MESOP DOCU : „IM IRAK GIBT ES KEINEN STAAT“

Gespräch mit Salih al Mutlaq, stellvertretender irakischer Ministerpräsident / Markus Bickel (FAZ)28.4.2014

Herr Mutlaq, Sie haben Mitte April einen Anschlag überlebt. Wie sicher ist der Irak wenige Tage vor der Parlamentswahl?

Niemand ist hier sicher, weder die Politiker noch die normalen Iraker, noch das Land. Am meisten leiden die Bewohner unter diesen Zuständen: Wohin sie auch schauen im Irak, überall haben Milizen das Sagen, die von Iran unterstützt werden und von Parteien in der Regierung kontrolliert werden. Es war nicht der erste Anschlag auf mein Leben, schon viermal in den vergangenen zehn Jahren gab es Versuche, mich umzubringen.

Wer steckt hinter dem Anschlag?

Die Armee, daran gibt es keinen Zweifel. Ich habe mit eigenen Augen gesehen, wie die Soldaten vor meinem Wagen auftauchten und uns unter Beschuss nahmen. Oberkommandierender der Streitkräfte ist Ministerpräsident Nuri al Maliki.

Machen Sie ihn für das Attentat verantwortlich?

So weit würde ich nicht gehen, da es innerhalb der Armee auch Milizen gibt, die nicht von oben kontrolliert werden. Aber es ist peinlich, dass er sich nach dem Angriff nicht nach meinem Wohlbefinden erkundigt hat.

Der Angriff auf Ihren Konvoi fand westlich von Bagdad statt, wo die Armee seit Jahresbeginn einen Krieg gegen die Terrorgruppen Al Qaida und Islamischer Staat im Irak und (Groß)Syrien (Isis) führt. Falludscha ist ebenso in den Händen von deren Kämpfern wie ein Staudamm in der Provinz Anbar.

Dass es einer Armee mit anderthalb Millionen Mitgliedern nicht gelingt, eine relativ kleine Gegend wie die von den Kämpfern gehaltenen Gebiete zurück unter Kontrolle zu bringen, zeigt, wie schlecht es um die Streitkräfte bestellt ist. Die Armee schafft es ja nicht einmal, den Staudamm zurückzuerobern, so dass die Wasserfluten immer weiter Richtung Bagdad und Falludscha treiben können. Angesichts solcher Zustände kann man nicht mehr davon sprechen, dass es in diesem Land einen Staat gibt. Er ist im Grunde völlig zusammengebrochen. Sicherlich haben wir einen Ministerpräsidenten, seinen Stellvertreter und eine Armee, aber de facto existieren diese nur auf dem Papier.

Welche Rolle spielen schiitische Milizen in den Kämpfen?

Gruppen wieAsiab Ahl al Haq zählen mittlerweile zu den effektivsten Einheiten der Armee. Da Tausende Soldaten desertiert sind, führen sie inzwischen die Kämpfe an — mit voller Rückendeckung des Ministerpräsidenten. Viele von ihnen sind aus Syrien abgezogen worden, wo sie auf Seiten der syrischen Armee gegen die sunnitischen Aufständischen kämpften, um nun die irakische Armee in Anbar zu unterstützen. Sie sind hervorragend ausgebildet und genießen die Unterstützung Irans.

Was müsste passieren, um ein Ende der Gewalt zu erreichen?

Die Armee muss aus Anbar zurückgezogen werden und Gespräche mit jenen Teilen der Kämpfer geführt werden, nicht zu Al Qaida und Isis gehören. So können diese isoliert werden und eine politische Lösung mit den Kräften gefunden werden, die legitime Anliegen vertreten. Dazu zählen frühere Mitglieder der Baath-Partei, entlassene Armeeangehörige und enttäuschte Arbeitslose. Ihre Häuser werden Tag für Tag bombardiert, ihre Viertel zerstört. Das gewaltsame Vorgehen hat letztlich dazu geführt, dass der Anteil Al Qaidas in der anfangs friedlichen Protestbewegung immer größer geworden ist.

Welchen Einfluss hat der Krieg in Syrien auf die Kämpfe in Anbar?

Nicht nur Anbar, der ganze Irak ist von dem Konflikt in Syrien betroffen. Ich fürchte, dass er noch lange andauern wird. Die Kämpfer dort erhalten Unterstützung aus der ganzen Welt, und Geld und Waffen von dort fließen nun auch in  den Irak. Das ist der Grund, weshalb Al Qaida im vergangenen Jahr so stark werden und die Widerstandsgruppen in Anbar unter ihre Kontrolle bringen konnte.

Es wird schwer, sie zu besiegen, aber wenn wir es nicht versuchen, bricht der Staat zusammen und der Irak würde zu einem zweiten Syrien werden.

In der Vergangenheit haben Sie Maliki als „Diktator” bezeichnet, der Unmut über seinen autoritären Führungsstil ist groß. Wird er abermals als Sieger aus den Parlamentswahlen hervorgehen?

Wenn es seinen Gegnern nicht gelingt, sich zusammenzuschließen und eine Koalition gegen ihn zu bilden, wird er wieder die meisten Stimmen hinter sich vereinen können. Er dürfte auch davon profitieren, dass die Armee hinter ihm steht, das allein sind anderthalb Millionen Wähler.

Die Parlamentswahlen sind die ersten seit dem Abzug der amerikanischen Besatzungstruppen Ende 2011. Ist das ein Zeichen für demokratischen Wandel?

Ich kann im Irak keine Demokratie erkennen. Auch diese Wahlen sind keine wirklichen Wahlen, sondern werden völlig überlagert von der Korruption, die das ganze Land im Griff hat. Als Sieger hervorgehen werden die korruptesten Politiker, die der Regierung Hunderte Millionen von Dollar gestohlen haben. Mit diesem Geld können sie Stimmen kaufen und die Wahlkommission dafür bezahlen, die Resultate nach ihren Wünschen zu ändern. Die Besitzer von Fernsehsendern und Zeitungen werden durch Geldzahlungen dazu gebracht, wohlwollend über sie zu berichten.

Rechnen Sie mit Wahlfälschungen?

Davon müssen Sie ausgehen. Die Wahlkommission wird von Maliki kontrolliert, und der wird alles tun, um seine Wiederwahl zu sichern.

Werden Sie unter diesen Bedingungen abermals in ein von ihm geführtes Kabinett eintreten?

Glauben Sie mir, ich bin nicht auf der Suche nach einem Arbeitsplatz in der Regierung. Ich bin nur dort, um den Kollaps des Staates zu verhindern. Ich habe überhaupt nicht die finanziellen Möglichkeiten, ein wirklich einflussreicher Politiker in diesem Land zu sein, sondern kann nur auf die Unterstützung jener Menschen setzen, die sich noch nicht haben korrumpieren lassen oder selbst reich genug sind, um der Korruption zu widerstehen.

 

Die Anschläge vor der Wahl haben zugenommen. Wie wird sich das auf die Wahlbeteiligung auswirken?

 

Massiv. Wie sollen die Bewohner Anbars überhaupt zu den Wahllokalen kommen, wenn dort gekämpft wird? Das Gleiche gilt auch für andere Landesteile. Das heißt, dass die, die wählen gehen, in der Mehrheit Anhänger Malikis und seiner Verbündeten sein werden. Wir tun alles, um unsere Anhänger davon zu überzeugen, ihre Stimme abzugeben, aber wir sagen ihnen auch, dass es keine Feier sein wird, sondern eine Schlacht, in der die Waffen der Kugelschreiber und der Fingerabdruck auf dem Wahlzettel sind. Zugleich sind wir realistisch: Viele Leute werden nicht bereit sein, ihr Leben zu riskieren, nur um wählen zu sehen.

Widerstandsfähig

Salih al Mutlaq ist der bekannteste sunnitische Politiker des Iraks. Unter der Diktatur Saddam Husseins gehörte der 1947 in Falludscha geborene Mutlaq der inzwischen verbotenen BaathPartei an. Nach der amerikanischen Besatzung des Iraks 2003 setzte sich der säkular orientierte Politiker für eine Verständigung zwischen Schiiten und Sunniten ein, die etwa zwanzig Prozent der Bevölkerung stellen. Nach dem Erfolg seiner Partei „Irakische Front für den Nationalen Dialog” bei den Parlamentswahlen 2010 wurde er stellvertretender Ministerpräsident. Im Dezember 2011 bezeichnete er Ministerpräsident Nuri al Maliki als „gescheiterten Diktator”, dem es anders als Saddam Hussein nicht gelungen sei, wenigstens die Infrastruktur des Landes zu verbessern. Seiner Entlassung durch Maliki widersetzte er sich über Monate, auch wenn ihn der Verbleib in der Regierung viel Ansehen unter seinen Anhängern kostete. Nicht nur Sunniten, die

in ihm den Verteidiger ihrer nach dem Sturz Husseins verlorenen Rechte sehen, sondern auch weltlich orientierte Schiiten unterstützten ihn. (mrb.)