Ordnung noch nicht völlig abgeschrieben hat, könnte sich fragen, ob der italienische Staat seinerzeit mit dem Offenhalten seiner Grenzen schon sämtliche Verpflichtungen gegenüber den Migranten erfüllt hat. Müssen Staaten die Menschen auf ihrem Territorium, Immigranten oder nicht, vor Versklavung schützen? Müssen sie dafür sorgen, dass junge Einwanderer nicht mit Rauschgift angefixt werden, um dann als Rauschgifthändler ihr Rauschgiftgeld zu verdienen? Sind sie dafür verantwortlich, dass die Kinder von Einwanderern gute Schulen besuchen können und tatsächlich besuchen?

Müssen sie den Import jung afrikanischer Frauen, getarnt als Flüchtlinge, europäische Bordelle verhindern, oder kann ihnen deren Bestimmungsort gleichgültig sein: nachdem sie ihrer Pflicht, alle einzulassen, nachgekommen sind? Sollen sie sich dafür zuständig fühle, dass auf ihrem Boden keine neue Unterschicht entsteht – bei Amazon und Co. ihr Leben verschwendende mögliche Ärzte, Ingenieure, Revolutionäre in ihren Heimatländern? Und was ist mit der Verantwortung einer Gesellschaft für sich selber, wahrzunehmen mittels demokratischer Politik – dafür, dass in ihr die Ungleichheit nicht den Himmel wächst; dass wenigstens die zweite und dritte Generation ihrer eingewanderten Familien voll am sozialen Leben teilnehmen kann; dass es eine funktionierende öffentliche Infrastruktur und menschenwürdige Wohnungen in ausreichender Zahl gibt für alle diejenigen, –  einheimisch oder eingewandert, – deren private Mittel für ein gutes Leben nicht reichen? Soll das im Zeitalter der Migration Schnee von gestern sein? Wenn es das aber nicht sein und es weiterhin staatliche Verantwortung für gesellschaftliche Zustände geben soll dann gilt: unbegrenzt geht das nicht, solange die verfügbaren Mittel nicht auch unbegrenzt sind.

Vielleicht sollte es auch möglich sein, die Sache aus den Augen derjenigen zu betrachten, von denen unter Androhung des Rassismusvorwurfs verlangt wird, dass sie sich einem Leben in offen Grenzen als einzig möglichem moralisch einwandfreien  Leben fügen und jede Einschränkung freien Zugangs zu ihrer Welt für, von „Rassismus” definitionsgemäß freie, Migranten – alle Migranten – moralisch verwerflich finden.

Mann beobachten, wie Menschen derartige Zumutungen als moralische Herabstufung ihrer selbst und als Delegitimierung dessen empfinden, was sie als ihr kulturelles und materielles Kollektiveigentum mit aufgebaut haben. Nicht ausgeschlossen, und ebenfalls gut beobachtbar, dass viele bereit sind, davon etwas abzugeben – nicht je Nicht-Kosmopolit ist schließlich wie Eribons entsetzlicher Vater. Aber man möchte doch wohl über das Teilen – von was? mit wem? – mitsprechen dürfen, anstatt sich von moralisierenden Politikern, Journalisten, Kirchenfürsten und anderen bevormunden zu lassen:

Ohnehin gibt es nur ein Recht auf Aus-, nicht auf Einreise – wohl aber auf Schutz und Hilfe in Not, wo und wie sie am wirksamsten geleistet werden kann. Wer im Namen eines Nicht-Menschenrechts Bürgerrechte für irrelevant erklärt – weil er keine Nationen mehr kennen will, sondern nur noch Individuen – der darf sich nicht wundern, wenn Leute glauben, dass die Verteidigung von Bürgerrechten einen Kampf gegen Menschenrechte erfordere. Und wenn Demokraten nationale Demokratie durch globale Migrationsrechte überlagert sehen wollen – soll man da überrascht sein, wenn nationale Nichtdemokraten die Gelegenheit nutzen, sich als Verteidiger der Demokratie aufzuspielen?

Den Merkels und Macrons dieser Welt sind „linke” Forderungen nach offenen Grenzen durchaus sympathisch, weil sie die grüne Linke von der roten abspalten und sie damit in das neoliberale Lager hineinziehen. Merkel, die Erdogan und den libyschen Warlords viel Geld bezahlt, damit sie die europäischen Außengrenzen dicht machen, kann deshalb sogar „Obergrenzen” ablehnen und so einen Teil der grünen Willkommensfraktion an sich binden – eine machiavellistische Meisterleistung, mit der sie die AfD als Auffangbecken ehemaliger oder potentieller „roter” Wähler ebenso kultiviert wie die Grünen als Ersatz für eine entlang der Grenzfrage auseinanderfallende SPD.

Eribon, in seinem mit vielen anderen geteilten Verlangen, endlich seine rote Herkunft loszuwerden, lässt sich erstaunlich leicht dafür einspannen. Ziel ist, nach dem Ende der alten Linken in der Sackgasse der offenen Grenzen eine neue moralische statt klassenpolitische Links-rechts-Polarisierung mit kosmopolitisch-liberaler, antipopulistischer Hegemonie zu etablieren, deren Verlierer unter Rassismusverdacht gestellt und deshalb politisch ignoriert werden können.

„Kosmopolitische” Forderungen nach offenen Grenzen aktualisieren wie nichts anderes eine in Jahrzehnten gewachsene Furcht vor einem Ausgeliefertsein gegenüber der Zufälligkeit nicht nur von Migrationswellen, sondern auch von unregulierten Märkten für Güter, Dienstleistungen und Kapital. Während aber der freie Waren- und Kapitalverkehr nur schwer menschenrechtlich begründbar ist und sich im ‘Übrigen zunehmend als politisch nicht nachhaltig herausstellt, wird zur moralischen Erzwingung der Entgrenzung, Entnationalisierung und damit Entstaatlichung der Welt heute gern auf die Figur des hilfesuchenden Migranten zurückgriffen. Widerstand gegen grenzenlose Immigration ist dann die tagesaktuelle Form des Widerstands gegen den Rückzug des Staates aus seiner wirtschaftlichen und sozialen Schutzfunktion.

Wer diesen Widerstand und die Angst, die ihm zugrunde liegt, der Lega, den Schwedendemokraten oder der AfD überlässt, indem er ihn als nicht cool abtut oder als rassistisch denunziert, der öffnet dem politischen Unheil Tür und Tor.

Wenn man an die 196oer und 197oer Jahre zurückdenkt, dann erscheint es eigenartig und bezeichnend, wie Migration heute zum Prüfstein linker  Tugend geworden ist. Damals war der Held nicht der Migrant, der für sich (und vielleicht seie Familie) „ein besseres Leben” suchte, sondern er Revolutionär in seinem Kampf für eine bessere Gesellschaft – der zu Hause die Überreste des Kolonialismus, zur Not mit Gewalt, beseitigte, um mit dem Aufbau einer Gesellschaft der Freien und Gleichen, damals auch bekannt als Sozialismus, beginnen zu können. Patrice Lumumba, Che Guevara, Nelson Mandela als Asylsuchende?

Inzwischen haben die Kleptokraten in der ehemaligen Dritten Welt gelernt, wie man mit Hilfe westlicher Truppen und Drohnen die Verhältnisse „stabil” hält. Übrigens sind besagte Kleptokraten nicht weniger enthusiastische Anhänger offener Grenzen als Eribon einerseits und die neoliberalen Globalisierer andererseits: Auswanderung nimmt Druck aus den örtlichen Konflikten und bringt in Gestalt von Remittenden Geld ins Land, was die Fortsetzung der Extraktion von Kapital und Profit in Richtung Schweizer Banken und westlicher Konzernzentralen komfortabel unterstützt.

Erstaunlicherweise ist davon im “linken Diskurs” heute so gut wie nichts präsent – hier geht es allein um eine von der „kosmopolitischen” Subkultur postulierte moralische Pflicht der Unterschichten der westlichen Länder (von Steuererhöhungen für Großverdiener oder Unternehmen ist im Zusammenhang von Migration nichts zu hören), durch „solidarisches Teilen” die Probleme der in ihrer Heimat um ihr Leben gebrachten wandernden Menschen – ja was, zu lösen?

Die Bekämpfung von „Fluchtursachen” hat man bekanntlich den Verteidigungsministern überlassen, die darunter verstehen, den Kleptokratenregimen an der kapitalistischen Peripherie ein ewiges Leben und reichlich Schmiergeld zu versprechen, damit diese ihrerseits versprechen (und bei Versprechen wird es bleiben), den Drang ihrer Bürger nach Europa zu bremsen.

 

Können wir uns denn als „Linke” überhaupt nicht mehr vorstellen, dass es eigentlich unsere Aufgabe wäre, diesen Gesellschaften zu helfen, statt nur ihren Ausbeutern einerseits und ihren davonlaufenden Ausgebeuteten andererseits, wobei in trauter Arbeitsteilung die Hilfe für die einen von unseren Regierungen und die für die anderen von denen geleistet werden soll, die selber nichts haben? Was für ein Defätismus!

Und was für eine erstaunliche Übernahme der neoliberalen Nichtigkeitserklärung staatlich-demokratischer Politik zugunsten globaler Märkte und kostenloser Moralpredigten – Moralpredigten, die freilich nur allzu leicht in sogenannte “humanitäre Interventionen” übergehen, wie im Irak, in Syrien, in Libyen. Deren Folge sind dann eben jene Flüchtlingswellen, die von der Eribon-Linken als Naturereignisse -Ursache: Klimawandel! – verkauft und für antirassistische Bewährungsproben genutzt werden, während es sich in Wahrheit um nichts anderes handelt als um Kollateralschäden postkolonialer Machtsicherungsfeldzüge, zu denen einem doch etwas mehr einfallen könnte als eilfertige Einzelfallbarmherzigkeit.

Der Autor ist Soziologe und Direktor emeritus am Max-Planck-Institut für Gesellschaftsforschung in Köln. Seine Erwiderung bezieht sich auf das Interview mit Didier Eribon in der Sonntagszeitung FAZ/FAS vom 30.9.2018.

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