ALEXIS DIRAKIS – DIE POLITISCHE KORREKTHEIT ODER DIE IMPLOSION DES POLITISCHEN
MESOP CULTURE : DIE LOGOPÄDISCHEN SPRECHAKTE DER SIMULATIVEN LBGTQ-KULTUR
(Alexander Dirakis, Mitglied des Centre Marc Bloch, Berlin)
Die Geschichte meldet sich zurück. Dieser häufig wiederholte Satz traf wohl nie in solchem Ausmaß zu wie im Hinblick auf die politischen Umwälzungen, die die Welt zum allgemeinen Erstaunen jeden Tag mehr außer Atem bringen.
Das Auftreten eines theokratischen Totalitarismus, der den Westen bekriegt, die zunehmende Abwendung der Völker Europas von der EU, das Anschwellen »populistischer« Bewegungen — die das wachsende Misstrauen zwischen den Völkern und den Eliten deutlich macht —, die Unstetigkeit der deutschen Außenpolitik, die Bedrohung durch Terrorangriffe, der historische Bruch im »Brexit« — und schließlich die Wahl eines Mannes ohne politische Ausbildung und entsprechende Erfahrung an die Spitze der größten Weltmacht: Der Westen steht im Bann von Ereignissen, deren Unvorhersehbarkeit erstaunen lässt, beunruhigt und verwirrt. Wenn Geschichte zurückkehrt, so deswegen, weil diese Zeitraffung uns aus unseren bequemen Träumen von einem vorweggenommenen Ende der Geschichte reißt: vom Verschwinden der Politik in der Wirtschaft, von der Verleugnung kultureller Unterschiede (und ihrer antagonistischen Spannungen), von der unwiderstehlichen Expansion des Individualismus, vom unüberschreitbaren Horizont des Transnationalismus, vom auf ewig erworbenen Frieden …
Welche Antworten der Westen auch immer auf diese instabile und verworrene Lage finden wird —sie werden den Geist der politischen Korrektheit nicht umgehen können, um unsere Gegenwart und die ideologischen Gräben in der Zivilisation des Westens zu verstehen.
In der Tat lassen und ließen sich zahlreiche Ereignisse anhand dieses schon vertrauten, aber noch kaum erfassten Phänomens interpretieren: So wurde z.B. der Sieg von Donald Trump als Revanche der USA gegenüber der politischen Korrektheit gedeutet, die Islamisierung als Konsequenz der Verleugnung des radikalen Kommunitarismus in heutigen Demokratien, der Fundamentalismus als identitätsbildende Kompensation des die politische Korrektheit begleitenden Werte-Vakuums im Westen, das Anwachsen populistischer Bewegungen als Reaktion auf die Sprachregelung der Eliten, das inkonsequente Entgegenkommen Berlins in der Flüchtlingspolitik als Versuch, die Sorge um seine Vormachtstellung auf dem Kontinent zu zerstreuen, usw.
Das Thema »politische Korrektheit« hilft bei der Analyse der internationalen Spannungen — etwa zwischen einem Deutschland, das seinen Partnern eine radikale Position in Sachen Migration aufzwingen will, und einem Osteuropa, das dieser moralischen Position nichts abgewinnen kann. Aber die häufige Verwendung eines Begriffs bedeutet nicht, dass dieser richtig verstanden wird — eher im Gegenteil. Obwohl über politische Korrektheit jahrzehntelang ausgiebig gestritten worden ist, sind Bedeutung und Entwicklung dieses Begriffs zweideutig und dunkel geblieben.
Die politische Korrektheit ist desto einflussreicher, je mehr sie sich als fehlgeleitete Evidenz erweist, desto zwingender, je mehr sie jede Unterdrückung verdammt, desto unkritischer, je mehr sie sich jeder Kritik entzieht und blind für ihre eigene Mechanik ist, desto machtvoller, je mehr sie jede Macht bestreitet, desto verborgener, je mehr sie nicht unter ihrem eigenen Namen auftritt. Sie ist desto unfassbarer, je mehr sie sich im gesamten Alltags- und öffentlichen Leben ausbreitet: als politisches und historisches Bewusstsein, moralischer Impuls, juridische Gewalt, Ideologie, Kultur, Wahrnehmung und Bewertung der Wirklichkeit. Zu wissen, worum es bei der politischen Korrektheit geht, ist deswegen so wichtig, weil sie unsere Zivilisation grundlegend charakterisiert.
Diese ihre besondere Vielschichtigkeit verbietet es, sie einfach auf wirtschaftliche Entwicklungen zurückzuführen. Zwar kann man sie verstehen als ideologische Entsprechung struktureller Entwicklungen, die den gegenwärtigen Kapitalismus kennzeichnen. Wir erkennen Wechselbezüge zwischen der Wirtschaft und der Verbreitung politischer Korrektheit, doch eben auch zahlreiche ins Auge stechende Gegensätze zwischen ihnen. Wir sehen Gesellschaften eines entfesselten Neoliberalismus und Partisanen des Raubtierkapitalismus, die mit politischer Korrektheit nichts im Sinn haben. Die unverkennbar enge Beziehung zwischen Wirtschaft (Kapitalismus) und Ideologie (»westliche Werte«) erweist sich weniger als strukturelle Notwendigkeit, sondern als Folge derselben Herkunft.
Eine Zensur
Politische Korrektheit zeigt sich vor allem als Verbot. Sie ist Zensur, eine moralische Zensur, die zur Verrechtlichung tendiert — das heißt, sie ist doppelt zwingend. Im Unterschied zur gewohnten und gebräuchlichen Selbstkorrektur im höflichen Verhalten anderen gegenüber verurteilt die politische Korrektheit jede offenkundige oder unterstellte Bewertung einer Gruppe und ihrer Mitglieder. Sie zeigt sich als Vorsichtsmaßnahme gegen die Ablehnung menschlicher Gruppierungen — genau genommen gegenüber den ihnen zugehörigen Personen, sofern vom Zensor bestritten werden kann, dass es diese Gruppe überhaupt gibt. Die politische Korrektheit ist somit eine Maßnahme zum Schutz menschlicher Gruppierungen, eine Art von Anweisung zur vorsichtigen Wortwahl.
Die politische Korrektheit wirkt auf ganz unterschiedliche Weise und geht schrittweise voran.
- Sie richtet sich gegen die als abwertend angesehene Beurteilung einer Gruppe (in allgemeinen Feststellungen, in Bezug auf Einsichtsfähigkeit, Zivilisiertheit, auf den Bereich der Hygiene, des zwischenmenschlichen Umgangs, des Wohlwollens usw. in der betreffenden Gruppe),
- gegen Beurteilungen, die generalisieren und deswegen als beleidigend gelten — wegen einer typisierenden Wahrnehmung derselben. Zum Beispiel: »Dieses Verhalten ist typisch für ein Mitglied der Gruppe X» —»die Mitglieder der Gruppe X sind bekannt für diese und jene Art des Handelns« usw. Die Typisierung wird so mit einer Wesensbestimmung, mit einer ethnischen oder biologischen Kennzeichnung gleichgesetzt.
- Die als herabsetzend angesehene Benennung einer Gruppe wird ersetzt durch eine neutrale oder als weniger abwertend geltende Aussage. So nennt man Taube »Schwerhörige«, Ethnien werden zu »Kulturen«, »illegale Einwanderer« sind »nichtregistrierte Einwanderer« (sans-papiers) …
- Schließlich wird die bloße Benennung einer Gruppe zensiert. In Frankreich z.B. werden die Bewohner nicht nach rassischen Merkmalen unterschieden wie in den USA und in Kanada.
Die politische Korrektheit zeigt sich dementsprechend zugleich als Verurteilung und Euphemismus und tendiert dadurch zu Ablehnung und Verleugnung. So ist sie nicht nur Zensur, sondern auch Logopädie — eine Korrektur der Wahrnehmung und Würdigung durch das Wort, das auf einem linguistischen Konstruktivismus beruht, für den das Wirkliche nicht mehr vom Aussagbaren unterschieden werden kann.
Politik der Verdächtigung
Der politisch korrekte Zensor wendet sich gegen verallgemeinernde, somit als abwertend angesehene Urteil über eine Gruppe mittels einer anderen Form der Verallgemeinerung. Verallgemeinernde (neutrale, negative oder positive) Urteile und Benennungen demaskiert er als Ausdruck eines politischen Willens. Auf diese Weise begünstigt er eine äußerliche Politisierung des Sprechens und des bloßen Benennens. Diese zwanghafte Politisierungstendenz wird damit gerechtfertigt, dass mit dem Erkennen und Kennzeichnen bestimmter Gruppen, der Bestätigung einer mehr oder weniger bewussten Zugehörigkeit, eine schädliche Ideologie und eine soziale Radikalisierung verbunden seien — basierend auf der Überzeugung, dass die Verbreitung solcher Aussagen die öffentliche Diskussion vergiften und die Gesellschaft unumkehrbar spalten könnte.
Wenn Sprechen zur Tat wird
Das Ungestüme, das die politische Korrektheit als politische und zugleich juridische Zensur zeigt, setzt aufgrund seiner Unverhältnismäßigkeit in Erstaunen — bekämpft es doch keine physische Gewalt, sondern nur Sprechakte, die meistens nur auf Unterstellungen beruhen.
Dieses offenkundige Missverhältnis kompromittiert die politische Korrektheit indes keineswegs. Es geht ihr ja gerade darum, dass Sprechen bereits Tat ist. Diese Auffassung sieht vom Unterschied zwischen Worten, Ideologien, politischen Projekten und ihrer Verwirklichung ab. Die Verwechslung von Worten und Taten stärkt das Selbstverständnis der politischen Korrektheit und rechtfertigt so schließlich die äußere Politisierung des Benennens und Kennzeichnens.
Die politische Korrektheit bezieht sich somit auf eine psychologisierende Ontologie, derzufolge die verbale Gewaltbereitschaft, unterstellt oder faktisch, so viel gilt wie Schläge, das Wort zur Tat wird — und das eine wie das andere verurteilt. Die Zensur nimmt vorweg — eine Zensur, die Geschehen antizipiert und für die ein bloßer Verdacht schon Denunzierung und Verurteilung rechtfertigt.
Dieses »performative« Verständnis des Verurteilens beseitigt die Unterscheidung zwischen Spontaneität und reflektierter Handlung, zwischen Improvisation und bJwusstem Tun, zwischen Naivität und Planung— und somit auch zwischen dem Vulgären und dem Tragischen, dem Banalen und dem Schrecklichen. Das Performative rechtfertigt konkreten Zwang und physische Gewalt (insofern diese nämlich auf ein als Tat verstandenes Wort reagiert).
Einseitige Entdifferenzierung
Zweideutig ist die Beziehung der politischen Korrektheit zu den sozialen Gruppen, als deren Verteidigerin sie sich ausgibt. In den meisten Fällen (vgl. 2., 3. und 4.) verneint sie bzw. tut so, als erkenne sie nicht die Existenz dieser in sich homogenen, einzelnen, abgesonderten Gruppen. So gesehen ist die politische Korrektheit eine spezifische Zensur, indem sie die soziale Welt entdifferenziert.
Die Gruppen können sich jedoch der Logik dieser Nicht-unterscheidung entziehen, wenn sie ihre Identität betonen. Das heißt, sie können nur »für sich« sein, aber nicht »an sich« im Sinne einer ihnen von außen zukommenden Identifizierung.
Der Befehl zur Anerkennung eines Anspruchs auf Identität duldet keinen Widerspruch. Die Anerkennung ist jedoch kein öffentlicher Gegenstand. Die Gruppe existiert öffentlich nur für sich selbst. Durch diese Art von sozialer Anerkennung als Gruppe wird ihre Existenz zugleich verneint und verschwiegen, es sei denn, sie wird absichtlich zum Gegenstand von Aufmerksamkeit und öffentlicher Autorisierung gemacht.
Militante Nichtpolitik
Die soziologische — oder auch »spontan« oder geradezu »wild« (nach Bourdieu) daherkommende — Reflexion beruht auf einer differenzierenden Betrachtung des Sozialen, einer unvoreingenommenen Wahrnehmung der tatsächlichen Fragmentierung der auf sich selbst bezogenen Einheiten der Gesellschaft. Jene Zensur durch Entdifferenzierung aber, die politische Korrektheit, bestreitet jede Unterscheidung. Sie will ihre Negation und behindert dadurch die soziale Erkenntnis. So zerstört eine solche Zensur fatalerweise jede aufgeklärte und wohlüberlegte Orientierung des kollektiven Handelns, d.h. des Politischen. Aber ihr geht es mehr um die moralische Ordnung als um den Zustand der Welt. Der Unterschied dieser beiden Ordnungen wird verwischt, indem man danach strebt, Welt durch eine Reform des Sprechens zu reformieren.
Die Eigenart der politischen Korrektheit zeigt sich in ihrem negierenden Mechanismus, der lediglich missbilligt. Sie ist Zensur ohne Lehre, eine bloß negative Moral, mehr noch — eine nicht politische, sondern entpolitisierende Ideologie — eine geradezu militante Nichtpolitik.
Die Lehre der Geschichte
Die Kritik der politischen Korrektheit ist unbequem und irritierend, weil diese sich auf eine heute dominierende Geschichtsdeutung stützt und deren Logik, Moral und Politik sein will — weil sich die politische Korrektheit als die Lehre aus der Geschichte versteht, das heißt der schlimmsten Geschichte — der Geschichte der Sklaverei, des Kolonialismus und des Nazismus. (Der totalitäre Kommunismus wird indes mit Wohlwollen betrachtet.) Die innere Komplexität dieser drei historischen Großübel wird auf eine einzige Logik reduziert — die der Unterdrückung von Minderheiten.
So versteht sich die politische Korrektheit als Schutz-mission. Sie perfektioniert gleichsam den Verdacht einer möglichen Wiederkehr des Schlimmsten. Ihr Ungestüm steht der Gewalt nicht nach, die es zu verhindern gilt. Die Bedrohung durch das Schlimmste führt zur Abgrenzung des Sagbaren und nötigt zur doppelten Radikalisierung des Sprechens (durch äußerliche Politisierung und dessen performatives Verstehen). Die Größe der Aufgabe erzwingt gewissermaßen diese erlösendende Sichtweise.
Das Schlimmste wird transzendental
Der absolute Charakter des Denunziationsgegenstands — des Schlimmsten — verleiht der politischen Korrektheit eine geradezu transzendentale Dimension. Diese wird zur Bedingung von Wahrnehmung und Ausdeutung der Welt (im moralischen, ästhetischen, politischen und emotionalen Sinne).
Die politische Korrektheit ist Selbst-Sein und In-der-Welt-Sein und konstituiert auf ganz spezifische Weise diese beiden Seinsarten und deren Erfahrung. Die Unterdrückung von Minderheiten wird zur Urszene — und als solche zum Ausgangspunkt von grundlegenden Unterscheidungen — des Guten und Bösen, des Wahren und Falschen, des Gerechten und Ungerechten, des Wünschenswerten und Abzulehnenden, des Gesunden und Kranken.
Die politische Korrektheit begrenzt und kontrolliert die menschliche Existenz, konditioniert ihre individuelle und kollektive Lebensform und gibt ihren Vorstellungen und Praktiken ethische, ästhetische, politische und gesellschaftliche Bedeutung — bis hin zum Sexuellen, Künstlerischen, Touristischen und Gastronomischen … So fungiert sie nicht nur als Zensur, Moral und Vorbeugungsmaßnahme, sondern auch als unsere Kultur.
Die Nazifizierung der Geschichte
Selbstredend steht unter den historischen Hauptübeln, auf die sich die politische Korrektheit bezieht — Sklaverei, Kolonialisierung, Nationalsozialismus —, letzterer an erster Stelle, zumindest in Europa. Diese reduktionistische Sie entspricht der gegenwärtigen Komprimierung der Unterdrückungsgeschichte im nationalsozialistischen Regime.
Mit anderen Worten, die politische Korrektheit fußt auf einer spezifischen Erinnerungskultur im Sinne — wenn man so sagen darf— einer Nazifizierung der Geschichte der Minderheiten.
Diese Logik einer radikalen Gleichsetzung und Vereinfachung bleibt bei der Nazifizierung der Unterdrückung nicht stehen. Sie gibt auch Raum für das, was Jean Michel Chaumont als »Konkurrenz der Opfergruppe um die Palme des größten Leidens« verspottet hat. Paradoxerweise führen die makabren Überbietungen der »Reductio ad Hitlerum« (Leo Strauss) in letzter Instanz zu einer Relativierung der Naziverbrechen. Die »Erinnerungsaktivisten« (Esther Benbassa) wetteifern um eine Maximierung des Opfer-Status und des Anspruchs auf das. absolute Leiden.
Verabsolutierung durch Entsubstantialisierung
Die politische Korrektheit als Zensur und systematische Verdächtigung der Sprache gegenüber Gruppen (Minderheiten) besteht gerade nicht im Kampf gegen tatsächliche, physische, politisch ermutigte oder kollektiv ausgeübte Verfolgung bestimmter Gruppen. Der Kampf findet im Nachkrieg statt. Wenn die politische Korrektheit, paradoxerweise ein Ende der Unterdrückung voraussetzt, ihre Verwirklichung somit nur in Friedenszeiten möglich ist, beginnt sie sofort einen neuen Kampf — auf der Ebene von Moral und Sprache.
Diese Zensur bezieht die Unterdrückungslogik bereits auf das bloße Benennen einer Gruppe und deren bloße Unterscheidung. Für sie ist Benennung schon Ausgrenzung, Bedrohung. Weil die Sprache das fortdauernde Böse bezeugt, muss es prophylaktisch aufgespürt werden.
Der politischen Korrektheit geht es weniger um das Böse, selbst als um dessen ständig zu erwartendes Aufkeimenr d.h. um seine Allgegenwart. Worauf das Prinzip externer Politisierung und performativen Verständnisses von Aussagen bereits schließen lässt, gibt es für diese Zensur weder Schwelle noch Abstufung des Bösen. Mit anderen Worten, die politische Korrektheit entsubstantialisiert das Böse — um es verabsolutieren zu können. Mittels dieser doppelten Logik der Verabsolutierung und der Entsubstantialisierung des Bösen wird dieses überall und ständig nachweisbar. Das Schlimmste und das Banale, die Barbarei und das Oberflächliche sind nicht mehr voneinander zu unterscheiden. Die Ausnahme kann jederzeit zur Regel werden. Der politisch Korrekte sieht die Welt in seiner unheimlichen Inkonsistenz, die Welt einer Menschheit, die totalitären Versuchungen erliegt und von denen sie sich reinigen muss. So erweist sich die politische Korrektheit als Ideologie friedlicher Gesellschaften, die, paradox genug, von ihrer Barbarei heimgesucht werden.
Die doppelte Entdifferenzierung des »Wir«
Das Verbot, Gruppen zu typisieren, zu unterscheiden und zu benennen, ist motiviert von der Weigerung, zwischen Menschen überhaupt zu differenzieren. Erinnern wir uns: Für die politische Korrektheit ist Benennen schon Ausgrenzen und Ausgrenzen ist Bedrohen — d.h. die Rückkehr zur Urszene der Unterdrückung durch Mehrheiten.
Mit der Strategie von Entdifferenzierung und Individualisierung (die nur eine Form von Ununterschiedenheit ist) soll Einhalt geboten werden. Die politische Korrektheit negiert das Wir — die Gruppe — zugunsten des Du — des unreduzierbaren Individuums respektive des abstrakten Menschen im Sinne der Integration in ein fiktives, weil entdifferenziertes Wir — die Mehrheit. Es geht um die Assimilation (des Anderen) durch die Nichtunterscheidung (des Selbst). Diese Entdifferenzierung und das Verbot des »Ihr« — seiner Benennung und Beurteilung — verleugnen letztlich die Existenz des Wir. Das Anderssein wird negiert, um ihm keine eigene Identität entgegenzusetzen.
Die Entdifferenzierung des Wir ist ideologisches Ergebnis einer doppelten Auflösung des Identitären: von oben her unter dem Gewicht des abstrakten Universalismus (der u. a. mit der Forderung nach Menschenrechten, mit dem kulturellen Relativismus, mit der Ideologie des Weltbürgertums und der Entgrenzungsstrategie auftritt) und von unten her unter dem Druck des zeitgenössischen Individualismus, der Wahrnehmung und Wertung des Anderen nur als Double seiner selbst zulässt. Mit anderen Worten, die politische Korrektheit praktiziert den universalistischen Individualismus als Moral und Zensur.
Schlussfolgerung – die Implosion des Politischen
Eine Kritik der Hauptintention der politischen Korrektheit — herabsetzende Aussagen über bestimmte Gruppen und Minderheiten zu verbieten —, kann sich nicht auf Werte berufen, die den Westen zu dem, was er ist, hat werden lassen.
Die Logik der Übersteigerung, die rücksichtslose Sturheit und die obsessive Fixierung auf das Schlimmste kennzeichnen dennoch eine neue Form des sozialen Radikalismus, der den Werten, für die sich die politische Korrektheit stark macht, unmittelbar entgegensteht.
Der politisch korrekte Verteidiger der Freiheit neigt in der Praxis zu einer moralisierenden und repressiven Enthemmung. In seinen Reden vom friedlichen Zusammenleben der Menschen sträubt er sich gegen soziologische Einsichten. Die Prinzipien von Gleichheit und Unparteilichkeit legitimieren die Forderung nach Privilegien für bestimmte Gruppen innerhalb einer neutralisierten Mehrheit, die keine eigene Bedeutung mehr beanspruchen darf. Die politische Korrektheit versteht sich als Ideologie der Gewaltfreiheit — und fördert damit eine unterschwellige Ausbreitung von Gewalt, wie sie allen menschlichen Gruppen eigen ist. Wenn zur politischen Existenz des Menschen die Eingrenzung und Anerkennung einer eigenen Sphäre gehört, so bedeutet die Ausblendung des Wir die Implosion von Politik überhaupt.
Die politische Korrektheit ist jene Utopie der Atopie, die den Menschen zu der Illusion verleitet, sie könnten ihre politische Existenz völlig aufgeben, und die sie daran hindert, sich gegen die grundlegende Gewalt menschlicher Gemeinschaften zu schützen.
Aus dem Französischen von Helmut Kohlenberger