US-Präsident Obama ist bereit, die syrische Gesellschaft für seinen Iran-Deal zu opfern. Dabei ist Diktator Assad umso vieles schlimmer als selbst ISIS.

MESOP DEBATTE : THE EUROPEAN – SYRIENS BÜRGERKRIEG, DER IS UND DER WESTEN Beitrag von Jan-Niklas Kniewel / Der universelle Verrat

Über 210.000 Tote in Syrien, Millionen Vertriebene. Hunderte mit Sprengstoff und Nägeln vollgestopfte Fassbomben wurden und werden auf zivile Gebiete geworfen. Giftgas-Angriffe, das gezielte Aushungern ganzer Stadtteile, Folter und Mord in den Knästen. Die Lebenserwartung ist seit 2011 um 20 Jahre gesunken.

Auf der einen Seite breiten sich daesh (ISIS) und die al-Qaida verbundene Nusra-Front aus, auf der anderen Assads Streitkräfte, die Schabiha-Miliz, die iranischen Revolutionsgarden und die Hisbollah. Die originäre Opposition wird mehr und mehr marginalisiert – und was tat das State Department, wie ein Bericht Ende Januar enthüllte? Kürzte eben Letzterer die Unterstützung zusammen, sodass noch mehr von ihnen zu den Radikalen überlaufen. Wie schon so viele, nicht, weil sie deren Ideologie unterstützen, sondern weil sie ihre Familien ernähren müssen.

Zwar behauptet das Pentagon noch immer, eine moderate Streitkraft von bis zu 16.000 Mann ausbilden zu wollen, doch wer in Syrien sollte der US-Regierung noch vertrauen, vor dem Hintergrund ihrer Verhandlungen mit Teheran und der Inkonsequenz, die sie im Laufe ihrer bisherigen Politik in Syrien bewiesen haben: vom folgenlosen Anmahnen einer „Roten Linie“ bis hin zur unzureichenden Unterstützung, die wiederum rasch entzogen ist, wenn die Ergebnisse nicht stimmen? Davon abgesehen, dass entsprechende Unterstützung an den Kampf gegen daesh und Konsorten geknüpft ist.

In Endzeitprophetenmanier

Derweil fallen die Bomben, vorwiegend auf ziviles Gebiet. Und Politiker und Journalisten im Westen üben sich darin, die „barbarische Raserei“ daeshs in Endzeitprophetenmanier zu skizzieren und den Kampf gegen ihn zum Kampf um die Zivilisation aufzublasen. Dabei ist längst jede Relation verloren gegangen. So grausam die Expansion der Dschihadisten auch ist, sie ist wenig gegen das, was Assad und seine Verbündeten anrichten. Das hält nicht nur die UN fest. Schenkt man beispielsweise dem Syrian Network for Human Rights Glauben, so starben im Februar dieses Jahres mindestens 1.044 Zivilisten durch das Regime – daesh tötete etwa 34 Zivilisten. Selbst wenn die reale Zahl der Opfer von daesh zehnmal so hoch wäre, die Diskrepanz ist offensichtlich. Und das ist auch die Perspektive der meisten Syrer in den oppositionellen Gebieten: Warum, fragen sie, schert ihr euch so sehr um daesh, aber nicht um Assad?

Es ist zynisch, Opferzahlen gegeneinander aufzuwiegen, doch es zeigt, dass man sich um den Kern des syrischen Konflikts nicht schert: das Regime. Statt dessen Barbarei anzuprangern, wird es als säkulare Alternative zu den Islamisten gepriesen.

Als daesh zu expandieren begann, gab man sich überrascht – dabei hätte man nur auf jene, die man zuvor schändlich im Stich gelassen hatte, hören müssen. In Kafranbel zeigte man schon im Februar 2012 ein Banner, auf dem gemahnt wurde: „World! Your shameful inactivity will reproduce thousands of Bin Ladens!“ Moderate Oppositionelle warnten immer wieder vor dieser Gefahr.

Stattdessen entstand ein Vakuum: Während Assad und die Radikalen sich großer materieller Unterstützung versichert sein konnten, ging diese an der originären Opposition weitestgehend vorbei.

Doch eine Lösung, die all die Opfer nicht noch sinnloser macht, ist noch immer möglich.

Schutz vor Raketen und Fassbomben

Ich erinnere mich an ein Gespräch, das ich Ende letzten Jahres mit dem oppositionellen Aktivisten und Arzt Kamal al-Labwani führte. Er hält eine Lösung ohne Assad noch immer für möglich – so immens dieser Kraftakt auch wäre. Im Zentrum steht eine alte Idee, die für Kamal an Dringlichkeit nichts verloren hat: Man müsse noch immer Flugverbotszonen schaffen. Dieser Schutz vor den Raketen und Fassbomben könne Millionen Menschen schützen und so den Vertriebenen ermöglichen, aus den schäbigen Lagern der Peripherie zurückzukehren. Es wäre die Rückkehr der Zivilgesellschaft, und die Kämpfer, insbesondere die Radikalen, würden schlagartig in der Minderheit sein. Das Problem sei der Mangel an Zivilgesellschaft, das dadurch entstandene Vakuum habe es den Fanatikern ermöglicht, ihre Bedeutung zu erlangen. Dann müssten eben jene moderaten Kräfte stärker unterstützt werden. Die meisten Rebellen, die einst überliefen, ist sich Kamal sicher, würden zurückkehren zu den Moderaten.

Doch es gibt nur eine Kraft, die all das stemmen könnte: die Amerikaner. Die sind jedoch damit beschäftigt, sich selbst zu destruieren. Syrien abseits des Kampfes gegen daesh ist einfach kein Thema für die USA. Es ist ein geostrategisches Schachbrett, auf dem der Deal mit den Iranern ausgehandelt wird – den Holocaust-Leugnern mit der höchsten Pro-Kopf-Hinrichtungsrate der Welt. Dieser Deal ist es, den Obama als sein außenpolitisches Vermächtnis auserkoren hat – Syrer, die einen der wichtigsten Verbündeten des Irans stürzen wollen, weil das Baath-Regime sie seit Jahrzehnten tyrannisiert, stehen da nur im Weg. Dazu passt, dass John Kerry nun erklärte, dass man mit Assad verhandeln müsse, es keine militärische Lösung geben könne – auch die übliche Phrase über die verlorene Legitimität des Diktators und dass dieser zurücktreten müsse, fiel nicht. Eine weitere Konzession an die Mullahs.

Die Syrer begannen im März 2011 auf die Straße zu gehen, weil sie ein kleines bisschen mehr Freiheit wollten. Als sie gezwungen waren, sich zu bewaffnen, hofften sie auf Unterstützung aus dem Westen, doch viel mehr als Makulatur erhielten sie nie. Noch immer hoffen viele von ihnen auf Hilfe – bekommen werden sie sie nicht, denn alles, was weniger ist als das von Kamal Skizzierte, ist nicht genug, wenn das syrische Massaker nicht bis weit ins nächste Jahrzehnt andauern soll. http://m.theeuropean.de/jan-niklas-kniewel/9908-syrien-im-vierten-kriegsjahr