MESOP FLASH : DER IMMER NOCH MYSTERIÖSE PUTSCH – NATO SÜDFLANKE IN AUFLÖSUNG / FRANK NORDHAUSEN ZITIERT GARETH JENKINS

Kampfunfähig aus Kalkül –  Von Frank Nordhausen

21 Aug 2016 – Dank des Putsches politisiert die türkische Regierung die Streitkräfte in ihrem Sinne. Die entscheidenden Fragen bleiben auch einem Monat nach dem Putschversuch unbeantwortet.

Fast 3300 Angehörige des türkischen Militärs sitzen derzeit in Haft: 1099 Feldoffiziere und 330 Unteroffiziere, dazu 149 Generäle und Admirale; das sind etwa 40 Prozent der Armeeführung. Allesamt gelten sie der Regierung und der Öffentlichkeit als Gülenisten, Umstürzler, Volksfeinde. – Doch auch einen Monat nach dem Putschversuch sind entscheidende Fragen zu den Vorgängen Mitte Juli unbeantwortet. Wie ist es möglich, dass angeblich fast die Hälfte der Militärführung mit den Gülenisten sympathisierte und dies nicht bekannt war? Wer war der militärische Anführer der Rebellion? Wer sollte die Regierung übernehmen? Und wieso ist Hakan Fidan, Chef des Geheimdienstes MIT, weiter im Amt, obwohl er am 15. Juli trotz frühzeitig durchgesickerter Informationen den Staatspräsidenten nicht informierte und ihn dadurch einer tödlichen Gefahr aussetzte?

Von „Täuschung und Desinformation“ spricht der für die Johns-Hopkins-Universität tätige britische Türkeiexperte Gareth Jenkins, der sich seit den 90er Jahren mit der Rolle des Militärs in der türkischen Gesellschaft befasst. Republikgründer Atatürk hatte die Armee einst als wichtigste Stütze des Säkularismus installiert. Mehrfach maßte sich das Militär an, die türkische Politik zu bestimmen, putschte seit 1960 viermal gegen demokratisch gewählte Regierungen – schoss aber dabei nie auf das Volk.

“Öffentliches Image der Truppe ist total zerstört”

„Der 15. Juli hat diesen Mythos zerstört“, sagt Jenkins. „Der Putschversuch ist eine absolute Katastrophe für die Generäle. Nicht so sehr wegen ihrer politischen Rolle, denn die hatten sie ohnehin schon weitgehend eingebüßt. Sondern vor allem wegen der vernichtenden Auswirkung auf die Moral der Truppe. Ihr öffentliches Image als Retter der Nation ist total zerstört.“ Jenkins bestätigt, dass die Gülenisten seit den 80ern das Militär infiltrierten, doch sei es der Armeeführung bis zum Wahlerfolg von Erdogans AKP meist gelungen, sie zu identifizieren und aus dem Dienst zu entfernen. „Nur wenige schlüpften durch die Maschen.“

Das habe sich seit Erdogans Machtantritt geändert. Da es aber rund 25 Jahre dauere, bis ein Soldat an der Schwelle zum Generalsrang stehe, sei es selbst mit den erwiesenen juristischen Manipulationen der Gülenisten ausgeschlossen, dass sie inzwischen 40 Prozent der Militärführung okkupiert hätten.„Die Gülenisten haben den Putschversuch vielleicht angestoßen, aber es waren sehr viele andere Generäle beteiligt“, sagt Jenkins. „Von vielen der Verhafteten ist bekannt, dass sie hartgesottene Kemalisten sind. Doch in den Medien wird das ausgespart, weil die Regierung keine zweite Front neben den Gülenisten haben will und weil auch die Opposition damit nicht umgehen kann.“ Aber es habe Gründe auch für kemalistische Offiziere gegeben, sich den Putschisten anzuschließen. So standen nicht nur Massenentlassungen an, sondern die Regierung hatte auch begonnen, den schwerreichen Pensionsfonds des Militärs zu attackieren. Der Putschversuch sei offenbar lange geplant gewesen, dann aber überhastet gestartet worden.

Militärreform war überfällig

Zwar würden die Spitzen von Militär und Politik jetzt alle Schuld auf die Gülen-Bewegung schieben, doch Erdogan und die Regierung wüssten es in Wahrheit besser, sagt Jenkins. Mit ihrer Rebellion hätten die Generäle nicht nur dem Kemalismus den Todesstoß versetzt, sie hätten auch das Militär in einer Weise geschädigt, von der es sich in Jahren, vielleicht in Jahrzehnten nicht erholen könne.

Die Regierung hat mit Notfalldekreten inzwischen eine überfällige Militärreform eingeleitet, die auch von der Opposition begrüßt wird. Sie unterstellt die Armee nicht nur der zivilen Führung, sondern zerschlägt auch den zuvor fast autarken militärisch-kemalistischen Komplex.

Der wichtigste Reformpunkt erinnert an den Versailler Vertrag, der dem deutschen Militär einen Generalstab untersagte. In der Türkei werden nun alle Teilstreitkräfte dem Verteidigungsministerium unterstellt. Die paramilitärische Gendarmerie und Küstenwache sind fortan Teile des Innenministeriums. Der stark beschränkte Generalstab selbst soll nach einer Verfassungsänderung künftig nicht mehr dem Regierungschef, sondern dem Staatspräsidenten unterstellt werden. Im „Hohen Militärrat“, der für Beförderungen und Entlassungen zuständig ist, werden in Zukunft mehr Minister als Generäle sitzen.

Mit der Schließung aller Militärgymnasien und der Kriegsakademie verliert der Generalstab zugleich sein Ausbildungs- und Ideologiemonopol über die angehenden Offiziere. Stattdessen soll eine neue Verteidigungsuniversität nun auch Absolventen der religiösen Imam-Hatip-Schulen aufnehmen – ideologische Wendungen sind zu erwarten. Als weitere Maßnahme verfügte Erdogan die Schließung der Kasernen in Ankara und Istanbul, damit Soldaten nie wieder Panzer in die Stadtzentren dirigieren können. „Insgesamt wird das Militär praktisch vollständig der Regierung und damit Erdogan untergeordnet“, sagt Gareth Jenkins.

Das anhaltende Misstrauen gegenüber dem Militär kommt auch in der Ankündigung des Innenministers Efkan Alan zum Ausdruck, die Polizei mit schweren Waffen auszustatten. Jenkins befürchtet eine Politisierung der Armee unter umgekehrten Vorzeichen – Islamisten könnten bevorzugt befördert werden. Zugleich schwächten die Entlassungen und Verhaftungen die Kampfkraft: „Die Hälfte aller Piloten sitzt im Gefängnis. Doch neue Piloten auszubilden, dauert Jahre und kostet ein Vermögen.“

Dutzende Generäle seien nicht im Handumdrehen zu ersetzen; und die Untergebenen würden sich bei jedem neuen Einsatzbefehl fragen, ob er vielleicht von Putschisten komme. „Dieses Misstrauen wird alles zersetzen.“ Eine geschwächte türkische Armee aber bedeute militärische Vorteile für die kurdische PKK, den „Islamischen Staat“… Jenkins: „Für die Nato entsteht damit ein massives Problem an ihrer Südflanke.“

AUTOR – Frank Nordhausen – Korrespondent, Istanbul

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