MESOP “MINIMA MORALIA” / Reflexionen über den depotenzierten Menschen – Worüber die LINKE grundsätzlich nicht nachdenkt
Die Welt in Pascals Zimmer / Wenn Dasein Vernetztsein und Transparentsein heißt: Die Privatperson ist unterwegs zur Selbst-Preisgabe. Von Martin Meyer
In späteren Lebensjahren, als er die Lust und die Kraft verloren hatte, sich weiterhin in der Pariser Gesellschaft zu tummeln, zog sich Marcel Proust mehr und mehr in die eigenen vier Wände am Pariser Boulevard Haussmann zurück. Dort schrieb der Schriftsteller den bedeutendsten Roman des zwanzigsten Jahrhunderts: „A la recherche du temps perdu“, „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“. Proust tauchte tief hinab in den Fundus seiner Erinnerungen. Dazu benötigte er allerdings auch die entsprechende Konzentration. Die Stille schuf er sich damit, dass er sein Schlafzimmer, wo er in langen Nächten unentwegt Bogen um Bogen verfasste, fast vollständig mit Kork ausschlagen liess. Jetzt war Proust endlich ganz privat geworden. Als ihn eines Tages ein vornehmer Freund besuchte, rief dieser entsetzt aus: „Comme c’est laid chez vous.“ – „Wie hässlich es bei Ihnen aussieht.“
Lärm ist eine wüste Störung. Er unterhöhlt die Konzentration, weckt Aggressionen und verführt dazu, dass wir mit gleicher Münze zurückzuzahlen beginnen. Doch unter den diversen Höllenkreisen, die heute das Privatleben nach unten ziehen, ist er vergleichsweise harmlos. Die leiseren Immissionen sind gefährlicher.
Die Geschichte des privaten Lebens lehrt, dass wir Menschen sowohl nach innen wie nach außen steuern: nach außen, wo es viel zu tun gibt, damit wir für das Dasein gewappnet sind und vorsorgen; und nach innen, wo das Dasein zu sich selbst kommt, auftankt, familiär werden darf, Inspirationen sucht und Gefühle findet. Der gute alte Begriff des otium cum dignitate war den Römern ganz selbstverständlich als Zustand der Abschirmung, in welchem man treiben konnte, was andere nichts angehen sollte, ohne dass es deswegen schon anrüchig gewesen sein musste.
Dafür gab es schon in den Frühzeiten der höheren Kulturen ein Mittel: die geschlossene Tür. Sie markierte das Ende der Zudringlichkeit, wie sie jedes öffentlich gewordene Leben durch Forderungen, Recherchen, sogenannte allgemeine Interessen ständig alimentiert. Es war noch ein sehr langer Weg, bis sich die Enklaven des häuslichen Friedens so ausdifferenzierten, dass ausreichend Räume für den individuellen Wunsch nach Ungestörtheit zur Verfügung standen. Aber an der Rechtmäßigkeit des Bedürfnisses war nicht zu zweifeln. Dass mittelalterliche Großfamilien ihr privates Reich noch anders begriffen und verteidigten, als es dann die bürgerlichen Kleinfamilien taten, versteht sich von selbst: Jede Epoche entwirft ihre eigenen Vorstellungen von Privatheit.
Allerdings sind solche Entwürfe immer auch als Produkte dessen zu sehen, was der Fortschritt an technischen Innovationen anzubieten vermag. Als das Telefon aufkam, wurde der Apparat von manchen älteren Leuten als ein obszöner Gegenstand beargwöhnt, während diejenigen, die ihre Nase im Wind hatten, schnell merkten, dass der Anteil der nützlichen Dienste gegenüber demjenigen der Irritationen und möglichen Neurosen deutlich überwog. Überdies konnte man ja im Notfall die Klingel mit einem Taschentuch verstopfen. Es war wiederum Proust, der darüber hinaus merkte, wie sich nun aber die zwischenmenschlichen Verhältnisse, wie man erst viel später so schön und leer sagen würde, zu verändern begannen. Indem er eine Szene beschrieb, da er die Stimme seiner Mutter auf diese neue Art hörte, kommentierte er zugleich den unheimlichen Verfremdungseffekt, der die Würde und Ganzheit der Person in aufregendem Licht zeigte. War das nun wirklich noch die Mutter? Oder bloß ein tückisches Abziehhörbild ihres ursprünglichen Seins? Oder erst recht die Mutter?
Wenig später brachte ein kanadischer Kommunikationsforscher eine wichtige Erkenntnis auf ihre Formel. Sie lautet: „The medium is the message.“ Das Mittel, das unsere Botschaften hin und her transportiert, definiert und beeinflusst diese Botschaften maßgeblich – auch in ihrem Inhalt. Die Liebesbriefe der Romantik gingen noch ganz anders mit der Liebe und ihren Wünschen um, als es heute per SMS geschieht und geschehen kann. Auch deshalb, weil die Briefe Unikate waren, mit Tinte auf Papier geschrieben, das bei raffinierterer Inszenierung auch gleich noch Spuren von getrockneten Tränen und Kerzenwachs aufgenommen hatte, und versteckt wurden, bis sie immer mehr zu hochgeheimen Reliquien geworden waren. Was man von einer SMS niemals behaupten wird.
Eine vorläufige Bilanz lautet: So sehr sich die Menschen aus guten und schlechten Gründen gegen die Apparaturen des Fortschritts stellten, den sie gleichzeitig anderswo immer mehr zu beschleunigen trachten, so wenig half bisher der Widerstand – er wurde meist rasch anekdotisch.
Wenn aber der Prothesengott, wie Sigmund Freud den Menschen im technischen Zeitalter genannt hat, erstens tut, worauf er Appetit hat, und zweitens kräftig an sich selbst herumprobt, dann ist auch das Profil, das er von sich entwirft, ständig im Fluss. Man kann endlos über das Wesen des Menschen spekulieren. Interessanter ist viel eher, was sich dieses Wesen an Mutationen und Adaptationen gefallen lassen muss. Schon die Sprache zeigt: Während bis vor kurzem das Wort vom privaten Leben oder von der Privatsphäre durchaus geläufig war, spricht heute jedermann eher von Privacy. Der englische Begriff, der einen Schweif von Assoziationen hinter sich herzieht, ist global geworden und seither in aller Munde.
Man braucht kein mürrisch gewordener Kritiker von Kultur geworden zu sein, um festzustellen: Privacy ist unter heutigen Konditionen eine prekäre Sache; ein Gut, das sich alle irgendwie noch wünschen, derweil die meisten munter unterwegs sind, es laufend auszuhöhlen. Es sind nun aber nicht primär die Staaten mit ihren Überwachungsfabriken und Erhebungstrieben, die dabei an vorderster Front marschieren. Es sind sowohl die Normalverbraucher wie auch die Söldner von Terror und Verbrechen, die hier – ungesellig Hand in Hand – die Avantgarde des Wandels sind. Man gibt einem Affen eine Banane in die Hand und weiß, was sogleich passieren wird. Man gebe dem Homo sapiens ein Smartphone zwischen die Finger, und schon beginnt es zu drücken – „es“ als ein unübersichtlich gewordenes Ineinander von Absichten, Emotionen, Erfahrungen, Erwartungen.
Pascal hatte das Unglück in der Welt auch damit erklärt, dass es den Menschen leider eingefallen sei, ihre Zimmer zu verlassen. Das Internet ist das perfekte Gadget dazu, dass einer, der damit noch immer in einem Zimmer hantiert, dessen Mauern bis nahe zum Grund abgetragen hat. Für den digitalen Alltag sieht es so aus, dass wir den Äther mit einer ungeheuren Fülle an oft überflüssigen Daten verschmutzen, von denen wir häufig und berechtigt hoffen, dass sie in den Communities ein Echo finden, das den Multiplikator ins Hunderttausendfache spielt. Mit dieser Hoffnung macht man auch Geld, sehr viel Geld.
Was aber dem (Ab-)Sender häufig nur Banalität sein dürfte – ein „privater“ Mitteilungszwang, der mittlerweile selbst Greisinnen und Klosterbrüder befallen hat –, dient anderen Orten als verlockende Quelle von Information. Von Geschmackspräferenzen über Reiseträume, finanzielle Verhältnisse oder kuriose Tiervorlieben bis zu schlauen Dating-Strategien, Sozialkompetenzen, politischen Optionen und religiösen Wünschen ist alles tendenziell Information – und zwar für Firmen, Verhaltensforscher, Ämter, Geheimdienste, Wahlstrategen, Whistleblower, Medien, für die Mafia und vielleicht sogar für den Vatikan. „Big Brother is watching you.“ Für George Orwell war dieser große Bruder zum Beispiel der Sowjetkommunismus. Heute zählen wir Myriaden von Brüdern, die ihr Brot damit verdienen, abzuhorchen, auszuspähen, abzufangen, aufzupassen, anzuschleichen, aufzunehmen und im passenden Moment zuzuschlagen und die Rechnung zu zeigen.
Eins greift ins andere. Natürlich auch für den Ernstfall, der ebenfalls sowohl in seinen Voraussetzungen wie in seinen Folgen kapital unübersichtlich geworden ist. Was ist der Ernstfall? Er ist der Terroranschlag dort oder der Witwenmord da, das zwielichtige Geschäft, die globale Strategie, der Angriff auf ein System bei Retourkutsche gegen das andere, halt alles, was von der Unlauterkeit bis zum Generalverbrechen zuerst in den Köpfen und dann durch die Taten und mit ihnen durch die Netze zirkuliert.
Für die Privatsphäre bietet sich also folgende Trübsal. Sie schafft sich fortlaufend ab. Teils bewusst, indem sie sich allen nur erdenklichen Plattformen und jeder neuen noch begeisterter auftut; teils unbewusst, indem man einfach vergisst und verdrängen will, was etwa diese oder jene Spionageanstalt eben nicht wissen dürfen sollte. Es ist evident, dass alle Bürokratien dem Selbsterhaltungstrieb der Selbstvermehrung unterliegen. Sie wachsen, um sich selbst vor zudringlichen Fragen zum Nachweis ihrer Nützlichkeit und zur Notwendigkeit der Gehaltslisten zu schützen. Je größer die Bestände an Personal, Diensten und Dingen, umso schwieriger werden kritische Erhebungen in Sachen Relevanz. Überwachungsbürokratien sind diesem Prozess noch mehr unterworfen, weil tatsächlich oder vermeintlich viel auf dem Spiel steht, insbesondere wenn es um die Sicherheit der Staaten und ihrer Gesellschaften geht. Inzwischen haben die Geheimdienste der letzten verbliebenen Supermacht ein Netz über die Welt geworfen, das unvorstellbar fein gewoben ist und fast alles heranfischen kann, was auf dem Planeten passiert. Der Whistleblower Snowden, der gewiss nicht als Heroe gefeiert werden sollte, hat nur bestätigt, was man diesbezüglich schon länger hatte wissen können. Ferner ist der Sicherheitsbegriff mancherorts so ausgeweitet worden, dass nicht mehr nur die militärischen, sondern auch die industriellen, die technologischen, die sozialen, die kulturellen und sogar die individuellen Potenzen genauer Examinierung wert geworden sind. Daran wird sich in Zukunft nur eines ändern: Die Eingriffe werden ständig zunehmen. Wer noch an die bremsende Wirkung von Gesetzen zum Datenschutz und anderen Barrieren im Rahmen alteuropäischer Rechtsstaatlichkeit glaubt, ist selbst schuld. Sicherheit – wie immer sie für wen zu welchen Zwecken zu definieren ist – heißt das Ziel, Freiheit als Rechts- und Gestaltungsraum hat das Nachsehen. Ein einziges Attentat an belebtem Ort verwandelt diesen für Tage, Wochen und Monate in den Status einer Belagerung. Plötzlich gewinnt Carl Schmitts Definition der Souveränität einen prekären retour offensif: „Souverän ist, wer über den Ausnahmezustand entscheidet.“
Natürlich bleibt die Frage, ob das wirklich schlimm ist, wenn bisher doch eher wenig davon zu spüren war. Sagen wir es so: Es ist ein Scheck auf die Zukunft, dessen Schuldzinsen sehr ungemütlich werden könnten. Daneben könnte sich die normal alltägliche Wut normal spießbürgerlicher Regulatoren, die uns heute schon an allen Ecken und Enden zu schaffen macht, einst als ziemlich mildtätig erwiesen haben.
Kehren wir in uns selbst zurück. Fragen wir uns, wie oft und wie dicht wir an den Netzen hängen, die nun die Welt und alles Drumherum bedeuten. Die Bilanz fällt nüchtern aus. Man gibt einem Affen einen Spiegel in die Hand, und er findet sich schön und beginnt zu schnattern. Wir umstellen uns mit Spiegeln oder sind umstellt mit Spiegeln, und was zurückgeworfen wird, ist Schönheit ohne Ende, wie wir ja meinen müssen, wenn wir sie herumreichen, als sähen wir uns überhaupt zum ersten Mal. Gewiss, der Mief alter Zeiten war arg. Man erkannte ihn als umgebendes Gewölk auf den alten Daguerreotypien: stierende Mütter, stierende Kinder, bedrohlich stierende Familienväter. Im Hintergrund künstliche Palmen oder künstliche Nelken. Die Leute ahnten irgendwie, dass das eben entdeckte Lichtbild ihnen vielleicht die Seele stehlen würde. Selbst meine Großmutter glaubte noch, der Fernsehsprecher der Tagesschau könne sie sehen und setzte sich stets frisiert vor den Schirm.
Von solchem Argwohn sind wir gänzlich befreit, alles ist locker, lustig, easy. Mit derselben lockeren Hartnäckigkeit, mit der in den Social Media die Bilder zum Fließen kommen, kehren wir beim Texten das Innere nach außen, und für Reflexion bleibt nunmehr kaum noch Zeit. Das Vielfachleben hält uns in seinem Griff. Es schleust multiplizierte Identitäten durch alle möglichen Kanäle, worauf das Gesetz der Gegenseitigkeit sofort zur Anwendung kommen muss: Wer nicht gleich antwortet, ist ein Spielverderber.
Der bisher auffälligste Rückgang von Privacy besteht nicht darin, dass wir auf Schritt und Tritt überwacht werden können. Er ist vielmehr die Funktion einer Selbst-Beraubung durch unaufhörliche Tätigkeiten der kommunikativen Schwarmintelligenz. Das fällt uns in der Regel erst auf, wenn wir einmal abrupt von allen Vehikeln der Nabelbindung abgeschnitten sind. Dass wir sind und sein dürfen, verdankt sich inzwischen maßgeblich außengesteuerter Resonanz. Kein Politiker lebt das stärker und auch triebhafter vor als Donald Trump, weshalb er nicht nur zum allgemeinen Feindbild, sondern ebenso zum feindlichen Zwillingsbruder geworden ist, der alles, was auf dem und für das Netz geschehen soll, in monumentaler Verdichtung austobt.
Die Auflösung der Privatsphäre macht dabei auch dort Fortschritte, wo wir es lange weder wissen noch sehen. Bereits werken Forscher daran, einen uralten Albtraum wirklich werden zu lassen. Vermittels der Erforschung von Wellen studieren sie, wie es in nicht allzu ferner Zukunft einzurichten wäre, dass wir Gedanken „lesen“ können. Sainte-Beuve, der französische Meisterkritiker des neunzehnten Jahrhunderts, notierte einmal in seinem Tagebuch, der Tag, an dem wir gegenseitig wissen, was wir gegenseitig voneinander denken, wäre rasch der letzte der Menschheit gewesen. Heute erführe dieses Ende eine weitere Beschleunigung dadurch, dass immer mehr Menschen nur noch in Hauptsätzen denken. Kurz, hart und bündig .