MESOP: DIE NEUESTE DEUTSCHE IDEOLOGIE

Weltbürgertum in EINEM Land / Andreas Raithel

Für Roman Schnur † 5. 8. 1996

Der unangenehmste Effekt des »Brexit« für die EU und ihre tragenden Säulen besteht im Erstaunen über die schlichte Ästhetik einer souveränen Entscheidung: Die vermeintlich hochkomplizierten Probleme, mit denen sich die Organe der EU legitimieren, werden mit einem Schlag bedeutungslos.

Für die BRD und ihre Bevölkerung kann die britische Entscheidung indessen nicht als Vorbild dienen. Alle anderen EU-Mitgliedsländer könnten dem britischen Beispiel folgen und austreten. Sie würden dann zurückgeworfen – auf sich selbst, und aufgefangen – von sich selbst. Wovon aber würde die BRD aufgefangen werden?

Im Rückblick erscheinen die alte BRD und die alte DDR wie ein »Gnadenhof« für die Deutschen, welche das »Dritte Reich« der völkischen Bockelsons hinter sich gebracht hatten.  Es war ja viel mehr zerschlagen worden als eine Einpartei-Diktatur, nämlich: alles. Schon die Wiedervereinigung war für die politische Klasse der beiden deutschen Staaten unerträglich. Nach einer Phase der Verwirrung nahm um 1995 eine neue, um die DDR erweiterte BRD Gestalt an. Eine BRD, die ihre deutsche Geschichte und Kultur selbst ausradierte, wie Gekrakel aus einem Schulheft. Eine völlig haltlose Bevölkerung stellte auf Kommando wieder einmal die Sandalen am Rande des Vulkans ab – und sprang …

Henry Kissinger hat über die »economy in search of political purpose« gewitzelt. Die ohnehin eher ökonomische als politische Klasse hat diese ›Suche‹ ersatzlos gestrichen.

Sie sieht in der BRD einen Wirtschaftsstandort und nichts anderes mehr, ein Land ohne Volk, mit einer beliebigen »werktätigen Bevölkerung«. Ein Land, das mit einem an die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts erinnernden Fanatismus den Kantschen »Weltbürger« präsentieren will, koste es, was es wolle.

 

Mit einem Eifer, dem auf der Habenseite nichts entspricht, glaubt diese ›Partei in den Parteien‹ an die Wundertätigkeit ihrer Investitionen und insbesondere an ihr pädagogisches Talent, aus jedem und allem einen »Weltbürger « erziehen, ja züchten zu können, der sich reibungslos in die Metökengesellschaft des Wirtschaftsstandorts, eine Art okzidentaler Karawanserei, einfügt.

Skurril an der gegenwärtigen Deutschen Ideologie ist die Entschlossenheit, die Weltbürger-Republik in einem Land durchzusetzen. Eine solche Idee hat etwas Provinzielles und Sektiererisches. Die Wiedertäufer und gewisse amerikanische Staatsgründungsversuche protestantischer Sekten kommen einem in den Sinn. Man folgt praktisch der von C. F. Martius auf seiner brasilianischen Reise beschriebenen Strategie der »colluvies gentium«1 einiger Stämme und Kleingesellschaften, die sich ihre »Bürger« buchstäblich aus dem Umland zusammenklaubten.

Carl Fr. Ph. Martius: Zur Ethnographie Amerikas, zumal Brasiliens. Leipzig 1867, S. 209. Allgemein: Wilhelm Emil Mühlmann: »Colluvies gentium. Volksentstehung aus Asylen«, in: ders.: Homo Creator. Abhandlungen zur

Soziologie, Anthropologie und Ethnologie. Wiesbaden 1962, S. 303–310. Von einiger Aktualität dort auch: ders.: »Ethnische Entfremdung und Pseudologia

«, a.a.O., S. 311–322. Wer noch mehr aktuelle Analogien sucht, schlage einen Vortrag Mühlmanns aus dem Jahre 1975 nach: ders.: »Heilsverlangen und Unheilsmächte in der Welt von heute. Versuch einer Glücksbilanz«, in: Was ist Glück? Ein Symposion. München 1976, S. 205–231, insbes. S.208ff. über den »Cargo-Komplex«, der eine nicht unmaßgebliche Rolle bei den hiesigen Weltbürgertums-Ideologen zu spielen scheint. Grundsätzlich: Ders.: »Weltrevolution auf Zeit gestreckt: Die Problematik des sogenannten Kulturwandels«, in: ders.: Rassen, Ethnien, Kulturen. Moderne Ethnologie. Neuwied/Berlin 1964, S. 353–367.

Hier tritt neben die schöne Weltbürger-Idee die harte Wirklichkeit, treten soziale Interessen und Konflikte. Unterhalb der gesellschaftlichen Höhen des betuchten Bildungsbürgertums bleibt vom Weltbürger meist nur der Mensch »als solcher«, also der pure Gattungsteilnehmer. Feuerbach blinzelt uns zu.

Die heutigen Ideologen des Weltbürgertums scheinen auf die »religiöse Anthropologie« Feuerbachs zurückzugreifen, wenn auch nicht mehr so, wie es Arnold Ruge getan hat, der Revolution mit Religion gleichsetzte.2 Ruge sah die Religion unserer Zeit im Projekt der »Natur- und Weltüberwindung«, durchaus im Sinne der heutigen Globalisierungs-Erzählung.

Allerdings verstand er die neue Human-Religion »als unendliche Aufgabe«: »Dem stehen die Millionen der Barbaren und die ganze Ausdehnung des Erdballs entgegen.« Diese Widerstände scheinen im 21. Jahrhundert beseitigt zu sein. Heute braucht es weder »Revolution« noch »Arbeit« oder »Entwicklung «. Der bloße Stoffwechsel scheint als ›Mitgliedsausweis‹ zu genügen – und eine Art von ›Gottesdienst‹ an der Gattung zu rechtfertigen.

Diese Perspektive schmeichelt den Milliarden von Gattungsteilnehmern, die ansonsten mit ihrer totalen Überflüssigkeit konfrontiert wären. Die Verheerung der Landmassen der »Dritten Welt« gründet weitgehend in der von den westlichen Industriegesellschaften angestoßenen Bevölkerungsexplosion. Die »Allzuvielen« sind ja nicht mehr wirklich Syrer, Palästinenser oder Brasilianer, sondern strenggenommen nur noch Gattungsteilnehmer ohne Geschichte und Zukunft. Sie werden von einer weltumspannenden Verwaltungsmaschine in ihrer Armut bewirtschaftet: Wasser, Brot, Zelte, Ärzte. Das von Frankreich um den relativ wohlhabenden Libanon beschnittene Syrien etwa mag noch 1960 eine Lebensgrundlage für 4,6 Mio. Syrer geboten haben. Dies trifft aber gewiss nicht mehr für die 22 Mio. Syrer von 2011 zu. Ähnliches gilt für alle diese Länder.

In den Zelt-Großstädten in Afrika und im Nahen Osten und in den Wellblechhütten-Ghettos Südamerikas, von ›humanitären‹ Konzernen professionell bewirtschaftet, wird ein modernes Pendant des »proletarischen Ersatzheeres« aus dem 19. Jahrhundert herangezüchtet. Die Erde hat eine Zukunft nur noch als Rohstofflager und Raum für (agrar-)technische Wahnideen. Den nicht zu entsorgenden Rest erledigt irgendwann die Plattentektonik.

Die deutsche Aufklärung erlaubt es nun den globalplayers unter den deutschen Großunternehmen, gute Miene zum bösen Spiel zu machen: Sie will – retten, helfen.

Nachdem fünfzig Jahre »Entwicklungshilfe« zwar die Zahl der Nobelyachten im Hafen von Monaco verzigfacht haben, aber ansonsten die jungen Staaten der »Dritten Welt« eher abgewickelt als entwickelt worden sind, wird nun auf dem ehemals deutschen Territorium called Bundesrepublik die besagte Weltbürger-Republik eröffnet. Welches Schicksal mag ihr beschieden sein? Viele ihrer wohlhabenden Propagandisten schicken ihre Kinder nach dem Studium möglichst weit weg und haben für ihr Vermögen einen Plan B in der Schublade: Offenbar trauen sie ihrem steilen pädagogischen Talent selbst nicht ganz. Abgesehen von failed states wie Belgien werden alle Nachbarstaaten der neuen Bundesrepublik nervös: Auch das 21. Jahrhundert droht in Europa von einem deutschen »Sonderweg« in Mitleidenschaft gezogen zu werden.

Wer mag hier im Jahr 2116 leben? Wie mag das Land dann aussehen? Ist die BRD dann eine Art Haupt- und Berufsschule für den Globus? Die zu erwartenden Szenarien: Aus den Zeltstädten und Wellblech-Agglomerationen der Erde werden fortlaufend Gattungsteilnehmer in großer Zahl importiert. In »Deutschland« werden sie zivilisiert, alphabetisiert und für irgendeine Tätigkeit beschult (der klassische »Veredelungsbetrieb« …). Die Endprodukte werden auf dem globalen Arbeitsmarkt weiterverkauft. Oder man trifft auf zufriedene Weltbürger, »Terraner«, wie man sie in den SciFi-Groschenromanen der 1960er Jahre nannte, auf eine Gesellschaft, die nach Jahrtausenden krisenhafter Entwicklung zur Ruhe und zu einer »erfolgreichen Klugheit« (Gehlen) gefunden hat. Oder wird das Land dieselbe graubraune Farbe aufweisen, die heute den Nahen Osten kennzeichnet?

Ist dann Bremen ein anderes Diyabakir3? Werden in Berlin Bomben detonieren wie heute in Aleppo? Die Kompetenz, darüber zu entscheiden, liegt wohl nur noch für kurze Zeit in den Händen der heutigen Bundesrepublikaner.

Arnold Ruge: Die Religion unserer Zeit. Leipzig 1849, S. 70. Zitat S. 84.

Zum neuesten Schicksal dieser Stadt (1930: 30.000 Einwohner, 2014:

1,6 Mio. Einwohner): Sonja Galler: »Die Stadt als Kriegsbeute«, in: NZZ v.

19.04.2016, S. 19.

www.mesop.de (AUS : TUMULT; Herbst 2016) )