MESOP NEWS ÄSTHETIK : DER REDUNDANTE KITSCH DER LBGTQ-REGENBORGENFARBEN KULTUR / FAZ FEUILLETON REFERIERT FRANK BÖCKELMANNS „TUMULT“ MAGAZIN

KÜNSTLER, emanzipiert euch!

Die Kultur ist zur Magd der Politik geworden. Überall dient sie sich an und buchstabiert die Tagesthemen nach. Dabei wäre jetzt gerade der richtige Moment, um eigenständig zu werden. Ein Zwischenruf. Von Simon Strauss

Das deutsche Kunst- und Kulturjahr 2017 geht zu Ende. Zufrieden schauen die Veranstalter auf eine mehr oder weniger erfolgreiche Festivalsaison: Berlinale, Theatertreffen, Documenta — überall ging es ums Ganze, um Fragen der Moral und der Tagespolitik. Identitätskrise, Flüchtlingspolitik, Feminismus — politisch wurde so heftig debattiert wie lange nicht mehr. Aber über Ästhetik wurde so wenig gesprochen wie nie. Als Verlust scheint das nicht wahrgenommen zu werden, jedenfalls nicht auf Kuratorenebene.

Die neue Ausgabe von „Tumult”, jener in Verruf geratenen „Vierteljahresschrift für Konsensstörung”, deren Stand auf der jüngsten Frankfurter Buchmesse öffentlichkeitswirksam beschädigt wurde, bietet auf den ersten Blick das, was die vorherigen Ausgaben auch schon im Angebot hatten: die Verteidigung der Grenze als legitime Denkkategorie, der Rekurs auf die Mehrheit, um gegen die quasireligiöse Gewissheit einer „Identitätselite” zu opponieren; ostentativen Antikapitalismus, damit Altlinken die ideologische Konversion leichter fällt.

Doch dieses Mal tanzt ein Artikel mit Aplomb aus der politikzentrierten Reihe.

 

Unter der Überschrift „Was ist der Künstler in der Welt von heute?” stellt der polnische Autor und Theaterregisseur Antoni Libera auf wenigen Seiten die Frage, warum der Kunst eigentlich ihr emanzipatorisches Potential abhandengekommen sei. Während sie sich schon früh aus den Fängen des Sakralen befreit und mit ihrer metaphysischen Basis gebrochen habe, sei sie infolge der technologischen Revolution zum Mitläufer des Marktes geworden. Zur Massenware und zu einem Gebrauchsgegenstand des Konsums habe sich die Kunst entwerten lassen und sei dadurch in eine „babylonische Gefangenschaft des Kommerzes geraten”.

Die Anforderungen an sie seien seither denkbar schlicht geworden: Sie soll unterhalten, neu sein und möglichst schockieren. Die Kulturschaffenden, so Libera weiter, hätten ihre Ideale einerseits an die Herrschaft des Marktes, andererseits an die der Politik verraten, indem sie produzieren, was sich verkauft, und kommentieren, wo immer man es ihnen anbietet. Dadurch habe die Kunst ihre Autonomie verspielt, seien ihr der „Geist des Prophetismus” und die „Herrschaft über die Seelen” verlorengegangen. Die romantische Vorstellung einer subjektiven Weltsicht, einer radikalen Eigenheit des Künstlers, sei verkommen zum „Kult eines hohlen Egoismus und Exhibitionismus”.

Starke Worte. Der Schriftsteller, Regisseur und Übersetzer Libera weiß, wogegen er opponiert. Er hat das Gesamtwerk von Samuel Beckett ins Polnische übertragen und auch oft inszeniert — woraufhin Beckett ihn zu seinem „Stellvertreter in Osteuropa” ernannte —; als Sekretär des polnischen Schriftstellers und Regimekritikers Jerzy Andrzejewski stand er oppositionellen Kreisen nahe und hatte zwischenzeitlich Berufs-, Publikations- und Reiseverbot. Sein erster Roman, „Madame”, war ein Verkaufserfolg. Er kennt die drei Konkurrenten „Markt”, „Politik” und “Ästhetik” also aus eigenem Erleben. Und er hat gesehen, wie stark Letztere ins Hintertreffen geraten ist.

Was kann dagegen helfen? Antoni Libera nennt ein Heilmittel, gibt aber auch gleich zu bedenken, dass es zurzeit nicht vorrätig sei: ,,Die heutige, restlos den ökonomischen und politischen Mechanismen verfallene Welt hat die Veranlagung verloren, aus sich selbst wahrhaft unabhängige Körperschaften oder Institutionen zu schaffen, welche sich ausschließlich von ästhetischen Rücksichten leiten lassen. Solche Zentren gibt es nicht mehr, weil es keinen Boden gibt, aus dem sie erwachsen könnten.” Wenn das im Ganzen stimmte, wäre in der Tat Hopfen und Malz verloren. Wenn wirklich all unsere Theater, Museen, Literaturhäuser, Opern, Kinos, Akademien, Kunstzeitschriften, Schlagerparaden, Lyrikkabinette, Architekturblogs und Tanzfestivals sich entweder dem Geld oder der Tagespolitik verschrieben hätten, ihre Programme entweder zum Gefallen des einen oder der anderen konzipieren würden, dann lebten wir in düsteren Zeiten.

Zweifellos stimmt jedoch: Es gibt im Moment keine künstlerische Gruppe, keine Bewegung oder Schule, die ihre Energie vor allem auf das Ästhetische konzentriert. Wenn sich eine Gruppe gründet und öffentliche Wahrnehmung beansprucht, dann entweder zur Verbreitung tagespolitischer Brachialbotschaften — siehe das „Zentrum für politische Schönheit” — oder zur gegenseitigen Wertsteigerung auf dem Markt wie etwa die — jeweils zugegebenermaßen fremdbetitelte — Becher-Schule oder die Neue Leipziger Schule. Der Drang, sich vom Tag unabhängig zu machen, sich die Freiheit zu nehmen, Gegenwirklichkeiten zu erschaffen, Traumbilder, Manierismen, Sprachkunstwerke scheint geschwächt wie nie. Er lässt sich wie ein kleiner Junge einschüchtern vom strengen Primat der Moralpolitik. Eskapistisch ist alles, was nicht direkt mit dem Zeitgeschehen in Beziehung zu setzen ist, „rein formal”, wenn ein Theaterabend einmal nichts zu Trump, eine Fotoausstellung nichts zur Klimakatastrophe zu sagen hat.

Wo ist die künstlerische Lust am Befremdenden, am Gegensätzlichen, Geheimnisvollen, Unerklärlichen hin? Warum lässt sich die Kultur ihr „Alleinstellungsmerkmal” so einfach aus der Hand nehmen — dass sie sich eben gerade nicht an Wahlprogrammen, Tagesmoral oder Profitraten orientieren muss? Die Kunst ist frei, heißt es doch immer. Aber frei, um eigentlich was zu tun? Die Leitartikel und Gesinnungsmoden einfach in ihrem jeweiligen Medium nachzubuchstabieren? Oder nicht viel eher frei darin, eine andere, überraschende Weltsicht anzubieten? Sinnlich zu argumentieren, existentiell auf den Menschen zu schauen, das überzeitliche Potential seiner Regungen zu realisieren und seinem Inneren nahezukommen. Das wäre die eigentliche Freiheit, die sich die Kunst nehmen könnte. Sie müsste dazu nur wieder stärker Eigenlogik behaupten, mutig eine andere Sprache sprechen als die, die überall sonst schon zu hören ist. Phantasie, Schönheit, Weltschmerz — das sind ihre im Moment vernachlässigten Taufpaten.

Einzelne haben das stets getan, denken es auch jetzt. Aber nur, wenn sie sich zusammenschlössen, in einer Gruppe oder Bewegung, könnten sie Wirkung erzielen. Und der sogenannten Öffentlichkeit deutlich machen, dass es auch Ansätze gibt, die der alldominierenden Gegenwartssucht mit spielerischer Vergangenheitslust oder phantastischen Zukunftsvisionen Contra geben. Eine so orientierte Kulturbewegung hätte große Chancen, wahrgenommen zu werden. So leicht wie nie lassen sich doch im Moment Erwartungen unterlaufen, bequem gewordene Wahrnehmungsmuster und sittliche Richterskalen herausfordern. Es reicht schon „Alle Erinnerung ist Gegenwart” zu rufen oder zu flüstern: „Schönheit gibt es nur noch im Kampf” — und alle machen vor empörter Aufregung Kopfstand.

 

Natürlich: Man kann sich bei der Sujetwahl auch still und heimlich in die Natur, die Familiengeschichte, ins Retrohafte zurückziehen und das weite Feld den anderen überlassen. Aber mutig ist das nicht. Avantgardistisch wäre heute, mit voller Kraft für die Emanzipation der Kunst zu streiten. Auf eigene Faust nach dem Zauber, dem Unwirklichen, dem berühmten Lied zu suchen. Sich verdächtig zu machen bei den Verächtern des Unpolitischen. Eine neue Künstlergruppe wartet auf ihre Gründung. Ihr Ziel wäre, einer Renaissance des Ästhetischen den Boden zu bereiten. Den Weg frei zu machen —vielleicht für einen neuen Samuel Beckett. Man würde zur Abwechslung so gerne einmal darüber lesen. Anstatt immer wieder nur über Masseneinwanderung und Moralfragen.

 

SIMON STRAUSS – FAZ 16 Dec 2017

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