100 Jahre Erster Weltkrieg – Der Undank des Georg Lukacs
Georg von Lukacs (1885 bis 1971) kann dem Krieg keinen Sinn abgewinnen. Um dem Militärdienst zu entgehen, bittet der Sohn eines Budapester Bankdirektors, der in Heidelberg als Privatgelehrter lebt, Karl Jaspers (1883 bis 1969) um ärztlichen Beistand. Der approbierte Psychiater, den er von den Sonntagskreisen bei Max Weber kennt, verfaßt am 5. November 1914 ein „Ärztliches Zeugnis”. Die Diagnose lautet „neurasthenischer resp. psychasthenischer Symptomkomplex”.
Sie stützt sich unter anderem auf folgende Symptome: „Psychisch ist eine erhebliche Schreckhaftigkeit unbegründeter Art auffällig. Es kommt vor, daß Herr v. L. durch einen gleichgültigen Schreck (z. B. einmal durch einen auf der Straße an ihm vorbeifliegenden Hut) derartig erregt wird, daß er Weinkrämpfe bekommt und ihm die Erregung gänzlich unüberwindlich scheint. Solche überaus heftigen Anfälle sind im Laufe seines Lebens ca. 6 mal vorgekommen, während banalere Schreckzustände von geringerer Intensität häufig bei ihm sind. Weiter leidet Herr v. L. an ausgesprochenem Höhenschwindel, der sich im Anschluss an eine seelische Erregung bildete: er las in der Zeitung den Selbstmord eines nahen Freundes, der sich von einer Brücke stürzte. Dabei überkam ihn sofort ein körperlich erschauerndes Gefühl und seitdem kann er nur mit größter Energie über Brücken gehen, bei denen ein Blick in die Tiefe nicht zu vermeiden ist. Er ängstigt sich in höheren Stockwerken in die Nähe der Fenster zu treten. — Abends, in der Dämmerung und im Halbdunkel hat er das Gefühl, schlechter zu sehen, jedenfalls eine erhebliche Unsicherheit im Gehen, besonders bei Treppen, unter begleitenden ängstlichen Gefühlen, es sei ein Hindernis oder irgend etwas Unheimliches in der Nähe. Im gesamten psychischen Habitus macht sich bei Herrn v. L. die bei gewissen nervösen Konstitutionen typische übermäßige Bewusstheit und Reflektiertheit in allem ihn geltend, die die augenblickliche Orientierungsfähigkeit in der räumlichen und realen Welt sehr erheblich stört und bei jeder Gelegenheit sowohl körperlich als auch im Verkehr mit Menschen ihn erstaunlich ungeschickt sein läßt.”
Das Gutachten hat den erwünschten Erfolg. Der Patient wird von den k. u. k. Militärs als Briefzensor eingesetzt und später ganz vom Kriegsdienst befreit. Auch wenn Lukacs im Rückblick den Eindruck erweckt, als sei das Attest eine reine Gefälligkeit gewesen, spricht einiges dafür, daß es nicht ganz aus der Luft gegriffen ist. Lukacs lebt in der fraglichen Zeit mit seiner Frau Jelena Grabenko, einer russischen Terroristin, und ihrem Geliebten, dem Pianisten Bruno Steinbach, der bei Jaspers wegen Schizophrenie in Behandlung ist. Die damit verbundenen Belastungen lösen sich erst, als Lukacs gegen Kriegsende seine zweite Frau kennenlernt und sich bedingungslos in den Dienst der kommunistischen Bewegung stellt. Während der ungarischen Räterepublik macht der Philosoph dann doch noch eine kurze militärische Karriere: als politischer Kommissar der Roten Armee.
Unbeirrt von Gefühlen der Dankbarkeit, beschreibt Lukacs 1954 in seinem Buch „Die Zerstörung der Vernunft” die Philosophie von Jaspers als „eitle philisterhafte Selbstgefälligkeit”, ihr Inhalt sei nichts als „Eiszeit, Nordpol, eine leer gewordene Welt, ein sinnloses Chaos”. Als Ausdruck der „Verzweiflung über sich selbst, über seine rettungslose Einsamkeit” werde Jaspers’ „parasitärer Subjektivismus” zum „Wegbereiter des faschistischen Irrationalismus”. Auf diese öffentliche Denunziation reagiert Jaspers verständlicherweise mit Empörung — und mit einer neuen, diesmal philosophischen Diagnose seines Gegners. Die komplexe Beziehung der beiden Philosophen, die hier nur angedeutet werden kann, wird Matthias Bormuth demnächst in der „Zeitschrift für Ideengeschichte” anhand von Dokumenten ausführlich rekonstruieren.
ULRICH VON BÜLOW – Der Verfasser leitet die Abteilung Archiv im Deutschen Literaturarchiv Marbach.