MESOP NEWS : HYBRIDIE DER ‚OPEN SOCIETY“ – AUS DALARNA WIRD DALKURD – Wir sind Parallelgesellschaft + Kurdische Nationalmannschaft Schwedens
Dalkurd FF: Die inoffizielle “kurdische Nationalmannschaft” wirbelt Schweden auf
Tobias Lorenz – dalkurd.se – 8 Nov 2017 – Die Geschichte des kurdischen Klubs in Schweden liest sich wie ein Märchen. Doch um ein Haar wäre das ganze Team von Dalkurd FF schwer verunglückt.
Eine rote Mauer aus Wellblech von rund zwei Metern Höhe säumt den Rand des Gehwegs. Unscheinbar und ohne Schnick-Schnack – wie so vieles hier in der schwedischen Provinz. Gerade einmal etwas mehr als 40.000 Einwohner gehen in Borlänge tagtäglich ihrer Arbeit nach. Als größte Stadt der Region Dalarna ist hier zwar ein wichtiger Eisenbahnknoten und eine Keimzelle der schwedischen Stahlindustrie, aber ansonsten glänzt nicht viel – auch nicht die rote Wellblechwand. Doch was sich dahinter verbirgt, hat das Potenzial zu einer Hochglanzgeschichte. Hier, im Stadion mit dem wohlklingenden Namen Domnarvsvallen, spielte sich vor wenigen Wochen genau das ab, was man getrost als Fußball-Märchen bezeichnen kann.
Borlänge, Samstag, 28. Oktober 2017, Ortszeit zehn Minuten vor Vier. Der Jubel ist groß. Man kann ihn hören – bis über die Wellblechwand hinaus. Dalkurd FF hat es geschafft, der Aufstieg in die höchste schwedische Liga, die Allsvenskan, ist sicher. Damit erreicht der erst im Jahr 2004 gegründete Klub den nächsten Meilenstein. Was vor rund dreizehn Jahren als eher kleines und sportlich wenig ambitioniertes Projekt begann, ist mittlerweile nicht mehr nur den absoluten Fachleuten in Schweden ein Begriff. “Nun haben 37 Millionen Kurden einen gemeinsamen Klub in der Allsvenskan”, bilanziert die schwedische Tageszeitung Aftonbladet nach der Sensation über den Klub, der sich selbst als eine Art “kurdische Nationalmannschaft sieht. Genauso wie der FC Barcelona das Verständnis als katalanische Nationalelf in sich trägt.
Entsprechend ist die Stimmung am Tag danach. “Das erste Training nach dem Spiel war wirklich schlecht”, scherzt Trainer Andreas Brännström, der Vater des Erfolges, und schiebt hinterher: “Die Spieler waren immer noch in diesem Glücksgefühl gefangen mit der ganzen Feierei und allem, was nach dem Aufstieg so passiert ist.”
Während die Profis sich noch von den Feierstrapazen erholen, haben die Anhänger des Klubs Zeit, seine Geschichte Revue passieren zu lassen. Über die Gründung und die Momente, in denen die Spieler in den untersten Ligen noch auf ganz miesem Geläuf spielen mussten. Lange vor der Zeit, in dem man in einem Stadion, das rund 6.500 Zuschauern Platz bietet und einen gepflegten Rasen, ja sogar eine Flutlichtanlage hat, um den Erfolg kämpfte …
Anfang der 2000er hat Borlänge ein Problem
Zeitsprung, Anfang der 2000er. Börlange hat ein Problem: Die Jugendkriminalität nimmt Überhand und liegt weit über dem Landesdurchschnitt. Eine höhere Pro-Kopf-Kriminalitätsrate sucht man in ganz Schweden vergebens. Das Übel ist schnell ausgemacht: Der überproportionale Anteil an kurdischstämmigen Jugendlichen, die mit ihren Eltern einige Jahre zuvor auf der Flucht vor Verfolgung und Krieg im Osten der Türkei ihren Weg in die schwedische Provinz gefunden haben, und mittlerweile so etwas wie eine Parallelgesellschaft bilden. Als dann aus disziplinarischen Gründen eine Gruppe jugendlicher Fußballer kurdischer Herkunft vom größten und traditionsreichsten Klub der Stadt, der IK Brage, vor die Tür gesetzt wird, reagieren die Eltern. Sie wollen nicht mit ansehen, wie ihre Kinder die Chance auf ein sicheres Leben hier, tausende Kilometer weit weg von der Heimat aufs Spiel setzen.
“Mein Vater hat sich entschlossen, etwas für die Jugendlichen in Borlänge zu tun. Er wusste damals, dass die jungen Leute gerade über den Fußball zu erreichen sind”, sagt Adil Kizil zur Zeitung Dagens Nyheter über die Gründungszeit des Klubs mit einem leicht sentimentalen, voller Dankbarkeit gefüllten Unterton. Kizil, der den Verein von Beginn an kennt, hier zuerst Torwart war und später Sportdirektor wurde, erlebte mit, wie Dalkurd FF im Jahr 2004 das Licht der Welt erblickte.
Dal + Kurd = Dalkurd
Schon im Klubnamen wird klargemacht, wer hier das Sagen haben sollte und wer die Zielgruppe war. “Dalkurd”, ein Hybrid aus den Wörtern “Dalarna” und “Kurde”. Somit übertragen die mittlerweile in der schwedischen Einöde Angekommenen ihre Identität. Wir sind Kurden, aber in Dalarna zu Hause, so der Gedanke der Gründer, hier, Luftlinie über 200 Kilometer von der Hauptstadt Stockholm entfernt. “Dal” für den Namen der historischen Provinz und “kurd” für die schwedische Bezeichnung der Kurden. Dalkurd.
Auch das Vereinswappen lässt schnell erahnen, für was der Klub steht: Die kurdische Flagge ist zu sehen, auf der zwei Dalarna-Pferdchen (ein typisches Symbol) prangen. Doch ein sinnvoller Name und ein Logo allein, füllen noch keinen Klub mit Leben.
Kizil sagt seiner eigenen Karriere Adieu – für Dalkurd FF
Anfangs war gar nicht der Plan, am Pflichtspielbetrieb teilzunehmen. Der Klub verstand sich mehr als soziales Projekt, denn als Fußballverein. Doch weil eben auch die Jugendspieler eines besonders gut konnten, wollte man ihnen auch eine sportliche Heimat und nicht nur einen inneren Kompass bieten. Jetzt sprang auch Adil Kizil auf, denn es fehlten noch Spieler. “Wie sollte er weitere Spieler zum Verein locken, wenn er nicht einmal seinen eigenen Sohn überzeugen konnte”, erzählt Kizil.
Ihm fiel die Entscheidung wirklich schwer. Mit der IK Brage war er gerade in die zweite Liga aufgestiegen und träumte von einer Profikarriere. Doch zu entscheiden, das dauerte bei ihm nicht lange. Er wechselte zu Dalkurd, dem Klub seines Vaters Ramazan. Kizil Junior ließ seine Kontakte spielen, rekrutierte zahlreiche Mitspieler, damals so gut wie nur kurdischstämmige. Startschuss. Das Märchen begann.
In der untersten Liga, der achten, gestartet stieg man in ab dem Jahr 2005 fünfmal in Folge auf – bis in die Liga drei. “Wir haben nicht wie andere Klubs ein- oder zweimal die Woche trainiert, sondern jeden Tag mindestens zwei Stunden”, sagt Ramazan Kizil, wenn er an die damaligen Zeiten denkt. In der dritten Liga war dann fürs erste Stopp, die Gipfeltour wurde gebremst. Mit dem Abstiegskampf hat man aber bei Dalkurd in dieser Zeit nichts am Hut. Nach sechs Jahren gelang dann der Aufstieg in die zweite Liga, zwei weitere Jahre später nun die Sensation: Dalkurd ist in der Allsvenskan angekommen.
Zwar ist das Team im heimischen Borlänge noch längst kein Zuschauermagnet (im Schnitt finden zwischen 1500 und 2000 Fans den Weg bei Heimspielen ins Stadion), aber dennoch kann das Team von Trainer Brännström auf eine große, weltweite Fangemeinde bauen. “Du musst nur in die kurdischen Regionen in der Türkei, in Syrien, dem Iran und Irak reisen, dort kennen Dalkurd alle”, betont Sportchef Kizil weiter. Auch in den sozialen Netzwerken ist der Verein der Renner. Auf Facebook beispielsweise folgen der Seite Dalkurd Supporters mehr als 1,5 Millionen Menschen.
“Es ist so surreal” – Dalkurd entkommt dem Flugzeugabsturz von 2015
Dabei wäre die Erfolgsgeschichte um ein Haar bereits 2015 zu Ende gewesen. Die Handys der Spieler und Klubverantwortlichen stehen nicht still, an diesem 24. März. Bekannte, Freunde, Familienangehörige – alle wollen wissen, wie es ihnen geht. Was war passiert? Die Nachricht des Flugzeugabsturzes einer Maschine von Germanwings verbreitet sich in ganz Europa wie ein Lauffeuer. Der Co-Pilot hatte sich, die Besatzung sowie die Passagiere freiwillig in den Tod manövriert. Er hat das Flugzeug auf der Strecke von Barcelona nach Düsseldorf in den Alpen mutwillig zum Absturz gebracht und an den steilen Felswänden zerbersten lassen.
“Wir hätten genau in dem Flieger sitzen sollen. Wir haben mit vielen der anderen Passagiere bereits eingecheckt”, Kizil ist nach der Tragödie in den Alpen im Gespräch mit Aftonbladet immer noch aufgelöst. “Es ist so surreal.” Eigentlich hätte das gesamte Team im Schicksalsflieger sitzen sollen. Nach einer Woche Trainingslager in der Vorbereitung auf die neue Spielzeit in Barcelona wollte man über Düsseldorf weiter nach Schweden fliegen.
Nur ein glücklicher Zufall verhinderte die Tragödie für Dalkurd. Noch am Flughafen entschieden die Klubbosse, nicht den anvisierten Germanwings-Flug 9525 zu nehmen, sondern die Spieler auf andere Flüge aufzuteilen. Der Grund? Die zu lange Umstiegszeit in Düsseldorf. “Es gab vier Flüge über die Alpen, in drei saßen Spieler von uns. Ausgerechnet in dem einen nicht”, sagt Kizil weiter.
Sie haben es überlebt. Und so geht das Projekt weiter – und als solches versteht sich der Verein bis heute, obwohl nur noch ein gebürtiger Kurde in der Elf von Trainer Brännström regelmäßig aufläuft. Insgesamt drei stehen im Kader. Heute finden Spieler aus den verschiedensten Ecken der Welt im Klub eine Heimat.
“Mes que un club” auf Schwedisch
Was Barca mit “mes que un club” verfolgt, ist auch der Anspruch in der schwedischen Provinz. “Hier bekommt man wirklich die Chance, den Jugendlichen ein Vorbild zu sein und etwas für die Gemeinschaft zu tun”, gibt beispielsweise Torwart Frank Pettersson in Aftonbladet zu Protokoll, wenn er über das Besondere an Dalkurd gefragt wird.
Er hätte sich nämlich auch für einen anderen Klub entscheiden können: “Als ich 2010 herkam, hatten sich vorher auch diverse Zweitligateams bei mir gemeldet. Doch nach dem ersten Probetraining habe ich mich sofort für Dalkurd entschieden.” Die Verantwortlichen engagieren sich in der Stadt, halten in den Schulen Vorträge, machen den Jugendlichen deutlich, wie wichtig ein Schulabschluss ist.
“Real Madrid, Barcelona und Dalkurd”
Neben der Arbeit mit und für die Jugend besinnt man sich bei Dalkurd auch auf seine Wurzeln als kurdischer Verein. Man versteht sich als Mannschaft für alle Kurden. Und auch weit weg von Borlänge steht der Klub hoch in der Gunst der Kurden. “Heute werden in Kurdistan drei Teams unterstützt: Real Madrid, Barcelona und Dalkurd”, sagt Peshraw Aziz dem Guardian. Der Kapitän des Teams verließ als Zwölfjähriger seine Heimat, ist mit ihr aber weiterhin tief verbunden. Gemeinsam mit anderen Dalkurd-Profis und Bekannten organisiert er regelmäßig Spendenaktionen für die kurdische Bevölkerung in der Osttürkei. Zum Beispiel wurde nach dem schweren Erdbeben 2011 im osttürkischen Van ein Benefizspiel zwischen schwedischen Profis und TV-Stars gegen Dalkurd arrangiert, um mit den Einnahmen eine Hilfe für die geschundene Region leisten zu können.
Der Kapitän von Dalkurd hilft in der Heimat beim Wiederaufbau
Als seine Geburtsstadt Sulaymaniya im nördlichen Irak durch eine zerstörerische Offensive des so genannten Islamischen Staates schwer in Mitleidenschaft gezogen wird, beteiligt er sich am Wiederaufbau und spielt dort zeitweise sogar in der kurdischen Liga mit. “Für mich war es etwas ganz Tolles. Aufgrund meiner Kapitänsrolle bei Dalkurd wussten alle, wer ich bin.”
Und auch in Schweden, in Borlänge selbst, wird er und das Team immer bekannter, beliebter und – ganz wichtig – auch akzeptierter. Lange hielt ein Großteil der Einwohner dem anderen Verein die Daumen: IK Brage, mit dem man sich das Stadion teilt. Doch nachdem der traditionsreiche Verein mittlerweile in der Drittklassigkeit verschwunden ist, bekommt Dalkurd großen Zulauf.
Und vielleicht werden die neu gewonnen Fans ja auch Zeuge vom nächsten Fußballwunder. Denn getreu dem Klubmotto “Volle Kraft voraus” visiert man nämlich schon die nächsten großen Ziele an. Man will sich nie mit dem Status quo zufriedengeben, sich immer weiter entwickeln. Sätze, die man als Sportfan zuhauf kennt – doch Dalkurd nimmt man es ab. “Es ist unser Anspruch, immer den Gewinn der Meisterschaft anzustreben”, wird auf der Homepage des Klubs, die neben Schwedisch und Englisch natürlich auch auf Kurdisch verfügbar ist, erklärt.
In der Champions League gegen Galatasaray oder Fener? “Die größte Story der Welt”
“ich würde es lieben, unseren Klub in der Champions League zu sehen”, sagt zum Beispiel Sarkat Juand, der als Geschäftsführer des Klubs fungiert, dem Guardian. Da stimmt auch Ramazan Kizil mit ein und gerät ins Träumen: “Was wäre das für eine große Story, die größte der Welt. Mit Dalkurd und der kurdischen Flagge auf dem Trikot gegen Fenerbahce oder Galatasaray zu spielen. Ich gebe erst auf, wenn ich das erlebt habe.”
Und wer weiß, bleibt Dalkurd FF sich und seinen Wurzeln treu, könnte es irgendwann wirklich dazu kommen – wahrscheinlich dann aber in einem größeren Stadion. Dann hätte die unscheinbare rote Wellblechwand ausgedient, die Hochglanzgeschichte aber nicht.