MESOP TÜRKEI : Demokratisches Türkeiforum Verschärfte Strafprozessrechtsänderungen nicht verfassungswidrig

Das Verfassungsgericht der Republik Türkei Verfassungsgericht hat in einer Entscheidung vom 23.12.2015 (E. 2014/195, K. 2015/116, Resmi Gazete 29.1.2016 – 29608) Gesetzesänderungen, die Durchsuchungen von Verdächtigen sowie deren Wohnungen und Arbeitsplätzen erleichtern, und das Recht auf Akteneinsicht für Verdächtige einschränken, als verfassungskonform aufrechterhalten. Juristen hatten die Änderungen als verfassungswidrig und Einfallstor für willkürliche Durchsuchungen und Beschränkungen von Rechten Angeklagter kritisiert. Abgeordnete der CHP hatten Verfassungsbeschwerde gegen die Änderungen erhoben.

Niedrigere rechtliche Hürden für Durchsuchungen

Am 12.12.2014 hatte die regierende AKP in einem umfangreichen Gesetzespaket Art. 116 der Strafprozessordnung geändert, woraufhin Durchsuchungen nun nicht mehr erst aufgrund eines „auf konkreten Beweisen beruhenden starken Verdachts“ sondern bereits aufgrund eines „hinreichenden/angemessenen Verdachts“ durchgeführt werden können. Anwälte und Menschenrechtsaktivisten hatten kritisiert, dass diese Regelung willkürlichen Durchsuchungen ermöglichen würde.

Das Verfassungsgericht hat nun mit einer Mehrheit von 13 zu 2 die Gesetzesänderung als verfassungskonform bewertet. In seinem Urteil verweist das Gericht auch auf die Entscheidung Fox, Campbell und Hartley v. Vereinigtes Königreich[1] des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) hin und führt aus, dass entsprechend der Rechtsprechung des EGMR für einen hinreichenden Tatverdacht nach Art. 5 Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK)) „Tatsachen oder Informationen“ vorliegen müssen, „die einen objektiven Beobachter überzeugen würden, dass die betreffende Person die Straftat begangen haben könnte”.

Zunächst ist nach Meinung des Journalisten Günal Kurşun festzustellen, dass der Wortlaut des türkischen Gesetzes somit dem Wortlaut der Konvention entspricht. Die alte Formulierung ging darüber hinaus, in dem sie einen „starken Verdacht“ erforderte. Problematisch bleibt aber die Umsetzung dieses Standards. Günal Kurşun weist in seiner Kolumnen in Today’s Zaman darauf hin, dass die Polizei insbesondere in Bezug auf Oppositionelle die Voraussetzungen für einen hinreichenden Verdacht sehr niedrig ansetzt [2]. Tatsächlich werden also viele Durchsuchungen durchgeführt, ohne dass ein hinreichender Verdacht im Sinne der EMRK gegeben ist.

Begrenzung des Rechts auf Akteneinsicht

Eine weitere wichtige Verschärfung des Strafprozessrechts betrifft die Reaktivierung des §153 der Strafprozessordnung, der die Möglichkeit eröffnet, das Recht auf Akteneinsicht während der Ermittlungen zu begrenzen. Begrenzt werden kann das Recht auf Akteneinsicht u.a. bei Straftaten gegen die Staatssicherheit (Art. 302, 303, 304, 307 und 308 Strafgesetzbuch (TrStGB) und die Verfassungsordnung (Art. 309, 310, 311, 312, 313, 314, 315 und 316 TrStGB) sowie Straftaten wie Verrat von Staatsgeheimnissen und Spionage (Art. 326, 327, 328, 329, 330, 331, 333, 334, 335, 336 und 337 TrStGB). Voraussetzung für eine Begrenzung des Rechts auf Akteneinsicht ist die Gefährdung des Ermittlungsziels.

Die Begrenzung des Rechts auf Akteneinsicht ist nach Art. 5 Abs. 4 EMRK nur in höchst begrenztem Maße möglich, da dieser Eingriff in die Rechte der Verteidigung die Waffengleichheit der Parteien in erheblichem Maße beeinträchtigt. Dementsprechend hat der EGMR wiederholt geurteilt, dass „Waffengleichheit nicht gewährleistet ist, wenn dem Verteidiger der Zugang zu denjenigen Schriftstücken in den Ermittlungsakten versagt wird, die für die wirksame Anfechtung der Rechtmäßigkeit der Freiheitsentziehung seines Mandaten wesentlich sind.“ (bspw. im Rahmen der Individualbeschwerde der Journalisten Nedim Şener und Ahmet Şık, Beschwerden Nr. 38270/11 und 53413/11).

Auch die Wiedereinführung des §153 der Strafprozessordnung wurde von Juristen und Menschenrechtsaktivisten kritisiert. Günal Kurşun bewertet das Urteil des Verfassungsgerichts insgesamt als „Selbstmord“. Tatsächlich beugt sich das Gericht bzw. die Mehrheit des Gerichts dem Druck der politischen Mehrheit. Oder anders gesagt: das Gericht ist inzwischen mehrheitlich mit pro-AKP Richtern besetzt. Die Urteilsbegründung der Mehrheit der Richter bleibt daher auch im Elfenbeinturm theoretischer Erwägungen, d.h. sie geht von Idealvoraussetzungen einer Ermittlung aus, ohne Bezug auf die in der Türkei gelebte Wirklichkeit zu nehmen.

So ist es richtig, dass im Durchsuchungsbefehl die Gründe für die Durchsuchung den Verdacht in hinreichender Weise dargelegt müssen. Ob dies tatsächlich geschieht, darüber verliert die Mehrheit der Richter kein Wort. Auch kann es sicherlich Umstände geben, unter denen eine Begrenzung des Rechts auf Akteneinsicht angemessen und verhältnismäßig ist. Die sehr offen formulierte Voraussetzung, dass das Ermittlungsziel gefährdet sein müsse, öffnet dem Missbrauch dieser Vorschrift aber Tür und Tor. So hatte auch der EGMR in Bezug auf die Inhaftierung und Verfahren von Nedim Şener und Ahmet Şık geurteilt, dass durch die Begrenzung des Rechts auf Akteneinsicht die wirksame Anfechtung der Rechtmäßigkeit der Freiheitsentziehung nicht möglich war und somit ein Verstoß gegen Art. 5 Abs. 4 EMRK vorlag.

Darüber hinaus verkennt bzw. verschweigt die Mehrheit das offensichtliche Eigeninteresse der Regierung hinter den Gesetzesänderungen. Dieses Eigeninteresse lässt sich aus der abweichenden Meinung der Richter Alparslan Altan und Erdal Tercan herauslesen: die AKP-Regierung hatte die betroffenen Paragraphen gerade einmal 10 Monate vorher, am 21.02.2014 geändert und damals die Voraussetzung eines „auf konkreten Belegen beruhenden starken Verdachts“ eingeführt (Art. 116) bzw. die Möglichkeit das Recht auf Akteneinsicht zu beschränken, vollständig abgeschafft (Art. 153). Die damaligen Änderungen waren mit Erwägungen des Grundrechtsschutzes begründet worden. Dass die Regierung nun mit einem Mal große Schwierigkeiten in der praktischen Umsetzung der neuen Vorschrift bzw. aufgrund der fehlenden Vorschrift geltend machen will, finden beide Richter nicht plausibel, die Änderungen seien schließlich nicht einmal 8 Monate in Kraft gewesen. Tatsächlich liegt der Verdacht hier sehr nahe, dass die Gesetzesänderungen im Februar 2014 aufgrund der Korruptionsermittlungen gegen hochrangige AKP-Mitglieder erfolgten und Durchsuchungsbeschlüsse gegen sie erschwert werden sollten [3]. Ende 2014 war die Lage in Bezug auf die Korruptionsermittlungen dann wohl soweit wieder unter politischer Kontrolle, dass diese Regelungen rückgängig gemacht werden konnten. Das Verfassungsgericht hat somit die Chance vertan, die aus Eigennutz durch die AKP geänderten, aber aus menschenrechtlicher Sicht sehr fortschrittlichen Regelungen aufrechtzuerhalten und eine Bresche für den Grundrechtsschutz zu schlagen.

Einzelnachweis

  1. Es ist das Urteil vom 30.08.1990, Beschwerden Nr. 12244/86, 12245/86 und 12383/86; Quelle http://hudoc.echr.coe.int/eng?i=001-57721)
  2. Die Kolumne von Günal Kurşun ist in Zaman vom 4. Februar 2016 unter dem Titel The suicide of the Constitutional Court zu finden.
  3. Der Artikel von Fikret İlkiz ist auf bianet-org vom 15. Dezember 2014 unter dem Titel Makul Şüphenin Sebeb-i Hikmeti zu finden.